B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A
           
  Wilhelm Waiblinger
1804 -1830
     
   


D i e   B r i t e n   i n   R o m

N o v e l l e
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Text:
Wilhelm Waiblinger,
Mein flüchtiges Glück. Eine Auswahl
Hrsg.: W. Hartwig, Berlin/DDR 1974


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Die Briten in Rom, Kupferstich von Dietrich Lindau (1799 - 1862)

               Wir wollten heut ein wenig scherzen
               Mit einer großen Nation;
               Drum ohne Falsch in unserm Herzen
               Und ohne Arg und Hohn
               Sei uns vergönnt, herauszuwählen,
               Was launig ist, und nicht, was schlecht!
               Und meint auch mancher, daß wir fehlen,
               So gibt er doch uns recht,
               Wenn wir ein andermal das Land so vieler Weisen,
               So vieler Helden, großen Geister preisen!
               Was tat mit Sokrates der kom'sche Dichter?
               Daß wir so viel sind, fällt uns zwar nicht ein,
               Doch unter uns modernem Volksgelichter
               Dünkt auch ein Sokrates uns rar zu sein.

     „Sie bleiben lange aus!“ sagte eines Abends Lord M., der Vater einer englischen Familie, die erst seit kurzer Zeit in Rom angekommen war. Er saß eben in seiner kostspieligen Mietwohnung auf dem Spanischen Platze, mit der Frau Gemahlin und dem Onkel Kapitän zusammen, welche sich beide mehr als gewöhnlich in üblem Humore befanden, und wartete auf seine beiden ältesten Kinder, einen Sohn von etwa vierundzwanzig Jahren und auf den Augapfel der Mutter, eine Tochter von achtzehn Lenzen, welche nach den merkwürdigen Monumenten des alten Roms ausgeritten und noch nicht zurückgekehrt waren. Der Lord konnte für einen wohlbeleibten, hübschen, kräftigen Mann gelten, ob er schon mehr als fünfzig zählte; Lady M. hingegen, seine Gemahlin, ließ in der Tat mehr Jahre vermuten als sie hatte und war eine lange, magere Figur, ja man konnte in dem englischen Munde, so klein er auch sein mochte, hinsichtlich der Zähne beträchtliche Verheerungen der Zeit gewahren, wiewohl sie öfters erzählte, daß ihr der Zahnarzt alle herausgerissen. Die sonderbarste Person aber war gewiß der Onkel Kapitän, ein Mann von so außerordentlicher Länge, daß man den Kopf kaum bemerkte, indem dieser so ziemlich zum übrigen Körper das Verhältnis des Knopfs zum Kirchturm hatte. Bei einer so ausgezeichneten Länge fällt die Magerkeit nur desto schreiender auf, und das kleine Hütchen, das er trug, gab der ganzen Gestalt eine so lächerliche Vollendung, daß er gewiß in jeder andern Stadt als Rom, wo man der langen Briten so viele sieht, zum Gespräch für Kinder und Kindeskinder werden würde.
     Die Lady konnte die Ankunft ihres geliebten Töchterchens kaum erwarten und sagte: „Ach, das engelgute Kind! Wie es seinen Aufenthalt hier zu seiner Ausbildung, zur Erweiterung der unzähligen Kenntnisse benutzt, die es schon in so zartem Alter gesammelt! Wie spricht Rebekka schon das Italienische! Wahrlich, so geläufig als Henry, der doch ein Jahr länger in Rom ist! Und wie versteht sie zu zeichnen! Nein, das Bildchen, das sie vom Kolosseum gemacht, ist unübertrefflich! — Nun wird auch in kurzem der Bräutigam ankommen —“
     „Mylady“, fiel der Vater ein, „was sagen Sie denn aber von unserm Henry, ich meine vielmehr, von seiner schönen Italienerin?“
     Wer hat nicht schon bemerkt, wie die Spinnen ihre langen Beine einziehen, wenn man sie in ihrem Wesen stört? Ebenso erging es der grämlichen Mama, als sie von der schönen Italienerin sprechen hörte. „Was ist denn auch Schönes an ihr?“ sagte sie endlich. „Mylord, ich muß Ihnen gestehen, daß ich diesem Verhältnis gänzlich entgegen bin, daß ich recht eigentlich erschrak, als ich, in Rom anlangend, unsern Henry in die Netze einer so wilden, ungebildeten italienischen Person verstrickt sah.“
     „Aber was haben Sie denn dagegen, Mylady?“ fragte der Vater. „Das Mädchen ist so übel nicht, und Henry ist über alle Vorstellung verliebt —“
     „Aber was hat sie denn für Ansprüche zu machen?“ fiel die Lady hämisch ein. „Ist sie reich? Ja doch, reich mit etlichen tausend Piastern! Und lebt dennoch wie eine Prinzessin! Hat sie Kenntnisse, Bildung oder auch nur Anstand, Bescheidenheit, Grazie und das alles, was man von einem Frauenzimmer ohne Vermögen erwarten könnte? Vergleichen Sie diese Römerin mit unserem lieben Kinde, welch ein Unterschied! Nein, Mylord, Henry soll eine Britin heiraten.“
     „Was sagen denn Sie dazu, Herr Schwager?“ versetzte der Vater phlegmatisch.'
