BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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8. Kapitel

 

Walter Peikchen legte mit einem Male eine auffällige Zuneigung zu Sukrow an den Tag. Unaufgefordert ging er ihm mit kleinen Gefälligkeiten zur Hand. Seitdem Gisela Zenk so plötzlich (angeblich infolge eines dringenden Telegramms) abgereist war, erschien er merklich verändert.

Eines Tages fragte er unvermittelt: «Haben Sie sich denn nun auch schon bei der Einwohnerwehr als Mitglied angemeldet?»

Als Sukrow sich dumm stellte, wurde er deutlicher: «Na, Sie waren doch neulich auch zum Vergnügen im ‹Marxloher Hof›!»

«Woher wissen Sie denn das?»

Peikchen machte ein pfiffiges Gesicht: «Ja, man hat schon seine Beziehungen... was ich Sie noch fragen wollte, haben Sie schon mal vom ‹Rugard-Bund› gehört?»

Sukrow verneinte, worauf er ihm einen künstlerischen schwarzrot gedruckten Prospekt auf den Platz legte: «Deutschlands Erneuerung! Ein Problem für die deutsche Jugend!», unterzeichnet vom «Rugard-Bund».

Sukrow las sich die Tiraden von «sittlicher Erneuerung»? «Wiederaufbau» usw. durch, sagte «Hm, hm», weil ihm nach Diskussion mit diesem dummen Jungen nicht zumute war, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Tags darauf erhielt er per Post eine Einladung zu einer Werbeversammlung der neugegründeten Ortsgruppe des Bundes.

«Werden Sie morgen abend hinkommen?» fragte Peikchen. «Übrigens», setzte er geheimnisvoll blinzelnd hinzu, «wissen Sie, wen Sie da treffen werden?»

«Na?» sagte Sukrow und empfand einen eigenartigen Stich in der Herzgrube.

«Unsere Ehrenmeisterin, Fräulein Zenk», flüsterte der andere verzückt.

Er nahm sich vor, nicht hinzugehen; ... aber als die Uhr sieben schlug, stand er doch vor dem Hotel «Preußen». Eigentlich hieß es «König von Preußen». Der Wirt hatte bei der Revolution die ersten beiden Worte seines Firmenschildes mit Leimfarbe übertüncht, aber der Regen wusch im Laufe der Zeit so viel herunter, daß der «König» selbst im Dunkel des Abends schon wieder deutlich zu erkennen war. Peikchen begrüßte ihn an der Tür und führte ihn in ein großes Vereinszimmer, wo schon etwa vierzig bis fünfzig junge Leute versammelt waren. Durchweg gehörten sie den so genannten «besseren Ständen» an. «Sie», umderenthalben er ja eigentlich hier hergekommen, war nicht zu sehen; doch wagte er nicht, Peikchen nach ihr zu fragen. Endlich nahm ein Herr in mittleren Jahren, der den aktiven Offizier unter schlechtsitzendem Zivilanzug nur mangelhaft verbarg, das Wort zu einem Vortrag: «Was will der Rugard?» Sukrow hörte die schon sooft gehörten nationalen Plattheiten nur mit einem Ohr. Von der anderen Seite winkte ihm der lange Bergassessor Kuhlenkamp grinsend zu. Er glaubte den Wink zu verstehen und gab ihm in einer Pause die geliehenen hundert Mark zurück. Ehe er noch ein weiteres Wort wechseln konnte, hatte ihn Peikchen am Arm.

«Gestatten Sie einen Augenblick! Fräulein Zenk möchte Sie sprechen.» Sukrow fühlte, wie alles Blut zu seinem Herzen strömte, wie die feinen Faserwürzelchen, die da von dieser hoffnunglosen Neigung zurückgeblieben waren, neue Schößlinge bildeten. Er ging mit Peikchen über einen teppichbelegten Gang. Hinter einer Rollwand, die sich in einer Ecke um einen Tisch schlängelte, ertönten Stimmen.

Als die beiden jungen Leute in das Kabinett traten, verabschiedete Gisela gerade einen weißbärtigen Herrn mit «Also, es bleibt dann dabei, Herr Rat». Auch Peikchen verschwand auf ihren Wink, mit den Hacken klappend...

Sukrow stand ihr allein gegenüber. Und wie er ihre schlanke, von einem blauen Samtkleid umflossene Gestalt mit den Blicken umfaßte, wieder in ihre betörenden Augen blickte, da wußte er, daß es eitel Selbsttäuschung gewesen, als er geglaubt hatte, sich ihrem Zauber jemals entziehen zu können. Ganz hingerissen, wie er war, bemerkte er gar nicht den Strahl des Triumphes, der in ihren Augen aufblitzte.

«Gnädiges Fräulein wünschen mich zu sprechen?»

Sie streckte ihm über den breiten Rundtisch hinweg die Hand entgegen.

«Es freut mich ungemein, Herr Sukrow, daß Sie, nachdem ich Sie schon neulich im Kreise nationaler Männer getroffen habe, den Weg bis zur Schwelle des Rugard gefunden haben. Hoffentlich dürfen wir Sie bald als Freund, Kamerad und Mithelfer für unsere Sache begrüßen.»

Sie sagte das in warmem, herzlichem Ton, indem sie ihn zum Sitzen nötigte. «Nicht so konventionell, wenn ich bitten darf. Rücken Sie hier zu mir auf das Sofa und sprechen Sie als Freund zur Freundin», sagte sie, als er sich auf einem Stuhl niederlassen wollte.

Später entsann er sich sehr genau, daß ihn in diesem Augenblick ein zitterndes Angstgefühl überkam, wie in seinem Traum, als er an ihrer Seite in der mit Totenpferden bespannten Brautkutsche dahinsauste. Hier wie da wollte er fliehen. Hier hinderten ihn allerdings keine Abgründe, sondern zwei bezaubernd schöne Augen. «Sie sprechen ja gar nichts», sagte sie, als er wortlos geradeaus starrte, «ist Ihnen nicht wohl?»

«Sie sagen, daß Sie sich neulich darüber freuten, als Sie mich bei der Einwohnerwehr sahen. Ich hatte aber einen anderen Eindruck von unserer Begegnung», würgte er mühsam heraus. Sie wurde ein wenig rot, aber sie schien auf diesen Einwurf gewappnet zu sein.

