BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Siegfried Keßler

1883 - 1943

 

Berthold Auerbach als Erzieher

 

Text

 

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VII.

Auerbachs Schulpädagogik

 

Auerbach hat kein neues System der Erziehungswissenschaft geschaffen, er gehört nicht zu denen, die der Erziehung gänzlich neue Bahnen gewiesen haben, läßt sich doch ohne große Schwierigkeiten der pädagogische Einfluß seiner bedeutenden Vorgänger und Zeitgenossen deutlich nachweisen. (Rousseau, Pestalozzi, Gotthelf, Diesterweg u. a.) Aber wenn er auch kein pädagogisches Neuland entdeckte, so sind doch manche seiner Gedanken zu tragenden Ideen der Nachfolge geworden, ja, einzelne seiner Probleme sind erst nach ihm zur Tat geworden, andere harren noch heute der Verwirklichung, nicht, weil sie undurchführbar wären, sondern, weil sie so neuartig-umwälzend anmuten, daß sie, wie alle revolutionären Gedanken, erst Zeit und Klärung bedürfen, um zum Allgemeingut werden zu können. Das Bild Auerbachs als Erzieher wäre unvollkommen, wollten wir nicht auch diese Fragen in den Kreis unserer Erörterungen ziehen. Daher sollen im Folgenden seine Auslassungen über die Stätte der Erziehung, Schule und Elternhaus, Erziehungs- und Bildungsmittel, sowie über die reine Wissensbildung näher gewürdigt werden. [46]

Die natürlichste Stätte der Erziehung ist die Familie, in der die Eltern als gleichberechtigte Faktoren ihre heiligste Aufgabe, das Erziehungswerk ihrer Kinder, vollbringen. Es ist naturgemäß, daß den nachhaltigsten Einfluß auf das kindliche Gemüt die Mutter ausübt. Und so nimmt es uns kein Wunder, daß Auerbach in einer Reihe von Idealgestalten solche Mütter zeigt, die als Muster edler Weiblichkeit ein leuchtendes Vorbild ihrer Kinder sind. Manchmal ist es auch die erfahrene Großmutter, die sich liebevoll der Enkelkinder annimmt. Im „Lauterbacher“ besteht ein inniges Verhältnis zwischen der Großmutter Maurita und ihrer Enkelin Hedwig, der späteren Frau des Lehrers. Ivos Mutter hängt mit größter Liebe an ihrem einzigen Sohne, der seiner Mutter in gleicher Liebe zugetan ist. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Personen ist vielleicht das schönste in allen Dorfgeschichten; ihr Verkehr ist überaus anziehend und lebenswahr geschildert. Es ist ein Abglanz des Verhältnisses Auerbachs zu seiner eigenen Mutter, die der Dichter überaus verehrte. Ihr verdankt er auch, ähnlich wie Goethe der Frau Rat, sein Erzählertalent. 124) Ähnliche Gestalten sind: Walpurga (Auf der Höhe), Moni, Magdalena (Nest an der Bahn) usw. „Voll heiligen Geheimnisses ist jener erste Blick der Mutter auf ihr Kind. An meinem Geburtstage ist das erste, was vor meiner denkbaren Erinnerung steht, das Bild meiner Mutter. Wie freute es mich, als ich erfuhr, daß auch der alemannische Dichter Hebel das Andenken seiner Mutter nicht an ihrem Todestage, sondern an seinem Geburtstage feierte. 125)

Als erfahrener Erzieher weiß Auerbach, daß der Erfolg des Erziehungswerkes nur dann in vollem Maße gewährleistet werden kann, wenn beide Erzieher, Vater und Mutter, in idealer Gemeinschaft mit- und füreinander wirken. Aus diesem Grunde hat er in seinen Erzählungen das Motiv der Ehe gar mannigfaltig variiert. Auerbach ist ein zu genauer Kenner der ländlichen Verhältnisse, um nicht zu wissen, daß das Liebesleben auf dem Dorfe sich kühl und reizlos abspielt und in den meisten Fällen von der Frage nach Hab und Gut beeinflußt wird. In seinem „Tagebuch aus Wien“ (S. 37) äußert er sich darüber folgendermaßen: „Der Bauer fragt gleich bei allem: Was bringt es mir? . . . Es darf nicht vergessen werden, daß Eigennutz und Habsucht, die sich bekanntlich bei den Bauern überall so vorherrschend finden, ihren fast notwendigen Ursprung in seiner Stellung haben. Vorerst ist auf dem Lande alle Geltung wesentlich vom Besitz abhängig, und sodann [47] ist der Verkommende auf dem Dorfe für seine ganze Lebenszeit verloren. Es gibt hier nicht, wie in der Stadt, neue Berufe, überraschende Schicksalswendungen durch ein plötzliches großes Gelingen; der Erwerb ist kleiner und stetiger. Daher jenes zähe, knickrige Zusammenhalten des bedachtsamen Bauern.“