     „Jugendliche Tollheit“, antwortete der Kapitän, „Schwärmerei, Phantasterei! Er weiß nicht, was er will! Vorurteil, Blindheit, Nachbeten, Mangel an Urteil! Was ist denn so Seltenes an diesen Italienerinnen? Ich habe in Ost- und Westindien schönere Mädchen gesehen. Und diese Unwissenheit unter dem gesunkenen Volke! Alle sind im Grund verdorben, sind Kreaturen zum Erbarmen, ohne Erziehung, ohne Bildung.“
     „Du hast recht, lieber Bruder“, versetzte die Mama, „du hast einen ungewöhnlichen Blick in den Menschen, die natürliche Folge deiner vielen Reisen! Du bist kaum einige Wochen hier und kennst sie alle schon vollkommen! Das sagt auch Rebekka! Sie war schon zweimal in Gesellschaft dieser sogenannten schönen Römerin und fand sich höchst ennuyiert; sie kennt dieses Volk schon trefflich, und seit dem Vorfall mit dem italienischen Kammermädchen will sie auch gar keinen welschen Umgang mehr. Henry ist blind, unverzeihlich blind.“
     „Lassen wir den Jungen“, versetzte der Vater, „er ist nun einmal so. Er hat sich mir erklärt und liebt diese Camilla mit Leidenschaft, er glaubt durch sie glücklich zu werden, sie selbst ist ihm geneigt; was können wir ihm entgegensetzen?“
     „Daß sie katholisch ist“, antwortete der Onkel, der unterdessen unbeweglich auf einem Sofa gesessen, ohne auch nur den Rücken anzulehnen.
     „Sie haben recht, Herr Kapitän. Es soll sich kein katholisches Blut in unsere Familie mischen. Aber wissen Sie, was wir tun? Wir machen zur Bedingung, daß sie zum Glauben der Vernunft und des Verstandes übertrete, dann lassen wir sie in Gottes Namen machen, was sie wollen!“
     „So eine Römerin meine Schwiegertochter!“ rief die Mama entrüstet aus. „Bin ich darum nach Rom gekommen?“ Sie wollte fortfahren, über unsern bis jetzt noch unbekannten Liebeshelden zu schelten, als ein Geräusch auf der Treppe die Ankommenden verkündigte. Aber welch ein Tumult! Man hörte heftig reden, ja sogar schreien.
     „Was zum Henker“, rief der Onkel, sich in all seiner Länge aufrichtend, „poltert die Treppe herauf? Dieses verfluchte Rom, wo man nicht einmal einen Augenblick, nicht einmal in seinen vier Wänden Ruhe vor dem heillosen Schurkenvolk hat!“
     Die Mutter, an ihre Rebekka denkend, hatte längst die Türe aufgerissen und war den Kommenden entgegengeeilt. Aber wie erschrak sie, als das Engelskind bleich, oder vielmehr noch bleicher als gewöhnlich, am Arm des Bruders heraufschwankte und der tiefsten Ohnmacht nahe zu sein schien, welche sich jemals in Rom ereignete! Dem geliebten Paare folgten zum Entsetzen der armen Lady drei Männer nach, welche ein so furchtbares Ansehen hatten, als es nur ein wütender Campagnenbauer für die Phantasie einer großbritannischen Mutter haben mag. „Was ist das? um Gottes willen, Henry, was ist dem armen Kinde? Was wollen diese schrecklichen Menschen?“ rief die Lady, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Tochter zueilend und das holdselige Geschöpf, das sich nicht mehr auf den Beinen zu erhalten vermochte, mit den Armen auffangend und es auf einen Sessel niederlassend.
