BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1891 - 1972

 

Brennende Ruhr.

Ein Roman aus dem Kapp-Putsch

 

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10. Kapitel

 

Ein vollendeter Generalstreik – wenn nicht nur alle Betriebs- und Verkehrsmittel ruhen, sondern auch keine Zeitung erscheint, die Post ausbleibt, Theater und große Geschäfte geschlossen bleiben, Licht- und Wasserzufuhr abgestellt werden – verändert schon rein äußerlich das Gesicht einer Stadt. Wie viel mehr aber erst im Industriegebiet, wo sonst die Erde Tag und Nacht vom Pulsschlag der Werke vibriert, wo es in den Wänden ständig knistert und knackt von der Arbeit der vielen Tausend unterirdischer Maulwürfe, die ihre Gänge kreuz und quer unter der Erde wühlen.

Die Swertruper Schlote hatten ihr Rauchspeien eingestellt, und Sturm und Regen der Nacht hatten ein übriges zur Luftreinigung getan, so daß ein strahlendheller Frühlingsmorgen dem ersten Tag nach dem Kapp-Putsch folgte.

Es war ein Sonntag, und wie gewöhnlich läuteten seit früh sechs Uhr die Glocken. Die Stellvertreter Gottes waren die einzigen, die den Generalstreik nicht beachteten. Die Mehrzahl der sonstigen Kirchenbesucher zog es heute in die Streiklokale, zum Volkshaus und auf die Straßen der inneren Stadt, wo neue Nachrichten vom Stand der Bewegung zu erwarten waren. Während die Hausfrauen, die sonst einen ewigen Kleinkrieg mit den Rußflocken kämpften, schnell frische Gardinen an die Fenster steckten, trafen sich die Männer mit Kollegen und Bekannten.

Nach der strengen Überstundenschufterei war die Ruhe des Generalstreiks etwas unerwartet über die Kumpels gekommen. Das Stummelpfeifchen im Munde, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, sah man die geschwärzten muskulösen Gestalten überall umherbummeln. Fröhlich blinzelten die der Tageshelle ungewöhnten Augen einander an.

«Tag, Jupp – na?» – «Tag, Florian – na?»

Die in den engen Stollen zusammengeduckten Körper reckten sich kraftvoll, und die kohlenstauberfüllten Lungen sogen tief die würzige Frühlingsluft ein.

Wenn sonst der Bergmann frühmorgens noch schlaftrunken zur Grube torkelte, rötete sich eben erst der Horizont. Und wenn er am Spätnachmittag wieder zu Tage fuhr, war die Sonne bereits wieder fort, als sei sie nie dagewesen. Hatte er aber Nachtschicht, so schlief er am Tage, so daß er die Sonne eigentlich nur am Sonntag zu sehen bekam, – vorausgesetzt natürlich, daß sie überhaupt schien.

Jetzt aber lagen alle Dinge herum wie in flüssiges Gold getaucht. Und der Kumpel war frei! Keine Zechensirene regelte mehr seine harte Fron.

«Wir haben Zeit, seht, so viel Zeit!» bekundeten jetzt seine absichtlich lässigen Bewegungen.

So viele hatte man sonst, wo immer ein Teil an der Arbeit, der andere am Schlafen war, nie beieinander gesehen. Jetzt waren alle zu Tage gefahren und bewunderten, wie weiland die Sklaven Roms, ihre große Zahl.

Da hatte man wohl mal ein Wörtchen mitzureden, wenn die Herrschaften sich über das Regieren nicht einig wurden. Niederschlagung der Kappisten – Bestrafung aller Schuldigen – Reinigung der Reichswehr, Polizei und Behörden von allen reaktionären Elementen – gut! Aber hoho, der Kumpel war auch noch da! Diese Mißwirtschaft hier im «Pütt» durfte so nicht weitergehen. Statt Überschichten-her mit der viermal Sechsstundenschicht, dann gab es auch Kohlen genug! Her mit Erhöhung der Löhne und Verbesserung der Anlagen! Die Gewinne der Kohlenbarone mußten anständig beschnitten werden. Wo blieb die angekündigte Sozialisierung? Wir verlangen das uneingeschränkte Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte!»

