BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Max Herrmann-Neiße

1886 - 1941

 

Die bürgerliche Literaturgeschichte

und das Proletariat

 

1922

 

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Die bürgerliche Literaturgeschichte

und das Proletariat

 

Die vorliegende Schrift ist entstanden aus dem Manuskript eines Vortrages, den Max Herrmann (Neiße) am 19. Mai 1922 in einer öffentlichen Volksversammlung der Allgemeinen Arbeiter-Union (politisch-wirtschaftliche Einheitsorganisation) zu Berlin gehalten hat. In der Diskussion, die sich dem Vortrage anschloß, war einmütig der Wunsch geäußert worden, die Ausführungen möchten, belegt durch Material, dem Proletariate gedruckt zugänglich gemacht werden. Den Wunsch erfüllt diese Publikation.

 

Diese Arbeit will versuchen, den Weg freizumachen für eine unbe­dingt vom proletarischen Klassenstandpunkt ausgehende Betrachtung der Literatur. Seine Hauptfrage lautet: Hat das, was in Kunst und Dichtung bisher offiziell als das Verehrungswürdige gepriesen wurde, auch für den klassenbewußten Proletarier Wert? Dabei möchte ich gleich betonen, daß es sich in meinen Ausführungen nicht um eine ästhetische, schöngeistige, formale Kritik handelt, eine solche Wertung müßte sich ja der Maßstäbe der bürgerlichen Kunsttradition bedienen, innerhalb der bürgerlichen Anschauungen bleiben – ich will jedoch eben hier nicht als bürgerlicher Kunstkritiker sprechen, mich nicht an die überkommenen Gesetze und Definitionen halten, sondern die Sache vom Boden des Proletariats aus angreifen. Dazu ist vor allem nötig, daß man sich erst einmal klar wird, wie sehr auch die sogenannten geistigen Dinge Klassenangelegenheiten sind. Denn hier kommt gewöhnlich gleich als erster Einwand der Vorwurf: man zerre völlig Unabhängiges, Erhabnes in den Streit der Meinungen, übertrage ungerecht­fertigterweise den Klassenzwist auf das neutrale Gebiet der Kultur. Kultur sei doch etwas ewig Gültiges, jenseits aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfe, Kunst und Wissenschaft jedem Einfluß der Klasseninteressen entrückt, gewissermaßen in den Wolken schwebend, über der Niederung der zeitlichen Verhältnisse. Nun, eine derartige Kultur hat es noch nie gegeben: solch ein luftiges, nicht zu fassendes Phantom vorzuschieben ist entweder bewußte Lüge einer Klasse, die einen Vorteil davon hat, ihre eigne Kultur für die einzige auszugeben, oder unbewußter Schwindel von Leuten, die mit der Gewohnheit des ihnen Anerzogenen so eins wurden, daß sie gutgläubig für eine Geistigkeit, die ihnen selber vollkommen genügt, als für die beste der ganzen Welt Reklame machen. Solche Leute fabeln viel von einem "einheitlichen, gemeinsamen Ideal", vom "Großen und Schönen", was für alle groß und schön sei, und stellen sich unter ihren pathetischen Worten meist selber nichts Greifbares vor, haben nur so eine vage Ahnung im Gefühl und den angenehmen Kitzel, den jede unverdaute dekorative Phrase in empfänglichen Gemütern erzeugt, und verschanzen sich, in die Enge getrieben, hinter einer ganz unkontrollierbaren Instanz, die sie einfach als höchste unfehlbare annehmen! Mit einem so abstrakten Dinge "Geist" können wir natürlich nichts anfangen, die wir gewöhnt sind, Tatsachen auf den Grund zu gehen und mit den exakten, faßlichen Messungen der materialistischen Anschauung zu untersuchen, und wir können uns auch nicht damit begnügen. – Wir wenden auch zur Erforschung der Kultur die ökonomische Methode an und stellen gegen jede hinfällige Phraseologie den Klassencharakter der Kultur fest! Was man unter Kultur überhaupt zu verstehen hat, läßt sich vielleicht so erklären: Die Stellungnahme zu den Problemen des Lebens innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts, wie sie sich ihren Grundtendenzen nach ausdrückt in wissenschaftlichen, künstlerischen, literarischen Werken und im förmlichen Benehmen zueinander. Kultur der Renaissanzezeit z. B. ist. abzulesen aus der damaligen Literatur, dem damaligen Theater, dem geselligen Leben, den Gebräuchen bei Festen, Spiel und Tanz, der damals geltenden Sittlichkeit, den Formen des Liebeswerbens, der Ehe, den damaligen Schönheitsidealen. Das alles hängt nicht in der Luft, ist nicht isoliert aus sich selbst heraus da, sondern entspricht der wirtschaftlichen Entwicklungshöhe. Und zwar ist Kultur immer der geistige Ausdruck, die Ideologie des Lebensinteresses gerade der herrschenden Klasse des betreffenden Zeitalters: die herrschende Klasse bestimmt den geistigen Horizont, was ihr schädlich ist, wird als Irrglauben, falsche Lehre oder Un-Kunst aus dem Kodex des Erlaubten ausgeschlossen, und sie hat auch am leichtesten die Möglichkeit, sich den Gesamtbesitz des bis dahin Gedachten anzueignen und in ihrem Sinne weiter auszubauen. Vom 18. Jahrhundert etwa an haben wir das bürgerliche Zeitalter. Der Feudalismus als wirtschaftliche Macht war abgelöst vom modernen Kapitalismus, und die Institution des Privateigentums entfaltet sich zu der frechsten Selbstsicherheit. Diese letzten 150 Jahre ungefähr, in denen das Bürgertum die herrschende Klasse ist, haben eine bürgerliche Kultur, die auf der Hochschätzung des Besitzes und der aus dem Besitz resultierenden Macht über Kreaturen und Dinge beruht. Es ist eine Kultur des krassen Egoismusses: Idealfigur ist der erfolgreiche Geschäftsmann, Ziel eines Jeden: sich am gewinnbringendsten als Erraffer von Geld und Ansehen durchzusetzen: es ist eine Kultur ferner des krassen Nationalegoismusses: Ziel, die eigne Nation als die Herrin über die Erträgnisse der ganzen Welt durchzusetzen, d. h. die Ausbeuterklique, die Kapitalistengruppe des eignen Landes zur bevorzugten Gruppe zu machen im Konzern der Ausbeuter der ganzen Welt. Dementsprechend geschieht nun die Handhabung der Wissenschaft im Sinne der bürgerlichen, der kapitalistischen Klassenherrschaft. Der Anspruch auf Unparteilichkeit, den die Wissenschaftler selbst immer so hochtrabend erheben, ist ganz falsch: sie entstammen dem Bereiche der Vorrechtklasse und bleiben ihm mit ihrem Fühlen und Denken verschrieben, auch ihr wissenschaftliches Sehen und Urteilen geht naturgemäß von di, sich von nichts belehren lassen, sich nur immer vor Augen halten: Dort ist die brutale Orgie der Ausbeuter, hier ist meine Entrechtung und Vergewaltigung!, und ohne Rücksicht darauf, ob künstlerische Werte mit kaputt gehen, ungehemmt dreinschlagen, sich selber Recht verschaffen und alle wirtschaftliche und geistige Abhängigkeit zum Teufel jagen. Denn dies ist, auf die knappste Formel gebracht, der Sinn meines. Vortrages: Proletarier, glaube an keine Autorität! Führe deine Sache selbst!