     Der Lord erwachte einigermaßen aus seinem Gleichmut; der Onkel stand bewegungslos und steif in der Mitte des Zimmers und schaute mit der Lorgnette nach der leidenschaftlichen Trauerszene und den hereinstürmenden Bauern.
     „Reitet man so durch die Stadt, Herr Engländer?“ schrie einer, ein derber, bärtiger, halb nackter Mann mit spitzem Hute. „Habt Ihr keine Augen im Kopfe? Mein Weib zu Boden geritten? Daß Euch der Blitz treffe! mein Weib! Und all ihre Ware zum Teufel! Und Ihr wolltet nur so davongaloppieren! Herr, das soll Euch übel bekommen!“
     „Was sagt der Flegel hier?“ fragte der Onkel, sich auf dem Absatz herumdrehend und ihn durchs Augenglas beschauend. „Was gibt's?“ rief der Vater. „Was ist dir, teures, süßes Töchterchen?“ die Mutter.
     „Ihr sollt ja Geld haben“, stöhnte der keuchende Sohn, sich aus Verzweiflung den Hemdkragen bis über die Ohren emporziehend, „Ihr sollt haben, was Ihr wollt. Es ist nur aus Versehen geschehen, es tut mir leid, ich will Euch bezahlen, seid nur still; wieviel wollt Ihr denn?“
     „Meint Ihr“, antwortete der Campagnenbauer, „daß man das alles nur so bezahlen könne? Mein Weib ist ruiniert, vielleicht auf immer ruiniert!“
     „Nun, was verlangt Ihr denn? Geschehen ist geschehen!“ rief Henry.
     „Aber was ist denn geschehen?“ fiel der Vater ein. „Was soll man wieder bezahlen?“ schrie der Onkel. „Bezahlen und nichts als bezahlen in diesem Lande der Spitzbuben.“
     „Hier ist schon nichts mehr zu ändern“, antwortete Henry, „wir müssen. Laßt mich! Seid Ihr zufrieden, wenn ich Euch fünf Louisdore gebe?“
     „Fünf Louisdore“, schrie der Italiener, „für ein zerbrochenes Bein, für ein zeitlebens ruiniertes Weib, für einen Korb voll Ware, für eine halbjährige Kur, für eine Hölle von Schmerzen, für einen unglücklichen Mann, für drei unversorgte Kinder?“
     „Aber zehn, wenn ich Euch zehn gebe, habt Ihr dann genug?“
     „Zehn Louisdore?“ rief der Onkel, „sind Sie des Teufels, Henry, zehn Louisdore solch einem Bettlervolk, und wofür denn?“
     „Sie hören's ja — für ein ruiniertes Weib — wir können nicht anders mehr. Sie sollen alles wissen, machen wir nur, daß die Banditengesichter wegkommen!“
     „Aber so viel Geld! An die vierzig Piaster! Bei Gott! so viel zum Fenster hinauswerfen für dies Lumpengesindel. — Und was gibt es denn?“
     Henry hörte nicht mehr, die Bauern verführten einen tumultuarischen Lärmen und fluchten das gesamte Heiligenregister durch; der Vater hörte und sah dem allen zu, die Mutter rief: „O daß wir jetzt von dem Spiritus hätten, von dem Spiritus, Bruder! Mein Kind ist des Todes.“
     „Was für ein Spiritus?“ fragte der Onkel, auf demselben Platze verweilend —
     „Den uns der Scharlatan letzthin —“
     „Schämen Sie sich nicht, Frau Schwester?“ fiel der Kapitän ein, „einen Spiritus von einem Scharlatan?“ Dabei drehte er sich um und setzte mit Pathos hinzu: „Als ob es in Italien einen Arzt gäbe!“
     Schon war Henry fortgeeilt und wieder herbeigekommen. „Nehmt“, sagte er, „nehmt; hier ist Geld für Euer Weib! Laßt mich in Frieden und geht!“
     Der Italiener sah seine Hand voll Dukaten und zählte sie ruhig mit verächtlicher Miene durch. „Zwanzig Zechinen!“ sagte er, „das ist ein Bagatell, und für die verdorbene Ware gebt Ihr mir nichts?“
     „Das ist ja ein unersättliches Volk“, stieß Henry aus, griff in die Tasche und gab ihm noch ein paar Skudi.