Beim reaktionären Bürgertum herrschte Entsetzen. Die Arbeiter streikten nicht nur, sie hatten sogar wieder Waffen in den Händen. Wo sollte das hinaus?

«So geht das unter keinen Umständen weiter, meine Herren», sagte Bürgermeister Livenkuhl zu einigen Mitgliedern des Aktionsausschusses. «Beim Bahnhof haben Sie ja gestern noch mal Glück gehabt, und auch in der Nacht beim Gefängnis, und als Sie die Waffen bei den Mitgliedern der Einwohnerwehr und den Krieger- und Schützenvereinen wegholten. Aber jetzt ist Vorsorge getroffen, daß sich das nicht wiederholt! Die Einwohnerwehr ist – das habe ich Ihnen schon mal gesagt – neutral, und um ein übriges zu tun, lasse ich unsere städtische Polizei Dienst in Zivil tun. Demonstrieren Sie, soviel Sie wollen! Greifen Sie aber das Rathaus, die Post oder den Schlachthof an, so lasse ich unweigerlich schießen – darauf können Sie sich verlassen.»

«Aber nicht doch, nicht doch, Herr Bürgermeister, wir tun ja auch keinem was», sagte Jeitner gemütlich.

«Was da passiert ist, geschah ohne unsere Veranlassung durch die Arbeiter selbst, von wegen die Parität.»

Livenkuhls Schmiß lief feuerrot an. «Parität? – Was soll denn das heißen, Herr Stadtrat?»

«Ich will es Ihnen sagen», brauste der Straßenbahner Schmidt auf. «Ihrem Neutralitätsversprechen glaubt kein Mensch. Warum haben Sie denn die paar Arbeiter, die wirklich in der Einwohnerwehr sind, nicht mit einbezogen? Und warum haben Ihre Leute gestern an der Post den schwarzweißroten Lappen gehißt? Warum erklären Sie sich nicht eindeutig für die Regierung Ebert-Bauer?»

«Meine Herren, ich muß doch bitten, sich nicht unnütz aufzuregen. Meine Stellung ist eine sozusagen unpolitische. Ich sorge, wie es meine Pflicht ist, für das Wohl der Stadt, weshalb ich ja auch mit Ihnen zusammenarbeiten will. Alles andere kümmert mich nicht», antwortete das Stadtoberhaupt würdevoll.

«Das wird man sich merken, Herr Bürgermeister, für den Fall, wenn die alte Regierung wieder das Heft fest in Händen hat, wie Sie als Beamter – der den Treueid geleistet – laviert haben», schrie Oversath.

Am Vormittag erschien an den Straßenecken Swertrups folgender Anschlag:

 

Arbeiter! Kampfgenossen!

Die Abwehrfront gegen die frechen Staatsstreichgelüste der Kapp-Lüttwitz steht im ganzen Reiche unerschütterlich. Der aus den Reihen der organisierten Arbeiterschaft gebildete Vollzugsrat hat für Swertrup und Umgebung die Leitung der Aktion und gleichzeitig die öffentliche Gewalt bis zur endgültigen Liquidierung des Putsches übernommen. Allen Anordnungen der mit gestempelten Ausweisen resp. Armbinden versehenen Mitglieder bzw. Beauftragten ist unbedingt Folge zu leisten.

Verboten ist der Alkoholverkauf jeglicher Art, das Offenhalten der Läden nach Einbruch der Dunkelheit, das Hamstern, Zurückhalten oder Aufschlagen von Lebensmitteln, der Verkehr mit Kraftwagen sowie eigenmächtiger Waffenbesitz. Waffen und Munition jeder Art sind bis spätestens Montag vormittag 9 Uhr im Volkshaus abzugeben.

Swertrup, den 14. März 1920.