«In der Tat hatte ich mich zuerst geärgert, aber nachher erschien mir alles in einem milderen Licht», antwortete sie mit weichem Schmelz in der Stimme.

«Geärgert? – Über mich? – Da muß ich doch um nähere Aufklärung bitten.»

Gisela machte eine abwehrende Bewegung. «Lassen wir das, Sie waren vielleicht an dem Abend in Stimmung ... Sie sind ja auch noch jung! Aber», setzte sie mit verhaltener Stimme hinzu, «glauben Sie mir, solche Mädchen sind Ihrer nicht wert.»

«Sie haben mich also doch gesehen?» Er fühlte sich wie ein ertappter Schuljunge. «Freilich haben Sie Recht, und ich habe mich sehr schnell selbst davon überzeugt, es auch schon zehnmal bereut», setzte er leise, fast flüsternd, hinzu.

Traurigkeit überkam ihn. So hatte er sie wirklich gekränkt. Alle Kombinationen über ihren Hochmut brachen jäh zusammen. Er mußte blind gewesen sein an jenem Abend, hatte eine günstige Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder bot, verpaßt. Sie hatte ihn mit jenem gewöhnlichen Mädchen Arm in Arm gesehen. Wie tief mußte er in ihrer Achtung gesunken sein? Verstohlen fuhr er mit dem Daumen in die Augenwinkel. «Können Sie verzeihen, Gnädigste?» «Verzeihen? ... Ich hatte doch keinerlei Ansprüche an Sie.» Sie sagte das in einem Tone, in dem etwas wie Bedauern mitschwang. Er hörte das, und mit einem Male belebte ihn eine neue Hoffnung.

«Sie sind mir also nicht böse?» fragte er, ihre Hand ergreifend.

Sie lächelte, und er zog ihre Rechte an seine Lippen. Dann behielt er sie fest in seiner Hand.

«Gisela! – Ich habe viel um Sie gelitten ... Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf... Ich wagte nicht, meine Augen zu Ihnen zu erheben... Ich suchte Sie überall zu vergessen und fand Sie doch überall wieder. Sagen Sie mit einem Wort nur: war das nicht dumm und hoffnungslos?»

«Würde ich mich sonst so für Sie interessiert haben, Sie dummer – lieber – großer Junge, Sie?!»

«Gisela!»

Sie entzog ihm mit einer Gewalt, die keinen Widerstand duldete, den Arm, den er bis zur Schulter hinauf mit Küssen bedeckte.

«Nun wollen wir es gut sein lassen und mal vernünftig miteinander reden... Da hübsch hingesetzt und die Hände auf den Tisch zusammengelegt, wir sind nicht im ‹Maxloher Hof.»

Er war schon wieder der gehorsame Sklave. Sie schenkte aus der Flasche, die in einem Eiskübel neben dem Tisch stand, zwei Gläser ein. «So, damit stoßen wir nun an, es ist deutscher Wein, den wir da zum Zeugen unserer Freundschaft machen, ich, ein deutsches Mädchen, und Sie ein – wie ich jetzt hoffe – deutscher Mann.»

Sie trank das Glas in einem Zug aus und forderte ihn auf, das gleiche zu tun. «Mehr gibt es vorläufig nicht», sagte sie neckisch, die Flasche wegrückend. «Wir müssen klar bei Sinnen bleiben. Sind Sie nun zufrieden?»

Der schwere Wein stieg ihm sofort zu Kopfe. «Zufrieden, Gisela, werde ich erst mal sein, wenn ich weiß, daß mich meine Träume nicht betrogen, daß ich Sie lieben und umarmen darf!»

Sie wurde ernst. «Sprechen Sie nicht so, mein Freund... Jetzt wenigstens nicht.»

«Warum gerade jetzt nicht», begehrte er leidenschaftlich auf. –

«Sie vergessen eines. Ich bin ein deutsches Mädchen! Wissen Sie nicht mehr aus der Geschichtsstunde, was Tacitus über die germanischen Frauen sagte? Daß sie ihren Männern in die Schlacht folgten, durch Zurufe zur größten Tapferkeit ermunterten und bei einer verlorenen Schlacht sich und ihren Kindern den Tod gaben!»

«Jetzt ist doch gar kein Krieg, warum denn da diese Geschichten», fragte er verdrießlich.

«Aber unser Vaterland blutet noch an den tausend Wunden eines verlorenen und verratenen Krieges. Sie selbst sprachen doch mal mit mir darüber, damals, als wir uns zum ersten Male sahen. Sehen Sie, das ist es ja, was ich an Ihnen so schätze. Ihre Hingabe an den Auferstehungsgedanken unseres Deutschtums, der ja bei Ihnen nur in eine etwas andere Form gekleidet ist. Sie empfinden in Wirklichkeit in Ihrem Innern genauso kerndeutsch wie ich und andere. Schlagworte und Phrasen haben nur die Schale zernagt. Aber der Kern ist noch echt. Und weil ich das mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit weiß, darum würde ich es begrüßen, wenn Sie ... Seien Sie ein Mann, werden Sie ganz der Unserige! Solche Leute, die, wie Sie, Einfluß auf Arbeiterkreise haben, braucht das Vaterland. Unterstellen Sie sich meinem Kommando, treten Sie dem ‹Rugard› bei!»

Sie hielt stille und sah ihn erwartungsvoll an. «Und wenn ich es tue, Gisela, – ganz bin ich ja davon noch nicht überzeugt. Wenn ich es tue, um Ihretwillen, und dann?»

«Sie verlangen viel, daß muß ich sagen», gab sie in merklich abgekühltem Ton zurück. «Sie sind anscheinend doch mehr Materialist als Idealist! Es ist häßlich von Ihnen, etwas so Hohes und Heiliges wie das Vaterland mit persönlichen Vorteilen zu verknüpfen. Ich habe mich am Ende doch geirrt?»

Die Enttäuschung im Klang ihrer Stimme verfehlte nicht ihre Wirkung. «Gisela, habe ich Sie wieder verletzt?» rief er erschrocken.

«Ja, mein Herr, das verstehen Sie meisterhaft. Aber ich verbiete Ihnen, mich fürderhin so vertraulich anzureden. Ein Mann, der so eigensüchtig denkt und handelt wie Sie, den kann ein deutsches Mädchen nicht achten, geschweige denn...»