     „Zwei Skudi“, sagte der Campagnenbauer, sie in der Hand herumdrehend und sodann gemächlich und höchst mißvergnügt einstreichend, „das ist schlecht bezahlt, aber einstweilen! Wir sehn uns wieder, Herr Engländer!“ Damit ging er mit den beiden andern fort, ohne den Hut zu lüften.
     „Und so verschwenden Sie unser Geld, Herr Neffe?“ jammerte der Kapitän. „Wo haben Sie diese Lebensart gelernt? Ist das die Frucht Ihres römischen Aufenthalts? Haben Sie das dem unsinnigen, schlechten Volke abgelernt?“
     „Stille, stille, Herr Oheim“, versetzte Henry. „Hören Sie zuvor — doch seht, die Schwester scheint wieder zu sich zu kommen. Das war ein erschrecklicher Vorfall.“
     In der Tat erwachte die Miß auch nach und nach in den Armen der zärtlichen Mutter und schlug ihre schönen, feinen, naiven blauen Augen auf, indem sie aufseufzte: „O Mutter, ich glaubte des Todes zu sein — die rohen, pöbelhaften Leute —“
     Jetzt fing der Sohn an zu erzählen. „Wir hatten einen großen Ritt gemacht, über St. Giovanni nach dem Monte Celio, dem Campo Vaccino, und wollten am Vestatempel vorüber nach der Pyramide des Cestius, lauter Dinge, welche Rebekka noch nicht gesehen. Kaum hatten wir uns um die Ecke am Hause des Pilatus gewandt —“
     „Welch ein grober Irrtum!“ fiel der Kapitän ein, „das Haus des Pilatus, meint das dumme Volk, und ist doch der Palast des Cola von Rienza. — Lauter Irrtümer, lauter Prahlerei mit seinen Altertümern!“
     „Nun sei's, wie es wolle, wir galoppten am Tempel der Fortuna Virilis vorüber —“
     „Soll von Servius Tullius sein“, sagte der Onkel, „und ist schon nach Vasi, Fea und Nibby ein ganz anderes Ding.“
     „Gegen den Vestatempel; wir rennen mit verhängtem Zügel, um vor Abend noch ein tüchtig Stück wegzusehen, als eine junge hübsche Bäuerin mit einem Korb auf dem Kopfe über den Weg läuft und zu einem Manne will, der auf der andern Seite ein Paar Esel forttreibt. Was geschieht? — ich vermag das Pferd nicht mehr anzuhalten, das tolle Weib läuft ihm just unter die Füße und stürzt zu Boden. Ich erschrecke, der Eselstreiber fängt an so arg zu schreien als das arme Weib; ich halte an, der Italiener fällt mir in die Zügel und droht. Rebekka ist in tödlicher Bestürzung, es eilt eine Menge Volks herbei, man trägt oder führt die unglückliche Heulende weg, was weiß ich in meinem Schrecken. Der Eselstreiber tut wie rasend, einige Kapuziner kommen, ich verspreche alles, verspreche Geld und Hülfe, nur verlang ich, daß sie mich freilassen. Aber umsonst, sie wollen mich mit Gewalt vom Pferde reißen. Rebekka ist dem Umsinken nahe, ich willige ein und lasse mich — ich will meine Lebenszeit an den Spektakel denken — durch die ganze Stadt bis auf den Spanischen Platz, bis in dieses Zimmer führen, wo ihr selbst Augenzeuge des weitern Vorgangs wart.“
     „Nichtswürdige Nation!“ brummte der Onkel, indem er sich einige wenige graue Haare von der Stirne strich, „Prellereien, nichts als Prellereien, es ist auf nichts abgesehen, als den Fremden zu betrügen, von morgens bis abends ein Lied: ‹Bezahlen, bezahlen!›, keine Treue und Ehrlichkeit.“
     „Folge des Katholizismus“, sagte der Lord. „Aber das arme Weib schmerzt mich doch, und es ist billig, daß wir für sie sorgen.“
     „Willst du dich auskleiden, lieb Töchterchen?“ flüsterte die Lady, „du fühlst dich doch wieder besser?“
     „Ja, liebe Mutter“, antwortete die zarte Rebekka, erhob sich langsam und wandelte mit dieser hinaus.