Für den Aktionsausschuß: Jeitner Reese, Kösfeld

 

Es war bewunderungswürdig, wie die Arbeiterschaft überall instinktiv gleichmäßig, ohne erst vorher miteinander in Fühlung zu treten, auf den Staatsstreich reagierte. Der Generalstreik war allgemein! Überall hatten sich Aktionsausschüsse oder Vollzugsräte gebildet und die örtliche Macht in die Hand genommen. Die verhaßte Polizei und die noch weniger beliebte Einwohnerwehr hatte man in vielen Orten bereits mühelos entwaffnet. Alles schrie nach Waffen, denn jeder fühlte mit richtigem Instinkt, daß auch blutige Auseinandersetzungen mit den Machtmitteln der Kappisten unvermeidlich seien.

Die gesamte grüne Polizei des Bezirks war in Essen zusammen-gezogen. In Dortmund stand das Freikorps Lichtschlag, in Mülheim das Freikorps Schulz; in Duisburg, Düsseldorf, Remscheid, Wesel, überall lagen große Reichswehr- und Sipoverbände, von denen keiner eine unzweideutige Erklärung gegen Kapp abgegeben hatte.

Fortwährend verstärkten sich diese Formationen durch Einwohner-wehr und Zeitfreiwillige, offenbar nur mit dem Ziel, die gegen die Kappisten vorgehende Arbeiterschaft im Zaum zu halten.

Bei gespenstischem Kerzenlicht nahm der Swertruper Aktions-ausschuß zu der ernsten Lage Stellung. Als Jeitner den Inhalt der Vormittagsunterredung mit dem Stadtoberhaupt mitteilte, herrschte allgemein große Empörung.

«Die Einwohnerwehr muß noch heute nacht entwaffnet werden» – darüber gab es nur eine Meinung.

«Wir müssen ein Ultimatum stellen; wenn sie es ablehnen, wenden wir Gewalt an. Wie steht es denn mit den Waffen, Genosse Ruckers?» rief Schmidt.

Ruckers kratzte sich mit bedenklicher Miene am Kopf. «Wir haben alles in allem siebenundneunzig Gewehre und Karabiner und ein leichtes Maschinengewehr mit insgesamt zirka achttausend Schuß. Dazu kommen siebzehn alte einundsiebziger Gewehre mit zweihundert Patronen, die wir den Kriegervereinen abnahmen. Ferner einige fünfzig Pistolen, dreihundert Handgranaten und dann noch einige Jagd- und Scheibenflinten, die aber wenig taugen.»

Allgemeines Erstaunen.

«Was, so viel?» –

«Also los doch denn, auf was warten wir noch?»

«Nicht so hitzig, Kinder, ihr werdet euch noch früh genug die Schädel einrennen. Warum Blutvergießen, wenn es auch ohnedem geht? Wartet noch diese Nacht ab. Ich habe etwas unternommen – was, kann ich natürlich noch nicht sagen, sonst weiß es gleich der ganze ‹Pütt›, und es wird unwirksam. Ich hoffe, bis morgen früh alles in unserer Hand zu haben.»

«Warum bloß so viele Fisimatenten? Unsere Kumpels brennen darauf, diesen Kerlen in die Schmerbäuche zu treten», rief der Hauer Felgentreu tatenlustig.

In diesem Augenblick stürmte ein junger Bursche in den Saal.

«Genosse Ruckers soll sofort zum Rathaus kommen, bei der Einwohnerwehr geht was vor», rief er schon von der Tür aus.

«Aha! Seht ihr, Genossen, der Ball rollt schon, also geduldet euch noch etwas. – Grothe, zur Linden, kommt», rief der Alte, seinen Hut aufstülpend.

Das Swertruper Rathaus, das der Einwohnerwehr als Hauptquartier diente, war ein neueres Gebäude und lag etwas abseits, nach allen Seiten frei stehend, inmitten eines mit Anlagen versehenen Platzes. Die beiden Seitenflügel und das Hauptgebäude umschlossen einen rechteckigen Hof, dessen vierte Front durch einen schmiedeeisernen Zaun nach der Straße hin abgegrenzt wurde.