In gekünsteltem Zorn war sie aufgestanden und griff nach ihrem silbernen Handtäschchen.

«Gisela, nicht so», bat er flehend. «Befehlen Sie, ich soll mich töten, aber verachten Sie mich nicht. Ich liebe Sie ja so. Bisher war ich grenzenlos einsam. Jetzt erst wird mir das Leben lebenswert. Sie haben ein Menschenleben in Ihrer Hand!»

Sie sah ihn spöttisch an, lachte ein teuflisches Lachen, das nicht von ihr zu kommen schien. «Ihr Leben wollen Sie opfern? – Für mich? – Ich bin doch keine Menschenfresserin! Fühlen Sie denn nicht, Sie merkwürdiger Mensch, welcher Abgrund doch noch zwischen uns beiden auszufüllen ist, ehe ich Ihnen das auszusprechen erlauben darf, was ich Ihnen heute noch verbieten muß? Egoisten und Materialisten haben das Vaterland zugrunde gerichtet. Deutsch denkende Männer und Frauen arbeiten daran, es in neuem Glanz auferstehen zu lassen. Und wenn es auch zur Zeit trübe aussehen mag, wer weiß, wie bald große Geschehnisse heranreifen, die Männer der Tat brauchen? Nur solche Männer kann ich achten und lieben! Mehr habe ich Ihnen für heute nicht mehr zu sagen, Herr Sukrow.» Sie stand entschieden auf.

«Verfügen Sie über mich...», stammelte er.

«Nein, Sie möchten sich doch nachher Vorwürfe machen, Sie hätten sich durch ein Weib überreden lassen. Wenn Sie ganz zu uns kommen, müssen Sie ein Treuversprechen, einen heiligen Eid ablegen, und der muß aus eigener Überzeugung kommen. Überlegen Sie es sich acht Tage, sprechen Sie aber mit niemandem darüber und lassen Sie mir durch Herrn Peikchen Bescheid zukommen.»

Sukrow schleppte sich nach schlecht verbrachter Nacht müde und abgespannt an seinen Arbeitsplatz. Peikchen ging ihm aus dem Weg. Er hätte ihm heute auch nicht Antwort gestanden. Mühsam brachte er so viel Nervenkraft zusammen, um seine Arbeit zu verrichten.

«Sie sehen ja aus, als wenn Sie die Grippe kriegen, legen Sie sich lieber ins Bett und trinken Sie einen ordentlichen Grog», riet ihm Kraft. Er lehnte ab. Aber als der alte Hövelmann mit einem Becher glas heißem Rum. erschien, trank er es doch bis zur Neige aus. Das starke Getränk belebte ihn wieder etwas. Aber noch immer kreisten seine Gedanken um den einen Punkt.

Wohl zum tausendsten Mal seit gestern abend versuchte er sich klarzumachen, daß das, was ihm Gisela Zenk erzählte, nichts weiter als ein abgefeimtes Spiel war. Und doch konnte er, wenn er sich ihre Augen, ihre Stimme in Erinnerung rief, nicht daran glauben. Immer mehr bekam er das Gefühl, als wandere er auf einem schmalen Berggrat, wo ihm nur übrig blieb, links oder rechts in den Abgrund zu stürzen. Wirklichkeit mischte sich mit dem schrecklichen Traum von neulich zu einem futuristischen Mosaik. Jetzt trank sie tatsächlich sein rotes Herzblut, war er ihr auf Leben und Tod verfallen. Hinter ihm, weit weg, lagen die bitteren Erfahrungen der letzten zehn Wochen. Was er mühsam, schrittweise erkämpft und errungen, es schien welk und verdorrt. Die Freunde, die er auf diesem Wege gefunden, Grothe, Ruckers, Mary... «verdorben, gestorben!» klang es in Moll nach. Ja, Mary, sie hätte ihn retten, halten können, vor diesem dunklen Weg, der im Verderben enden mußte. Was sie wohl sagte, wenn er ein Hakenkreuzler wurde? Furchtbar der Gedanke, von Menschen, die einem lieb und wert, als Schurke verachtet zu werden. Sein Blick fiel auf das Regal mit den buntfarbigen Chemikalien; auf verschiedenen klebte ein schwarzes Etikett mit grinsendem Totenschädel. – Quecksilber-chlorid löst sicher und schmerzlos jeden Seelenkonflikt! Oder ob er sich lieber Zyankali aus dem verschlossenen Giftschrank holte?

Mit Gewalt warf er diese Gedanken von sich, die ihn gleich widerlichen Spinnen ankrochen. Himmelherrgottsakrament: Wohin geriet er da? Wo war der tapfere Ernst Sukrow geblieben, der ausgezogen, die Welt zu erobern? Seine Nerven waren durch die letzten Ausschreitungen aus dem Gleis geraten. Das war alles! Acht Tage hatte er ja Zeit – und kommt Zeit, kommt Rat! Sterben kann man noch immer. Er ging nach Hause und schlief tief und traumlos bis zum andern Morgen durch.

Als er aufstand, schien die Sonne – wenn auch matt – durch die ewige Qualmatmosphäre und gab ihm neuen Lebensmut. Ein Zurück gab es nicht mehr, das stand jetzt fest. Gisela sollte sehen, daß er auch fähig war, Opfer zu bringen.

Ein Brief vom Sozialdemokratischen Wahlverein war angekommen. Er enthielt das Mitgliedsbuch für den «Genossen Ernst Sukrow» und eine Einladung für die Mitgliederversammlung, Freitag, den 12. März. Freitag, das war ja heute! War das ein Wink des Schicksals? Er steckte den Zettel sorgfältig ein und beschloß hinzugehen. Als er die Treppe zum oberen Saal des Volkshauses emporstieg, hörte er hinter einer Tür Gesang, und eine energische Stimme rief:

«Also immer den Mund recht weit aufmachen, Genossen, mit der Kehle wird gesungen – und nun das Ganze nochmals von vorne.» Er blieb stehen und lauschte:

 

«Es stand meine Wiege im niedrigen Haus,

Die Sorgen, die gingen drin ein und drin aus,

Und weil meinem Herzen der Hochmut blieb fern,

Drum bin ich auch immer beim Volke so gern.

Und guckt die Sorge manchmal durch die Scheiben,

Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben.