     Kaum waren sie fort, als zwei Herren hereintraten. Sir Thomas L., ein Irländer, und ein wunderbarer Mensch, den man Ironius nannte. Jener hatte eine feiste, derbe Figur, breite Schultern, ein dickes Bäuchlein und joviale kleine, wiewohl eben nicht geistreiche Augen in einem glutroten Gesicht, ja die Nase ließ von ihrer Kupferfarbe und den vielerlei Tinten darin auf eine vertraute Gemeinschaft mit dem einzigen heidnischen Gott schließen, den auch gute Christen verehren, mit Bacchus. Der andere schien ein ausgemachter Schalk zu sein, und wir werden ihn bald näher kennenlernen.
     Der Lord empfing die Bekannten freundlich, der Onkel hingegen mit Kälte, selbst mit Stolz. Das Gespräch lenkte sich natürlich gleich auf den unglücklichen Vorfall am Vestatempel, und man äußerte teilnehmendes Bedauern. Nach einiger Zeit erschien auch Mutter und Tochter und drei Kinderchen, Söhne und Töchter des Lords. Ein blondes Mädchen, von raffiniertem Gesichtchen und blauen Augen, etwa zwölfjährig, brachte ein kleines Ölgemälde hervor, das es heute zustande gebracht, und man bewunderte es allgemein. Ein Knabe von sieben und ein Mädchen von vier Jahren begrüßten den Herrn Ironius lebhaft, und die kleine Kreatur fragte ihn: „Sprechen Sie auch französisch?“ Ironius antwortete mit Ja, und siehe, das Mädchen wußte schon französisch, englisch und ein bißchen italienisch zu reden. Die Mutter ergriff die Gelegenheit, dieses ausgezeichnete Talent zu rühmen, und Herr Ironius sagte: „In der Tat, das ist die beste Art, jenen Ernst hervorzubringen, den die Welt in der britischen Nation bewundert, um das Kind schon im zartesten Alter zum reifen und gesetzten Menschen zu bilden, so daß man behaupten könnte, es sei gar nie ein Kind im eigentlichen Sinne gewesen! Dadurch zeichnet sich der Engländer rühmlich vor dem Italiener aus, welcher sein Leben lang eine Art von Kind bleibt!“
     Die Lady nickte Beifall, und die Wendung, die Ironius dem Gespräche gegeben, wurde festgehalten.
     „Italiener!“ sprach der Kapitän voll Verachtung, „Italiener! Das lautet soviel als Hanswurst! Was ist das für ein Schlaraffenland! Ohne vernünftige Gesetze, ohne Polizei, ohne Erziehung, in den Händen des Klerus, ohne Fleiß und Arbeitsamkeit, und für den Fremden ohne alle Bequemlichkeit! Ein feiges, niederträchtiges Volk, Gaudiebe zu Wirten, Spitzbuben zu Vetturinen, Kammerdienern, Lohnbedienten, Lastträgern! Unwissende Menschen, die sich Gelehrte nennen! Und hier in Rom gar? Despotismus, Pfaffenherrschaft! Nicht einmal ein bequemes, reinliches Haus, ein geputzter Spiegel, ein sauberes Fenster, eine unbeschmutzte Treppe! Nicht einmal eine ordentliche Uhr, eine erträgliche Tafel.“
     „Wie sie nur kochen!“ versetzte die Lady. „Welche Unfläterei, welcher Schmutz, welche garstige Tiere allenthalben! Und der Beefsteak! Ich muß lachen, wie bereiten sie den so unwissend zu!“
     „Nicht wahr, das glauben Sie nicht?“ sagte Ironius zu dem Irländer hin.