Dieser Hof glich in der Nacht vom 14. zum 15. März einem aufge-stöberten Ameisenhaufen. Beim dürftigen Schein einiger Karbidlampen sah man dunkle Gestalten mit drohenden Gewehrläufen und verwegenen Stahlhelmen erregt durcheinander laufen. Fiel einmal ein Lichtstrahl unmittelbar in die Gesichter, so erblickte man unter den Stahlhelmen die nichts weniger als kriegerischen Züge angsterfüllter Spießbürger.

Wohin war der noch am Sonnabend so hochgeschwollene Bürger-mut entschwunden? – Da hatte man noch das Gefühl der Überlegenheit; man war ja bewaffnet bis an die Zähne, und die Proleten hatten – Gott und Noske sei Dank – nichts als ihre dreckigen Flossen. Reichlich gespendetes Bier, Kognak, Zigarren, Schokolade und Fleischkonserven bestärkten den Willen, auszuhalten, bis Truppen kommen und Ordnung schaffen würden. Aber die unerwartete Überrumpelung der Bahnhofswache und die Entwaffnung der Bürgerhäuser hatte einen jähen Gesinnungsumschwung herbeigeführt. Am Sonntag früh trat nur noch die Hälfte der zur Ablösung befohlenen Leute an. Alle Augenblicke erbat einer unter allen möglichen Ausreden ein paar Minuten Urlaub, ohne wiederzukommen. Diejenigen aber, die wirklich wiederkamen, vermehrten nur durch die aus der Stadt mitgebrachten Gerüchte die Panikstimmung.

Daß die Arbeiter jetzt schon eine ganze Menge Waffen hatten, das konnte man ja an den eigenen Verlusten feststellen. Aber die ausgesandten Kundschafter wußten die unglaublichsten Dinge über geheime Waffenlager der Roten zu berichten. Überall sprachen die Kumpels mit geheimnisvollem Augenzwinkern von «schweren Brocken», die instand gesetzt werden und womit man das Rathaus zusammenballern würde. «Unsinn», hatte der Major a. D. Ingenieur Neuhaus, der das Kommando führte, zuerst gesagt, aber die immer wieder eintreffenden Nachrichten hatten auch ihn schließlich nervös gemacht.

Als in der siebenten Abendstunde ein Gymnasiast die bestimmte Nachricht brachte, daß auf dem Hofe eines Hauses in der Rheinstraße ein Dutzend Maschinengewehre ständen, beauftragte Neuhaus seinen Schwiegersohn, Obersteiger Döhring, sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen. Als Kumpel verkleidet, den Schlapphut tief im Gesicht, gelang es diesem auch, bei Einbruch der Dämmerung unauffällig auf besagten Hof zu gelangen, wo die Arbeiter ganz ungeniert an einem leichten Maschinengewehr herumbastelten, während unter einer Plane die Läufe von zwei weiteren hervorlugten. Das sagte genug! Die Arbeiter hatten massenhaft Waffen und bereiteten sich – wie er ebenfalls hörte – auf einen Sturm vor.

Unglücklicherweise befand sich, als er seine Meldung machte, gerade der stellvertretende Wehrführer Gutknecht im Zimmer.

«Um Gottes willen, nichts unseren Leuten sagen, – die sind schon ganz kopfscheu», sagte Neuhaus, aber es war schon zu spät.

«Meinen Sie denn, die wissen nicht bereits, was gespielt wird», rief der Engrosschlächtermeister aufgebracht. «Die ganze Stadt weiß es, daß die Arbeiter massenhaft Gewehre, Maschinengewehre, Geschütze und schwere Minenwerfer haben. Bloß Sie wissen das nicht oder stellen sich so und stürzen damit Familienväter ins Unglück. Wir sitzen doch hier wie in einer Falle, das müßt ihr doch sehen! Was können wir paar Mann denn machen, wenn die von draußen mit Minen hereinschießen? Haben Sie schon mal eine Abbildung gesehen, wie eine Mine in ein Haus einschlägt? Vom Boden bis zum Keller geht sie durch. Nein, nein!» brüllte er, als Döhring ihn am Arm halten wollte, «das geht zu weit, das muß ich den Herren unten sagen», und raus war er. Auf dem Hof war inzwischen der Tumult immer größer geworden. Am aufgeregtesten war der Drogist Dobberstein, der mit der einen Hand seine schluchzende Frau, mit der anderen das Gewehr hielt.