 

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Um die Grundzüge dessen, was ich heute hier geben wollte, kurz ins Gedächtnis zu rufen: Alle Kunst ist nichts außer der Welt Stehendes, sondern Ausdruck bestimmter Klassenempfindungen, die jeweils herrschende, durch den aufdringlichen Apparat der Presse, des Theaters, der Verlegerschaft, die alle drei kapitalistische Institute sind, verbreitete Kunst die der jeweils herrschenden Klasse! Etwas anderes läßt die herrschende Klasse gar nicht legal aufkommen. Die Kunst unserer Zeit ist also die Propaganda – bewußt oder unbewußt – der bürgerlich-kapitalskräftigen Klasse. Das zu verschleiern streuen die, die vom herrschenden System den Nutzen haben, das Gerücht aus: die Kunst sei eine geheiligte, dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System entrückte Angelegenheit. Darauf fallen selbst im Politischen klassenbewußt kämpfende Naturen herein, im Künstlerischen sind die Meisten noch, ohne daß sie's merken, ,,ans Vaterland, ans teure" der Dichter angeschlossen. Diesen Anschluß wollte ich, soweit mir möglich ist, lockern und zerschneiden. Die letzte und am schwersten befestigte Bastion der Bürgerklasse, der kapitalistischen, der durch Eigentum zur Macht gelangten Schicht ist die Kunst. Sie zu sprengen, mit ihr tabula rasa zu machen, bebt mancher sonst gottlose Freie. Der Glaube an die Kunst, die Ehrfurcht vor der Kunst, ist, scheint mir, der letzte und gefährlichste Wahn, dem die Menschen erliegen. Christliche Missionare zertrümmerten einst die altgermanischen Heidengötzen; sich nur auf ihren Verstand verlassende Geister beseitigten die Gespensterwelt der christlichen Gottesdespotie; – nun gilt es, die geistigen Autoritäten und unfehlbaren Kapazitäten der bürgerlich-kapitalistischen, eigentums­egoistischen Gemeinschaft der bürgerlich Gläubigen zu entthronen. Abbau der bürgerlichen Ideologie und Herrlichkeit ist unsere nächstwichtige Aufgabe!