     „Gott bewahre!“ antwortete dieser und präsentierte jenem eine Prise. Unterdessen wurde der Tee gebracht, und man schlürfte ihn langsam und stehend ein.
     „Wir gehen in kurzem nach Neapel“, sprach der Lord zum Irländer. „Sie waren schon dort?“
     „O ja, Mylord.“
     „Eine schöne Stadt?“
     „O welche schöne Stadt, schön, ganz schön, ausgezeichnet schön!“
     „Genua gefällt Ihnen aber gewiß auch?“ fragte Ironius.
     „O ja, Genua ist eine schöne Stadt, schön, ganz schön, ausgezeichnet schön.“
     „Welche Paläste in der Strada Balbi!“
     „Ha, welche Paläste, ganz schön, ausgezeichnet schön!“
     Der Kapitän blickte verächtlich auf ihn herab, und Ironius fuhr fort: „Sie haben jetzt Zeit, um alles mit Bequemlichkeit zu sehen! Wenn Sie nur noch acht Tage hierbleiben, so reicht das bei weitem hin, wie Sie schon in Ihrem römischen Wegweiser von Vasi und Nibby finden.“
     „Acht Tage, meinen Sie?“ fragte der Lord. „Das ist viel! Ich bin nicht hiehergekommen, um zu reisen, sondern um auszuruhen. Fahrt ihr acht Tage herum, ich bleibe zu Hause.“
     „Aber die Peterskirche werden Sie doch betrachten, Mylord, den Vatikan —“
     „Nun ja, vielleicht; ich habe Eile, nach Neapel zu kommen und warte hier nur den Bräutigam meiner Tochter ab.“
     Henry benahm sich bei diesem Gespräche äußerst zerstreut und mischte kein Wort ein, denn er dachte nur an seine schöne Camilla, der Irländer bejahte alles, was Ironius vorbrachte, die Mutter beschäftigte sich mit den Kindern, die Tochter las in einem Buche, und der Onkel stand wie eine Hopfenstange an der Wand.
     Endlich, als die Gäste aufbrechen wollten, wurden sie gebeten, morgen abend beim Tee zu erscheinen, indem Gesellschaft gegeben und, wie die Lady hinzusetzte, die schöne Camilla Mognaschi sich zum Klavier hören lassen werde. Man verabschiedete sich, und der Irländer ging mit Ironius.
     Beim Heraustreten auf den Spanischen Platz fragte der Irländer: „Aber wenn Sie meine Frage nicht ungütig aufnehmen, von welcher Nation sind Sie denn, mein verehrtester Freund?“
     „Lassen Sie das beiseite“, antwortete Ironius. „Unsereiner ist überall zu Hause! Genug, daß ich der entschiedenste Freund der Eng- und Irländer bin und Ihnen dienstfertig zu sein suche, wo ich nur vermag. Der Zufall hat mich mit Ihnen, einem echt römisch-katholischen Glaubensfreund, bekannt gemacht. Sie disponieren über meine Zeit, und ich mache mir eine Freude daraus, Ihnen einige der ersten Merkwürdigkeiten Roms zu zeigen.“
     Der Irländer dankte voll Freundlichkeit und Ehrerbietung, und man trennte sich für heute. Es ist nicht anders möglich, sagte er zu sich selbst, dieser Herr Ironius ist ein verkappter Jesuit: man muß ihn verehren, er ist beleuchtet.
     Damit trippelte das irländische Dickbäuchlein über den Monte Cavallo nach seinem Hause, wie er sagte, um sich mit Lesen zu unterhalten. „Will doch sehn“, zwitscherte er aber vor sich hin, „ob sie heut abend wiederkommt!“ Nun empfing ihn die Hauspadronin und leuchtete ihm ins Zimmer.
     „Ich habe schwarze Wäsche“, fing er an, „und will sie nun heraussuchen. Ihr könnt mir in einer Viertelstunde das Mädchen, Rosa, glaub ich, heißt sie, Ihr könnt sie gleich herüberschicken, wenn Ihr so gut sein wollt, versteht Ihr?“ Die Padronin bejahte und ging.