«Ich bin gewiß ein patriotischer Mann», rief er mit halberstickter Stimme, «aber das kann man von mir nicht verlangen, daß ich hier herumsitze, während man meine Wohnung und mein Geschäft zerstört, ja, vielleicht meine Familie ermordet. Warum sind wir in der Einwohnerwehr? Um unser Eigentum, um uns selbst zu schützen. Mein Eigentum ist aber nicht auf dem Rathaus, sondern in der Kronprinzenstraße. Wenn ich dahin gehe, kann mir das wohl niemand als Feigheit auslegen.» «Da hat Kamrad Dobberstein vollkommen recht», pflichtete Kaufhausbesitzer Gerstenberg bei. «Die Arbeiter wissen ganz genau, wer bei der Einwohnerwehr ist. Da halten sie sich eben an das, was uns das Höchste und Heiligste ist. Hören Sie nur, was sie Herrn Dobberstein für einen Brief geschrieben haben:

‹Herrn Traugott Dobberstein!

Wenn Sie nicht sofort die gegen uns erhobenen Waffen niederlegen, werden Sie in der Kronprinzenstraße mal etwas erleben, was Sie ewig gereuen wird.›»

«Herr des Himmels», rief Oberpostsekretär Liepel erbleichend, – «aber vielleicht ist es nur eine leere Drohung?»

«Sie haben gut reden, Sie haben kein Geschäft wie ich, das man plündern kann», fauchte Dobberstein.

«Aber unsere Wohnungen und Familien sind ebenso schutzlos», riefen einige andere.

«Wir sind verraten und verloren», rief Gutknecht mit vor Angst aus dem Kopf getretenen Augen dazwischen. «Meine Herren, es hat keinen Zweck mehr, hierzubleiben! – Die Arbeiter greifen uns diese Nacht noch an. – Bestimmt, sag' ich Ihnen! – Herr Döhring kam eben von Kundschaft zurück. Ich hab' es selbst gehört, was er sagte. Waffen über Waffen haben die Arbeiter. Ein Hof in der Rheinstraße – da stand alles voll schwerer Maschinengewehre. – Aber der Neuhaus – ich soll's Ihnen nicht sagen, ich sag's aber doch.»

«Jesus, Maria und Joseph! O meine armen Kinder», heulte der dicke Restaurateur Koch laut auf.

Bitte um Ruhe, Kameraden», rief der Wehrführer, der dem Schlächtermeister auf dem Fuße gefolgt war, von der Treppe herab.

Ruhe, zum Donnerwetter, Ruhe! Sag' ich nochmals. – Meine Herren, wenn Sie meinen Befehlen nicht nachkommen, muß ich jede Verant-wortung ablehnen!»

«Das sieht Ihnen ähnlich! Verantwortung ablehnen», brüllte Dobberstein, erregt auf ihn eindringend. «Wir brauchen Ihre Befehle nicht mehr, Herr Neuhaus. Kommandieren Sie meinetwegen Rekruten, aber keine mündigen Bürger, Sie – Sie – Sie Kommißstiebel, Sie! Wir lassen uns nicht länger mißbrauchen. Für Sicherheit des Eigentums sind wir da, nicht für Ihre Kapp und Itzen-plitze. Wo bleiben die denn, heh? Wir sitzen schon den zweiten Tag hier, wie in der Falle, und derweilen wird unser Eigentum geplündert, unsere Familie ermordet. Und dann kommen wir an die Reihe! Oder wollen Sie mit Ihren sechs Maschinengewehren gegen Hunderte und gegen Minenwerfer kämpfen? Soviel verstehe ich auch vom Krieg, wenn ich auch kein Major a. D., sondern nur Unteroffizier der Landwehr bin. Ich bin dafür, daß der nutzlose Widerstand aufgegeben und daß man sofort in Verhandlungen mit dem Aktionsausschuß der Arbeiter eintritt, ehe geschossen wird.»