Tief drunten im Tale ging immer mein Lauf,

Zur Höhe, zur steilen, nie kam ich hinauf.

Ich blieb stets im Herzen nur einfach und schlicht,

Und Orden und Sterne begehrte ich nicht.

Wo auch die Barke des Lebens hin mag treiben,

Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben.

Und schließt sich mein Auge zur ewigen Nacht,

Und habt ihr zur Ruh mich, zur letzten, gebracht,

Dann schmückt mein Grab mit grün' Kränzelein

Und legt mir darauf einen schmucklosen Stein.

Auf diesen Stein laßt mir die Worte schreiben:

‹Ein Sohn des Volkes wollt er sein und bleiben.›»

 

«Unsere Sangesbrüder singen fein, was?» fragte hinter ihm eine bekannte Stimme. Es war Oversath; nun mußte er doch mit nach oben.

«Gestern früh sind auf ‹Hasdrubal II› drei Mann durch Kohlenstaubexplosion kapott gegangen. Darum üben sie das Lied zur Beerdigung», erklärte der Parteivorsitzende.

Sukrow, der eine große Arbeiterversammlung erwartete, sah sich arg enttäuscht. Die fünf Dutzend Männer und Frauen hätten auch ebenso gut einem Bürgerverein angehören können. Die ihm so wohl bekannten Typen der Kumpel und Hüttenarbeiter fehlten fast gänzlich.

Der Referent, irgendein Akademiker, sprach langweilig über Vereinfachung der Wirtschaftsverwaltung, Erfassung der Exportgewinne und die mangelhafte Ablieferung von Brotgetreide durch die Landwirte, weshalb die Regierung 500000 Tonnen einführen müsse. Sukrow versuchte vergeblich, aus dem breiigen Redefluß einen fruchtbaren Gedanken herauszukristallisieren. Als der Redner erwähnte, daß es der Regierung gelungen sei, pro Woche 25 Gramm Fett mehr zu verteilen, ertönte das erste «Sehr gut!»...

So langweilig und seicht hatte er sich die mehrheitssozialistische Mitgliederversammlung doch nicht vorgestellt. Nein, diese schwätzenden, biertrinkenden und zeitungslesenden Philister hier bauten ganz gewiß keine neue Welt auf. Er hatte auf eine falsche Karte gesetzt. Um so leichter gab er sie zurück. Jetzt spielte er Trumpf As!

Unauffällig nahm er seinen Hut und verkrümelte sich zur Tür hinaus. Merkwürdig, draußen im Vorraum ging es um so lebhafter zu. Er blieb einen Augenblick stehen, denn man diskutierte über den schlechten Versammlungsbesuch, der nur knappe fünf Prozent der Mitglieder betrug.

«Ich sage euch, das sind nur die Folgen der verfluchten Koalitionspolitik! Und wenn dann solche Geschichten wie auf ‹Beate› gedeichselt werden, die unsere Partei mit Stillschweigen deckt, da soll erst mal der geboren werden, der das den Kumpels klarmacht», rief aufgeregt ein älterer Arbeiter, dem ein zu früh losgegangener Sprengschuß die ganze linke Gesichtshälfte entstellt hatte.

«Die werden schon alle wiederkommen, Genosse zur Linden, wir müssen als Regierungspartei auch den Mut zur Unpopularität haben. Wenn die Massen sehen, daß es im Ganzen vorwärts geht, wird sich auch das Parteileben wieder beleben», tröstete ein Herr, dem man unschwer den Beamten ansah.

Etwa die 25 Gramm Fettzulage?» spottete ein anderer.

Zur Linden wurde noch aufgebrachter. «An dieser Sorte Mut, lieber Genosse Trimborn, hat es bei uns leider noch niemals gefehlt. Sie sollen sich mal in den Betrieben hinstellen und das vor den Arbeitern verteidigen. Wir wissen gar nicht mehr, was wir den Unabhängigen, Kommunisten und Unionisten sagen sollen. Das merken Sie in Ihrem Büro und unsere Genossen oben natürlich nicht. Aber dafür werden wir bei den Herrn Dickköppen umso angesehener, das stimmt! Unser alter August Bebel sagte mal: ‹Wenn mich die Gegner loben, habe ich sicher eine Dummheit gemacht!' Und ich kann mir nicht helfen, bin ja nun auch keiner von den Jüngsten mehr, seit 93 organisiert. Aber ich meine, wir machen noch Dummheiten genug!»

Eine stattliche Frau mit stark ergrautem Scheitel, von den anderen mit Genossin Kabitzki angeredet, widersprach voll schlecht verhaltenen Zornes. «Wenn man Genossen zur Linden hört, meint man, einen Unabhängigen vor sich zu haben. Unsere Genossen sollten sich in die Betriebe nur etwas mehr Mut mitnehmen und sich da an den Spartakisten ein Beispiel nehmen.»

«Versuche es man bei deiner Suppenküchenbelegschaft», spielte der Bergarbeiter gereizt auf die Tätigkeit der Kriegerwitwe in der Wohlfahrtspflege an.

«Nicht nur die Radikalen machen uns Schwierigkeiten, sogar die Gelben kommen wieder hervor und sagen: ‹Sieh mal, was haben euch nun die Sozialdemokraten gebracht? War es früher nicht viel besser? Ich kann euch sagen, daß die Schwarzweißroten seit einiger Zeit hier eine mächtige Propaganda entfalten. Wenn jetzt die Wahlen zu den Betriebsräten kommen, werden wir Überraschungen erleben. Von den Reichstagswahlen gar nicht zu reden», nahm ein Mann in Straßenbahneruniform das Wort.

In diesem Augenblick rief eine Stimme vom Saaleingang: «Genossen, alle reinkommen. Es ist eben eine sehr wichtige Nachricht eingetroffen. In Berlin soll die Regierung gestürzt sein!»

Es bedurfte keines besonderen Hinweises zur Eile. Alles strömte, aufgeregt durcheinander sprechend, in den Saal. Vorn beim Rednerpult zog sich Reese eben in sichtbarer Nervosität den Paletot aus, Oversath läutete anhaltend mit der Schelle.

«Bitte um Ruhe und Platz zu nehmen! – Parteigenossen!» rief er dann mit feierlicher Stimme, «Genosse Reese wurde soeben von unse-rem verehrten Parteigenossen, Nationalversammlungsabgeordneten Ge-nossen Grollmann, Mitglied der Nationalversammlung, antelefoniert.»