     Jetzt richtete der alte Herr mit manchem schweren Atemzug die Wäsche zusammen, dann ging er an einen Schrank und holte eine Bouteille Ischierwein hervor, indem er vor sich hin sprach: „Soll ich Ischier trinken oder lieber dies letzte Fiasco von dem köstlichen Est, est oder dies Fläschchen Syrakusaner oder den Calabreser hier oder das Restchen vom Cyprer? Nein, wir lassen's beim Ischier!“
     So sollte denn das Studium begonnen werden, und schon lag das Buch der Weisheit, Vasis römischer Wegweiser, auf dem Tisch, als es klopfte! „Favorisca!“ schrie der Irländer und ging nach der Türe.
     Wer kam herein? Eine blutjunge hübsche Römerin in trasteverinischer Tracht, oder wie man's nennt, eine Minente, eine allerliebste Plebejerin, im kurzen naiven Samtjäckchen, vollem Busen und reichem Kamm in den schwarzen Haaren.
     Die jovialen bacchischen Äuglein unsers frommen römischkatholischen Irländers blinzelten kaum noch aus dem Glutofen des Gesichts heraus, und er fragte: „Wollt Ihr mir die Wäsche besorgen, schönes Kind?“
     „Recht gerne“, antwortete die Minente. „Könnt Ihr auch neue Hemden machen?“ „O ja, Herr, soviel Ihr wollt!“
     „Ihr müßt mir ein halb Dutzend machen. Ihr seid ja so hübsch, ganz hübsch, außerordentlich hübsch!“
     Das Mädchen nahm die Wäsche, und der Irländer sagte: „Ein Gläschen von diesem Wein würde Euch gewiß schmecken, meint Ihr nicht?“
     „Ich dank Euch, Herr, Ihr seid gar zu gütig“, antwortete das naive Kind und wollte gehen, aber der Irländer füllte schnell einen Kelch und bracht ihn der Minente zu; sie sträubte sich, aber vergeblich, sie trank, und der alte Herr rief schmunzelnd aus: „Ist er nicht gut? Ach, er ist gut, ganz gut, vorzüglich gut!“
     Als sie zu Ende war, dankte sie und ging. Der Irländer leuchtete ihr und benahm sich gar freundlich und herablassend, sodann setzt' er sich auf das Sofa, nahm sein Buch, schlürfte seinen Ischier und schlief ein.
     Unsere hübsche Plebejerin war kaum außen, als sie auf eine niedere Loge ging, welche auf einen Gemüse- und Pomeranzengarten hinaussah. Sie zischte, sie flüsterte und bekam Antwort von unten. „Wo bist du denn gewesen, Rosette?“ rief es leise.
     „Ach, der Herr Engländer hat mich aufgehalten, der im Hause wohnt!“
     „Der Engländer, was hat der mit dir zu schaffen? mich lassest du warten und —“
     „Sei nicht böse, Nino! 's ist ein alter Herr und ein rechter Hansnarr, wollte mir schöntun und gab mir honigsüßen Wein.“
     „Und du nahmst's an?“
     „Ei, warum nicht? Wenn dir einer in der Lungara hundert Skudi gibt, nimmst du's nicht?“
     „Rosetta, ich hab dir etwas gebracht! Hab sechsundzwanzig Paul alle piastrelle gewonnen, draußen vorm Tor Portese.“
     „Spielratze! und wenn du verlierst?“
     „Tut nichts! diesmal hab ich gewonnen und dir ein wunderhübsches Halsband gekauft.“
     „Oh, was du sagst —“
     „Und wenn ich im Lotto gewinne, so ist alles dein.“
     „Ach, lieber Nino, daß du nicht herauf kannst!“
     „Morgen komm ich mit der Mandoline, eine Stunde nach Mitternacht.“
     „Ich wart am Fenster, aber es ist Mondschein, sie sehen dich.“
     „Was hat's zu sagen? Gute Nacht!“
     „Aber das Halsband?“
     „Morgen um vierzehn Uhr, an den vier Fontänen! verstehst du? Gute Nacht!“
     „Addio, Herz! Ich komme, addio!“
     So unterredete man sich geheim in der stillen Nacht gegen die vertraulichen Gärten hinaus, die am Abhang des Monte Cavallo grünen, während unser alter Herr längst neben der leeren Flasche auf dem Sofa schnarchte.

*