«Bravo!» – «Jawohl, Herr Dobberstein hat recht!» – «Aber schnell muß das sein», riefen die Bürger durcheinander.

«Schuld an allem hat nur Herr Livenkuhl, der die Arbeiter provozierte», rief eine Stimme.

«Jawohl, der Bürgermeister, und jetzt ist er verschwunden», antwortete es von mehreren Seiten.

«Warum stellen wir uns überhaupt gegen die Arbeiter? Leben wir nicht von ihnen? Unser Schaden ist schon groß genug. Wer garantiert mir, daß meine Kunden nun nicht zu den Juden gehen, weil der Ger-stenberg auch im Rathaus mit dabei war», sagte der Kaufhausbesitzer. «Wählen wir also eine Kommission!»

«Eine Kommission!» – Neuhaus sah sich beiseite geschoben, aber die Wahl der Kommission machte Schwierigkeiten. Keiner wollte dabeisein. Jeder fürchtete sich, schutzlos in das unheimliche nächtliche Dunkel hinauszutreten.

«Ja, meine Herren, wollen Sie warten, bis man uns hier zusammenschießt? Dann gehe ich allein, das heißt: Einer wenigstens muß noch mitkommen», sagte der Drogist.

«Nein, du nicht, Traugott, warum denn gerade du, es sind ja genug andere da, denk doch an uns», jammerte seine Frau, ihn umschlingend.

«Verhandeln können wir ja auch gleich hier! Legen Sie sofort alle Waffen nieder, gehen Sie nach Hause und machen Sie nicht wieder solche Dummheiten, ein andermal lassen wir uns auf nichts ein», rief eine tiefe Stimme von hinten dazwischen. In den Lichtkreis der Laterne traten einige Arbeiter, die auf unerklärliche Weise hereingekommen waren.

«Ach, Herr Ruckers! Sie sind doch mit im Aktionsausschuß, Herr Ruckers, nicht wahr? – Aber wie sind Sie denn hereingekommen», fragte Gerstenberg, den Bergmann erkennend.

«Nun, durch die Türe», sagte Ruckers, gemütsruhig seine geliebte Stummelpfeife stopfend. In der Tat stand die rechte Tür sperrangelweit offen, die ausgestellten Posten befanden sich inmitten der diskutierenden Gruppe. Wo über ihr Schicksal entschieden wurde, mußten sie doch auch dabeisein. Wenige Minuten später lag unter der Freitreppe ein phantastischer Haufen von Gewehren, Stahlhelmen und Armbinden, und an Stelle der spurlos verschwundenen Bürger erfüllten Arbeiter den Rathaushof.

«So, das hätten wir ja krumm», schmunzelte Ruckers, «nun aber an die Arbeit! – Genosse Einzel!»

Ein blonder Hüne mit einem hübschen Knabengesicht sprang vor und knallte militärisch die Absätze zusammen.

«Herr Oberst befehlen?»

«Ach, laß die Dummheiten sein! Also du machst sofort alle Türen zu, stellst doppelte Posten und siehst dir die Maschinengewehre an, dann meldest du dich wieder bei mir! Zur Linden geht sofort zum Aktionsausschuß Meldung machen, damit die auch 'ne Freude haben. Wo ist der Büchsenmacher? Also, Hofrichter, du registrierst alle Waffen und Munition und schaffst sie zur Neuverteilung in die Vorhalle. Mende sortiert den Proviant. Daß keiner sich selbständig ein Stück aneignet! Und wir beide wollen uns inzwischen mal das Stabszimmer ansehen.»