«Mach's doch kurz! Was gibt's denn!» riefen einige Ungeduldige. Oversath machte eine abwehrende Handbewegung, holte tief Luft und fuhr in demselben Tonfall fort:

«Parteigenossen und Parteigenossinnen! In dieser Zeit des mühsamen Wiederaufbaues, in der sich die deutsche Arbeiterschaft, ihrer Pflicht bewußt, unter Führung ihrer berufenen Vertreter, der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften, das Zerstörte wieder aufbaut – denn Schulden kann man nicht sozialisieren – Parteigenossen und -genossinnen –, da wagen es in dieser Zeit des Wiederaufbaues unseres Vaterlandes – die Kommunisten wieder einmal, einen ihrer von Moskau befohlenen Putsche in Szene zu setzen.»

Stürmische Rufe: «Pfui! Hört, hört! An die Wand mit den Putschbrüdern!» Sukrow, der an der Tür stehen geblieben war, erkannte die vorhin noch so schläfrige Versammlung kaum wieder. Alles war aufgesprungen, Frau Kabitzki kreischte wie eine Irrsinnige.

Befriedigt beobachtete Oversath den Erfolg seiner Worte, wurde aber von Reese mit den halblauten Worten: «Du bist ein Esel» unsanft beiseitegestoßen. «Bitte um Ruhe, Genossen! Alles setzen!» Nur langsam ebbte der Sturm ab. «Parteigenossen!» begann Reese mit ernster Stimme, «dem Genossen Oversath ist soeben ein kleiner Irrtum unterlaufen. Der Putsch kommt diesmal nämlich nicht von links, sondern –», hier versuchte er zu lächeln – «Abwechslung muß auch mal sein – von rechts! – Eine Gruppe von politischen Abenteurern und militärischen Desperados, hinter denen aber, soviel steht bereits fest, keine politische Partei steht, hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, um die Regierung zu stürzen und eine militärische Gewaltherrschaft aufzurichten. An der Spitze dieser Bewegung stehen der Generallandschaftsdirektor Kapp, General Lüttwitz und der Hauptmann Papst. Die Regierung ist fest entschlossen, Gewalt mit Gewalt zu begegnen, und hat gegen die bekannten Führer bereits Schutzhaftbefehle erlassen. Die Regierung ist vollkommen Herr der Lage, umso mehr, da Reichswehrminister Genosse Noske für die Verfassungstreue und Zuverlässigkeit der Reichswehr bürgt. Alle übrigen Reichswehrgeneräle haben bereits offiziell das Vorgehen des Generals Lüttwitz mißbilligt, so daß hinter den Putschisten nur einige Baltikumformationen stehen, die sich aufzulösen weigerten. Zur Beunruhigung liegt daher keinerlei Anlaß vor. Überdies hat Genosse Heine als preußischer Innenminister die Mobilisierung der Einwohnerwehr angeordnet, damit bei etwaigen Unruhen der Schutz des Eigentums gewahrt bleibe. Genossen! Wir erklären getreu unserer Parole, die Republik gegen links und rechts zu verteidigen, daß wir in dieser Situation genauso wie Januar und März neunzehn, wo es viel schlimmer aussah, unseren Mann stehen werden. Für uns Sozialisten heißt es da – und da gibt's ja eigentlich keinen Unterschied der Partei – bereit sein ist alles!»

Es ist schwer, den Eindruck dieser Richtigstellung zu schildern. Nur allmählich wich die eingetretene Erstarrung, man hörte halblaute Bemerkungen: «So ist's richtig!» und «So mußte es erst mal kommen!»

Zur Linden fauchte Oversath an: «Hab' ich's nicht immer gesagt, daß wir einen Rechtsputsch kriegen. Nun bist du baff!»

«Das bin ich nicht, Genossen! Also ich bin dafür, daß wir eine Resolution annehmen, in der wir der Regierung Ebert – Bauer – Noske unsere Ergebenheit bekunden, und die Resolution telegrafisch nach Berlin übermitteln», rief der Vorsitzende schnell gefaßt.

«Wird das nicht zu teuer?» spottete eine Stimme hinter Sukrow. – Es war der Straßenbahner Schmidt, der vorhin die Nationalistengefahr geschildert hatte. Trimborn meldete sich zum Wort:

«Parteigenossen und -genossinnen! Ich bin für Einberufung einer Generalversammlung für nächsten Montag...»

«Generalversammlungen müssen laut Statut acht Tage vorher einberufen werden», unterbrach Oversath.

Also dann für nächsten Freitag oder Samstag...»

Da bin ich dagegen, nächsten Samstag hat die Metallarbeiter-Hilfskrankenkasse Stiftungsfest», rief eine andere Stimme.

Trimborn fuchtelte mit seinem Kneifer herum. Bitte, laßt mich doch erst mal aussprechen! Ich habe die anderen Redner ja auch nicht unterbrochen. Ich meine, über den Tag werden wir uns im Vorstand schon einig werden. Zu der Generalversammlung unterbreite ich folgenden Antrag:

«Jeder Parteigenosse ist verpflichtet, sich der Einwohnerwehr zur Verfügung zu stellen.›»

«Sehr gut», riefen einzelne. – «Die Frauen etwa auch?» fragte Frau Kabitzki.

Zur Linden brach in ein höhnisches Gelächter aus.

«Vielleicht machst du einen besseren Vorschlag», sagte Trimborn beleidigt. Zur Linden wartete erst gar nicht ab, bis er das Wort erhielt.

«Ich bewundere nur eure Pomadigkeit. In acht Tagen kann wer weiß was passiert sein. Ich habe das bestimmte Gefühl, daß man uns noch nicht alles gesagt hat, und daß wir in allernächster Zeit noch allerlei Überraschungen erleben. Da muß die Arbeiterschaft als Ganzes auftreten. Meinetwegen soll Genosse Trimborn zur Einwohnerwehr gehen, wenn er sich von den Käsehökern und Kattunfritzen was verspricht. Ich mache einen anderen Vorschlag, und der betrifft vor allem die Genossen, die noch im Betrieb stehen. Genossen, denkt an das Wort:

 

‹Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will!›

 

Mögen die anderen gemacht haben, was sie wollen. Wir haben – darüber sind wir uns wohl einig – auch genug Fehler gemacht. Sonst wäre wohl die Reaktion nicht schon wieder so frech. Ich bin daher dafür, daß man sofort an die Unabhängigen und Kommunisten herantritt, um ein Verteidigungskomitee für den Fall der Fälle zu bilden.»

«An die Gewerkschaften aber auch», rief Schmidt.

«Natürlich, überhaupt an alle Organisationen, die mit uns irgendetwas gemeinsam haben», ergänzte der Kumpel.

Reese nahm das Wort: «Genossen, was die Kommunisten mit uns gemeinsam haben, das muß der Vorredner erst noch beweisen.»

«Ich mache das jedenfalls nicht mit», schrie Frau Kabitzki hysterisch, und Trimborn sowie mehrere Geschäftsleute kündigten ihren Austritt aus der Partei an, wenn man sich mit den Linksradikalen einlassen würde.

«So macht man weiter mit eurer Hetze, dann werdet ihr schon sehen, wo ihr hinkommt», brüllte der Straßenbahner empört.

«Komm doch, Karl, und laß die Hornochsen mit ihrem Hänneschen-Theater allein», knirschte der Bergarbeiter außer sich vor Wut. Die Versammlung löste sich ohne Abstimmung im allgemeinen Durcheinander auf. Niemand respektierte mehr die Vorstandsklingel, worauf Oversath erklärte, daß der Vorstand die Anträge als Material übernehmen werde.

Als Sukrow am anderen Morgen den Flur des Laboratoriums betrat, hörte er schon erregt diskutierende Stimmen. Kraft hielt ihm sogleich den «Generalanzeiger» entgegen. «Was sagen Sie denn dazu, Herr Sukrow?»

Ja, was sollte er wohl dazu sagen! Er wunderte sich eigentlich selbst, daß diese Geschichte, die ihn noch vor acht Tagen in hohe Aufregung versetzt hätte, jetzt so unberührt ließ. Mochten sie die Regierung stürzen; wenn sie ebenso war wie die gestrige SPD-Mitgliederversammlung, verdiente sie in der Tat kein anderes Los. Dieser gestrige Abend hatte ihn von mancher Illusion geheilt, besser, als es Giselas Vorstellungen jemals vermocht hätten.

Was mochte sie wohl zu den Vorfällen sagen? – Er bekam einen unbehaglichen Verdacht. Stand etwa ihre politische Propagandatätigkeit hiermit im Zusammenhang? Wußte sie vorgestern abend vielleicht schon mehr als sie mitteilen wollte? – Verschiedene ihrer Ausführungen erschienen ihm jetzt in einem bedeutsamen Licht. Ohne Zweifel verbarg sich hinter der Firma des Rugard-Bundes irgendeine der nationalistischen Organisationen, die teils offen, teils unterirdisch die Republik unterwühlen. Wenn sie aber doch recht hätten? –

Der schwerindustrielle «Generalanzeiger» stellte die Berliner Vorgänge in absichtlich abgeschwächten Farben dar. Verteidigte die Baltikumer als um das Vaterland verdiente Männer und stellte letzten Endes das Ganze so hin, als solle durch das Geschrei über einen gar nicht vorliegenden Rechtsputsch ein kommunistischer Umsturz vorbereitet werden. Kraft wunderte sich an diesem Morgen sehr, daß Sukrow, von dessen Belesenheit er große Stücke hielt, ihn gegen die reaktionären Kollegen im Stich ließ und ruhig an seine Arbeit ging, führte das aber auf seine noch nicht überwundene Grippe zurück.

Gearbeitet wurde an diesem Morgen nicht viel, zumal Dr. Grell telefonisch mitteilte, daß er frühestens am Nachmittag erscheinen werde. Aus dem Betrieb brachte der alte Hövelmann noch die Nachricht, daß unter der Belegschaft lebhafte Unruhe herrsche, die Walzen leer liefen und passive Resistenz geübt werde.

«Sehen Sie wohl, die Arbeiter wollen bloß mal wieder streiken», eiferte Peikchen.

«Na, Sie streiken ja auch. Wenn Sie so weitermachen werden wohl Ihre Siliziumbestimmungen heute nicht mehr fertig», lachte der in der Nähe stehende Kraft.

«Wenn man Dr. Grell hier wäre, der brächte in den Betrieb schon Ordnung; das versteht er», giftete Peikchen, die Anzapfung nicht beachtend. Dann machte er sich näher an Sukrow heran.

«Ich soll Sie grüßen», sagte er vertraulich – «von Fräulein Zenk!»

«Dann sagen Sie nur, ich ließe wieder grüßen!»

«Danke schön! – Und sonst nichts?! Ich meine, haben Sie nichts zu bestellen?»

Sukrow sah ihn groß an: «Wie meinen Sie das? Haben Sie einen Auftrag?»

Peikchen blickte sich nach allen Seiten um, zog ihn dann in eine Fensterecke und machte ein geheimnisvolles Gesicht:

«Es ist wegen des ‹Rugard›! Sie zählen bei uns als Kandidat, und man wartet auf Ihren Bescheid!»

«Die acht Tage sind doch noch lange nicht um!»

«Ja, ich weiß, aber immerhin... Es liegen jetzt bestimmte Dinge vor, die es für jeden notwendig machen, sich kurz zu entscheiden.»

Sukrow merkte, wie ihm das Herz ruckweise höher zum Halse empor klopfte, befleißigte sich aber der größtmöglichen Ruhe, als er mit gleichgültiger Stimme antwortete:

«Ach, Sie meinen wegen der Berliner Geschichte. Haben Sie denn schon genauere Nachrichten?»

Peikchen kniff ein Auge zu: «Unser Befehl kann jeden Augenblick eintreffen. Aber mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Sie gehören ja noch nicht zu uns!» Damit ging er aus dem Zimmer.

Sukrow glaubte genug zu wissen. Hier bereitete sich in aller Stille eine groß angelegte Aktion gegen die Sicherheit der Republik vor, wozu man auch ihn benutzen, oder richtiger gesagt, mißbrauchen wollte. Er lachte grimmig vor sich hin. Seine Liebe zu der schönen Sirene sollte die Schlinge sein, in der man ihn fangen und nach der anderen Seite hinüberlotsen wollte. Sie wußte und billigte das, spielte die Hauptperson in dieser Komödie, ja – sein Herz setzte fast aus – war anscheinend sogar gleichzeitig Dichterin und Regisseurin?