«Na, schlecht haben die ja nicht gelebt», sagte Grothe, als sie den im ersten Stock befindlichen Raum betraten. Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe, daneben lagen Stadtpläne mit Einzeichnungen und Listen sowie angebrochene Büchsen mit Schweinefleisch und Eingemachtem und Schokolade; ein Kästchen mit feinen Importzigarren und eine halb geleerte Kognakflasche standen daneben. Anscheinend war der Kommandeur gerade beim Abendessen gestört worden. «Die Stellung wird behauptet», lachte Ruckers, sich in einen Klubsessel werfend und die Beine von sich streckend; aber ein Ausruf von Grothe, der eine Nebentür aufgestoßen, ließ ihn sofort wieder aufspringen. Kisten mit Fleisch- und Obstkonserven, Zwieback, Spirituosen, Tabak und so weiter waren bis zur halben Zimmerhöhe aufgestapelt. Auf einer Plane in der Ecke lagen wohl dreihundert Kommißbrote. Ganze Säcke mit Grieß, Reis, Graupen und Hülsenfrüchten standen umher.

«Die Herrschaften haben sich anscheinend auf eine längere Belagerung eingerichtet; na, dafür werden unsere Kumpels Dank wissen», schmunzelte Ruckers. «Ich bin dafür, daß wir gleich noch etwas Brot und Fleisch verteilen. Die armen Kerle sind seit heute früh auf den Beinen und haben...»

«Was ist denn das?»

Deutlich ertönte aus dem Nebenzimmer eine Klingel. «Das hört sich ja wie Telefon an. Oder sollte das eine geheime Alarmklingel sein?» fragte Grothe, unwillkürlich in die Gesäßtasche fahrend. Das Läuten kam tatsächlich vom Telefon.

«Die Post ist doch besetzt, und die Beamten streiken!» sagte Ruckers, sich ratlos umschauend.

Wieder läutete der Apparat lang anhaltend. «Wir müssen sehen», rief Grothe entschlossen. – «Hallo?! ... Ja, hier Rathaus! ... Wer ist da? ... Schlachthof? – Ja, hier ist nur sehr schlecht zu verstehen ... Wer am Apparat ist?»...

Grothe legte die Hand auf den Sprechtrichter. «Mensch, was sage ich denn bloß?»

«Sage, hier ist Ingenieur Neuhaus. Warte mal, ich kann seine Stimme besser nachmachen», sagte Ruckers und ergriff den Hörer.

«Hier Neuhaus, wer dort?»

Wie aus dem Jenseits piepte eine matte Stimme: «Hier sind die revolutionären Swertruper Kumpels! Wir haben soeben den Schlachthof besetzt und empfehlen Ihnen dringend, das Rathaus sofort zu räumen, sonst kommen wir hin, und dann könnt ihr was erleben!»

«Mensch, das ist doch Kösfeld», rief Ruckers freudig überrascht. «Hallo, Kösfeld! – Hier Ruckers; wir haben eben das Rathaus überrumpelt. Was ist denn da draußen los?»

«Los ist weiter gar nichts», antwortete die jenseitige Stimme. «Wir beobachteten nur und stiegen, da uns alles so ruhig vorkam, neugierig über die Mauer. Da waren die Brüder alle getürmt. Wir haben zwanzig Gewehre und eine Menge Lebensmittel gefunden. Zufällig fand ich eine Telefoninstruktion, und die hat ja auch geklappt. Das muß eine geheime Leitung sein!»

«Halte den Posten bis auf weiteres besetzt; ich komme selber per Rad raus», sagte Ruckers, den Hörer anhängend.

«Das geht ja wie geölt; nun nur noch die Post», rief Grothe hocherfreut. – «Die sitzen fest, dort kommandiert Direktor Grell, der läßt so leicht nicht locker; da werden wir wohl doch etwas einheizen müssen», knurrte Ruckers verdrießlich.

«Wenn er erfährt, daß wir das andere alles haben, gibt der auch klein bei. Stellen wir ihm ein Ultimatum», sagte Grothe, Papier und Federhalter ergreifend. Und dann schrieb er groß und flüchtig:

 

An die Einwohnerwehrbesatzung

des Postamtes Swertrup.