«Wer mich lieben will, muß auch Arbeiter erschießen können! Hatte sie denn das nicht gesagt? Hatte er ihr nicht bereits einen Eid geschworen?! – Aber nein, das war ja der dumme Traum, in dem sie ihm einen goldenen Dolch ins Herz stieß und nachher sein Blut trank. Aber jetzt hatte er ein ähnliches Gefühl. Sie, das hohe, hehre deutsche Mädchen, trieb mit ihm ein ziemlich unsauberes Spiel! Die Idealistin, die ihm Egoismus und Materialismus vorwarf, benutzte seine heiligsten Gefühle, um ihn politisch einzufangen. Fast vermochte er an so viel Durchtriebenheit nicht zu glauben.

Sein plötzlicher Haß gegen Gisela Zenk wurde durch ein beißendes Gefühl der Scham und Zerknirschung abgeschwächt. Er war kein Mann, sich von einem Weib so betören zu lassen, aber sie? – Sie wußte, was sie wollte! Sie arbeitete zäh und zielbewußt an einer Idee, wobei sie kein Mittel scheute und er – er hatte nur an sich selbst gedacht, der Erreichung seines persönlichen Vorteils hätte er beinahe seine politische Idee geopfert. Seine politische Idee? – Hatte er denn noch eine? Hatte er überhaupt jemals ein klares politisches Ziel besessen? Was er dafür gehalten, war hier in zehn Wochen harter Arbeit zerrieben und zermahlen worden, zeigte sich heute als ein geistloser Schemen.

Der kleine Küpper machte sich in seiner Nähe mit dem Staubtuch zu schaffen. «Eben sind Herr Nabert, Herr Peikchen und Herr Fuchsius gegangen. Sie sind antelefoniert worden, ich weiß auch, wo sie hin sind», sagte er wichtigtuerisch, «die Einwohnerwehr ist alarmiert worden!»

Also das war es! Dann mußten wohl doch ernstere Dinge sich ereignet haben. Was würden die nächsten Stunden bringen?

Gegen zehn Uhr begann plötzlich die Feuersirene zu heulen.

«Zweimal kurz, einmal lang, genau so wie bei Fliegergefahr im Kriege, das bedeutet eine Arbeiterversammlung hier auf dem Hofe», bemerkte Kraft.

Ein Meister aus dem Preßwerk stürzte aufgeregt herein.

«Was das Signal bedeutet? Generalstreik! Vor fünf Minuten traf die Nachricht ein, daß die Regierung gestürzt und der Generalstreik erklärt ist!»

Draußen auf dem Platz kamen schon die ersten Arbeiter heran. Die Heizer rissen die Feuer unter den Kesseln hervor, minutenlang kreischend hauchte der Dampf aus den geöffneten Ventilen seine letzte Kraft aus. Die Männer an den Glühöfen sperrten die Gaszufuhr ab, der Elektriker in der Zentrale schaltete den Strom aus. Das ewige Donnern und Poltern in den Walzhallen erstarb in einem lang nachhallenden Seufzer: das Stahlwerk stand still!

Und immer neue Scharen schweiß- und rußbedeckter Männer strömten aus den Hallen herbei, füllten den großen Platz am Eingang der Fabrik. Im Verwaltungsgebäude legten die Angestellten die Federn hin, um von den Fenstern aus den Aufmarsch der Belegschaft zu beobachten. Von diesen ruhig und gemessen aufmarschierenden Kolonnen ging ein Strom von Kraft und Machtbewußtsein aus, vor der das anfänglich höhnischüberlegene Grinsen auf einzelnen Gesichtern der Angestellten schnell erstarb.

Der Platz zwischen Verwaltungsgebäude, Laboratorium und Fabriktor glich jetzt einem wogenden Meer von Köpfen. Auf einer Mauerecke faßte ein Redner Posten. Hell beschien die Sonne sein langes, blondes Haupthaar; es war Max Grothe, der den Inhalt eines Telefongesprächs mitteilte. Da er abgewendet sprach, konnte man an den Fenstern des Laboratoriums nur Bruchstücke seiner Ausführungen verstehen, bis durch die Menschenmassen hindurch ein Ruf aufgellte und von den Mauern widerhallte:

«Nieder mit der Kappregierung! Hoch der Generalstreik! – Runterkommen! – Schluß machen! – Generalstreik!»

Die Arbeiter winkten jetzt zu den Fenstern der Angestellten empor. Einige, die durchaus nicht weichen wollten, wurden von den Abteilungsvorstehern hinauskomplimentiert. Die Arbeiter verstanden keinen Spaß! Militärisch in Viererreihen geordnet setzte sich die gewaltige Kolonne zum Tor hinaus in Bewegung, Von links her sah man den zweitausend Köpfe starken Zug der Zeche «Hasdrubal II» heranmarschieren; als man bei der «Berg- und Hüttengesellschaft Deutsche Erde» um die Ecke kam, begrüßten die dort angetretenen Kumpels und Hüttenarbeiter sie mit brausendem Gesang: ‹

«Wacht auf, Verdammte dieser Erde, Die stets man noch zum Hungern zwingt.»

Das Gewerkschaftssekretariat im Swertruper Volkshaus wurde schon seit frühem Morgen von Arbeiterräten und Abgesandten der Zechen und Werke um Auskunft bestürmt. Unaufhörlich schrillte das Telefon.

Reese saß seit acht Uhr an einem anderen Apparat und versuchte unausgesetzt Verbindung mit Berlin zu erhalten. Immer wieder kam der lakonische Bescheid: «Die Verbindung kann nicht hergestellt werden!»

«Da muß etwas los sein!» sagte er, sich den Schweiß abwischend, zu den hinter ihm stehenden Vertrauensleuten.

«Ohne genauen Bescheid darf ich zu meinen Leuten nicht zurückkommen», sagte der Arbeiterrat Karplus vom Flaschnerwerk.

Die Tür wurde heftig aufgerissen. «Auf dem Rathaus wissen sie auch noch nichts», polterte Oversath herein.

«Na, das ist ja merkwürdig, dabei hat die Einwohnerwehr soeben auf dem Rathausbalkon Maschinengewehre eingebaut», sagte Ruckers, der ihm auf dem Fuße folgte.

«Davon hat mir der Bürgermeister nichts gesagt, ich ging allerdings hinten heraus», bemerkte Oversath bestürzt.

«Die Einwohnerwehr ist seit heute früh alarmiert, aber uns Sozialdemokraten hat man nicht gerufen. Als ich mit meinem Ausweis Eintritt verlangte, wurde ich barsch zurückgewiesen», schimpfte ein anderer Arbeiter.

«Der Livenkuhl ist ein Jesuit! Der weiß mehr als wir!» rief Karplus.

«Da geht sicher was vor», bemerkte Reese mit Nachdruck.

Wieder schrillte das Telefon. Vom Walzblechwerk kam die Nachricht, daß die Belegschaft nach der Frühstückspause in der Kantine der weiteren Dinge harre.

«Haltet eure Leute beieinander, wir geben Nachricht, sowie wir welche haben», rief Reese in den Apparat und hängte den Hörer wieder an.

Immer mehr Leute drängten herein. Als man schließlich die Tür sperrte, sammelten sich auf Flur und Treppen diskutierende Gruppen an. Mühsam nur gelang es dem Kommunisten Kösfeld, sich durch die Menge bis oben durchzuarbeiten, da jeder was von ihm wissen wollte. «Genossen, man betrügt uns», keuchte der kleine Mann. «In Berlin haben Kapp und Ehrhardt die Regierung gestürzt! Die Regierung ist geflüchtet und hat zum Generalstreik aufgerufen. Der Livenkuhl, dieser verdammte Halunke, weiß schon seit heute früh amtlich Bescheid, verheimlichte es aber und weigert sich auch, den Streikaufruf drucken zu lassen. Und ihr sitzt hier so seelenruhig beisammen und laßt euch das gefallen?»

In diesem Augenblick läutete abermals der Apparat. Kösfeld meldete sich.

«Hier Gewerkschaftssekretariat Swertrup! – Aha, na endlich!»

Alles hing gespannt an Reeses Mienenspiel. Sein Gesicht wurde noch um einen Schein blasser, während er die Stichworte wiederholte:

«Marinebrigaden Löwenfeld und Ehrhardt – Regierungsgebäude ohne Widerstand besetzt – Reichswehr übergetreten – Sicherheitswehr teils für Kapp, teils neutral – Regierung zum Generalstreik aufgerufen – Widerstand mit allen Mitteln organisieren!»

Bedächtig legte er den Hörer wieder auf. «Das Gespräch kam eben von Düsseldorf. Also es ist richtig, wir müssen den sofortigen Generalstreik organisieren.» Hilfesuchend sah er sich im Kreise um.

«Am besten wird es sein, wir bilden hier gleich eine Art Aktionsausschuß oder so was Ähnliches», setzte er unsicher hinzu.

Ruckers konnte sich einer bitteren Bemerkung nicht enthalten:

«Sehr richtig, sehr richtig! Jetzt, wo eure oberschlauen Genossen den Karren in den Dreck gefahren haben, können wir Proleten ihn wieder herausziehen. Wo hat denn nun euer Noske seine Brigaden, mit denen er uns voriges Jahr so schön entwaffnen konnte, he?»

Die meisten Anwesenden stimmten unter höhnischen Bemerkungen lebhaft zu. Die anderen schwiegen beklommen, und nur Reese stammelte etwas von ungeeignetem Moment, jetzt nach den Schuldigen zu fahnden. Jetzt müsse endlich der Bruderzwist aufhören und die gesamte Arbeiterschaft zusammenstehen.

«Vor Tisch hörte man es anders», rief Karplus. «Da hieß es nur immer: Der Feind steht links! Gegen uns habt ihr immer Kanonen gehabt. Uns habt ihr entwaffnet und die Konterrevolution großgepäppelt. Jetzt soll eure famose Regierung auch sehen, wie sie allein fertig wird, ich rühre keinen Finger!»

«Nicht doch, nicht doch», lenkte Ruckers ein. «Hier geht es ja um mehr als um die Republik, Genossen. Hier geht es um uns selbst. Denn wenn diese Gesellschaft wieder obenauf kommt, dann wird es uns so ergehen wie den ungarischen Arbeitern. Wir müssen jetzt den Widerstand mit allen Mitteln organisieren und die Abrechnung auf später vertagen.»

«Das meine ich auch», sagte Reese, «und was die Abrechnung anbetrifft, Genossen – mit den Schuldigen in unseren Reihen –, das werden wir schon von uns aus besorgen. Darauf könnt ihr euch fest und heilig verlassen. Jetzt müssen vor allem die Betriebe und der Verkehr stillgelegt werden.»

«Welche Betriebe fehlen denn noch?» fragte Oversath. Es waren alle da bis auf die Zinkraffinerie.

«Dann schlage ich folgendes vor», sagte Reese, «um zwölf Uhr eine Volksversammlung auf dem Hindenburgmarkt. Genosse Karplus geht sofort zur Zinkraffinerie und informiert die Kollegen, die vielleicht noch nicht ausgeschlafen haben. Die anderen Betriebe und Zechen informieren wir telefonisch: alles sofort ausfahren und stilllegen! Und dann geschlossen zur Versammlung marschieren. Wir aber konstituieren uns hier inzwischen als provisorische Streikleitung. Bis zwölf Uhr haben wir noch annähernd zweieinhalb Stunden Zeit.»

«Bei der Versammlung muß aber von uns auch einer sprechen», knurrte Kösfeld. «Selbstverständlich, von jeder Partei einer», pflichtete Reese bei.

«Und alles Trennende beiseitelassen», setzte Oversath hinzu.

«Aber vorher müssen wir hier erst mal in Swertrup nach dem Rechten sehen», rief Ruckers.

«Das Rathaus übernehme ich. Du, Genosse Ruckers, kannst...»

«Ich gehe mit dir, Genosse Reese», sagte Ruckers entschieden.

«Ich dachte, du könntest die Post...» «Die Post mache ich», rief der Betriebsrat von «Deutsche Erde».

«Ich gehe zur Eisenbahn, die ist besonders wichtig» sagte Oversath.

«Und ich zum Straßenbahndepot», schaltete sich Kösfeld ein.

Die Generalstreiklawine rollte! Soeben begann das Geheul der Alarmsirenen und Dampfpfeifen.