Rathaus und Schlachthof sind heute nacht, ebenso wie der Bahnhof Swertrup, mit allen Waffen und so weiter in die Hände des revolutionären Sicherheitsausschusses übergegangen, der damit die Verantwortung für Ordnung und Sicherheit übernimmt. Wir fordern Sie hierdurch einmalig auf, die Post sowie die in Ihren Händen befindlichen Waffen, Munition und Proviant an unterzeichneten Ausschuß zu übergeben. Wir stellen Ihnen anheim, sich durch zwei Ihrer Leute, denen freies Geleit zugesichert wird, von der Wahrheit unserer Angaben zu überzeugen. Ist unserer Forderung nicht bis drei Uhr nachts entsprochen, treten unsererseits durchschlagende Argumente, deren uns genügend zur Verfügung stehen, in Aktion. Andererseits wird vollkommen freier Abzug gewährleistet.

Revolutionärer Sicherheitsausschuß.

 

«Du schreibst wie ein General – bloß ein Name müßte noch drunter», meinte Ruckers schmunzelnd.

«Da setz' ich den meinigen drunter; dann freut Grell sich besonders; er hat mich vom Betrieb her in gutem Andenken», lachte Grothe grimmig. Plötzlich fiel ihm noch was ein. «Das Wichtigste beinahe vergessen; bei diesem Hund muß man an alles denken.» Und dann schrieb er folgenden Nachsatz:

 

Für jedes beschädigtes Gewehr wird ein Mitglied der Besatzung zurück-behalten, und ich bin dann nicht in der Lage, für dessen persönliches Wohl-befinden Garantie zu übernehmen. D. O.

 

«Du denkst doch an alles, Junge; wenn wir dich nicht hätten und die großen Kartoffeln», sagte Ruckers und klopfte dem Kampfgenossen auf den Rücken, daß es nur so knallte.

Als sich die Swertruper den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, erfuhren sie zu ihrer Überraschung, daß Rathaus, Schlachthof und Post in der Nacht kampflos von den Arbeitern besetzt worden waren. Rote Plakate, die auch die Übernahme der Exekutivgewalt durch den Aktionsausschuß verkündeten und gleichzeitig für nachmittags drei Uhr eine öffentliche Versammlung auf dem Hindenburgplatz ankündigten, waren bereits angeschlagen. Arbeiterpatrouillen mit umgehängtem Gewehr und roter Armbinde durchzogen die Straßen, zum nicht geringen Schrecken der Spießer, die schleunigst ihre Silber- und Schmuckkästen im Keller vergruben. Zu ihrer größten Überraschung aber ereignete sich nicht das geringste.

Die Arbeiter beseelte ein immer mehr anschwellendes stolzes Kraftgefühl. Man hatte Waffen, sich zu verteidigen, die Möglichkeit, sich damit neue zu beschaffen. Jetzt war man auch hierin der Bürgercanaille über. Ihrer Freude über den unblutigen Sieg gaben sie Ausdruck, indem sie an den Fahnenstangen der Fördertürme rote Fahnen hißten. Im Aktionsausschuß kam es darüber zu einem großen Krach mit Reese, der schärfsten Protest erhob. Der christlich organisierte Bergarbeiter Küpper brachte ihn schließlich mit wenigen Worten zur Vernunft.

«Mir gefällt das auch nicht, ich habe durchaus nichts gegen ein Verbot. Aber dann soll Kollege Reese das auch persönlich auf allen Zechen bekannt machen und sehen, was ihm dabei passiert.»

Da setzte sich Reese schweigend auf seinen Platz. Auch zahlreiche Häuser, sowohl in den Arbeiterkolonien als auch in der Stadt, hatten rot geflaggt. Frau Schapulla, der noch immer der Schreck der Haussuchung in den Gliedern lag, hatte zu diesem Zweck die schöne, vier Meter lange schwarzweißrote Fahne, die seit Lüttich her bei jeder Siegesmeldung zum Giebel heraushing, zerschnitten und rot gehißt. «Wir sind immer für die Arbeiter», sagte sie zu Sukrow, dessen Zimmerfenster infolge des eingeklemmten Fahnenschaftes halb geöffnet bleiben mußte. «Mit den Wölfen muß man heulen», sagte aber Herr Schapulla zu dem klerikalen Schachtmeister Psikorek aus Zimmer vier und nahm zur Frühmesse am anderen Morgen eine dicke Wachskerze für den Altar des heiligen Rochus mit.