Daß eine auf solchen Grundsätzen geschlossene Ehe in den seltensten Fällen ein Herd des Glückes wird, ist für Auerbach eine feststehende Tatsache. Gleichgültigkeit der Ehegatten zueinander, die sich nicht selten zu Haß steigert, sind die Folgen dieses „Vertragsverhältnisses“. Darum klingt für den Leser aus allen Schilderungen der lieblosen Ehe die ernste Mahnung, das Ideelle höher zu werten als das Materielle. Im „Lehnholt“ schreibt Auerbach über die Ehe des „Furchenbauern“: 126) „Die beiden Eheleute lebten in Frieden und hielten einander in Ehren. Es mag hart klingen, aber es ist doch wahr, und erweist sich bei näherer Betrachtung auch milder: bei den Bauern, besonders aber auch bei den Großbauern, ist die Ehe vielfach nur ein Vertragsverhältnis in des Wortes ausgedehntester Bedeutung. Erkennen die Eheleute, daß die Verschiedenartigkeit ihrer Naturen sich zur Einigkeit verschmelzen läßt, so tritt ein gegenseitiges selbstverständliches Gewährenlassen ein. Hier, wo die Hausfrau gleichmäßig mit dem Manne für den Besitzstand zu arbeiten hat, erfüllt ein jedes den Kreis seiner Pflicht ohne weitere Anforderung. Die Arbeit für Erhaltung und Vermehrung des Besitztums ist die Wesenheit des Lebens, dem die Heilighaltung des geschlossenen Bundes noch eine gewisse Weihe erteilt, und kommen Kinder, so erblüht die Verträglichkeit auch wiederum oft zur Liebe. Offene Zerwürfnisse oder gar Trennungen aus Mangel an Liebe kommen darum im Leben der Großbauern fast nie vor. Ähnliche Ehen, in denen Gleichgültigkeit und oft sogar Haß an Stelle der Liebe traten, sind die Ehen Diethelms von Buchenberg, des Rodelbauern im „Barfüssele“ und des Schloßbauern im „Vefele“.

Es ist nicht Zufall, daß die Kinder aus diesen Ehen nicht zur Freude der Eltern heranwachsen, ja, ihnen mitunter großes Leid bereiten, wie etwa Franz, das einzige Kind Diethelms. Umgekehrt sind Beispiele wahrer Kindesliebe recht zahlreich in den Werken unseres Dichters. „Erdmute gibt, um ihrem Vater zu helfen, gern ihr ganzes Vermögen hin, obschon der herzlose Mann, der seine Tochter im Elend zurückläßt, solche Liebe nicht verdient. In der Erzählung „Sträflinge“ opfert Magdalena sogar die Ehre ihres guten Namens, um den diebischen Vater vor dem Zuchthaus zu retten; sie läßt sich für ihn als Verbrecherin verurteilen. Große, fast kindliche Lieb und Verehrung hegt Luzian (in „Luzifer“) für seine Schwiegermutter. Seine Feinde benutzen diese Neigung zu der Mutter seiner Frau zur Verbreitung schwerer [48] Verleumdungen. Brigitta wird aus Liebe zu ihrem Vater sogar zur Verbrecherin. 127)

Hat Auerbach, wie eben dargelegt wurde, uns gezeigt, daß das böse Beispiel verheerend auf die Kindesseele wirken kann, so weiß er, daß auch umgekehrt es kein besseres Mittel gibt, das Kind vor Bösem zu bewahren als durch dauernde Gewöhnung an das Gute. Das gilt nicht nur für das Sittliche, sondern findet seine Anwendung auch auf dem Gebiete der geistigen, besonders aber der literarischen Bildung. Darum ist es für Auerbach eine heilige Notwendigkit, die für die Volkskalender bestimmten Grundsätze der literarischen Erziehung 128) auch auf die Kinderschriften anzuwenden. Wie wir oben gezeigt haben, war Auerbach ein eifriger Jünger Herders, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß Herders bekanntes Wort: „Ein Buch hat oft auf eine ganze Lebenszeit einen Menschen gebildet oder verdorben!“ ihm als Richtschnur vorschwebte. Auerbach wußte aus seiner eigenen Jugendzeit, welch hohe Bedeutung gerade der Jugendlektüre beizumessen ist. Ist doch nicht die Unterhaltung ihr Hauptzweck, sie soll ebenso, wie oben bereits von den Kalendern gesagt wurde, der Belehrung und Veredlung dienen. „Die Veredlung ihrer Kinder liegt selbst den verkommensten Eltern am Herzen. Wenn Ziel und Methode der häuslichen Erziehung noch so roh, verworren und zweckwidrig sind, – daß das Kind moralisch gebessert werden müsse und daß das Wort dazu in erster Linie tauglich ist, gilt der Dutzenderziehung, die rein instinktiv und gewohnheitsgemäß nach Tradition und Beispiel handelt, für selbstverständlich. Daß für das Wort als Ersatz das Buch eintreten kann, gilt für ebenso selbstverständlich; sind doch Bibel, Katechismus und Gesangbuch hier die alten bekannten und maßgebenden Beispiele.“ 129)

Scharf bekämpft Auerbach den Standpunkt der „Dichter“, die da glauben, eine Kinderschrift geschaffen zu haben, die sich „auf läppische Weise in ihre unbehülfliche Sprache hineinzwängt“. 130) Zeigt Auerbach so die von ihm vertretenen Grundsätze der guten Jugendlektüre, so geht er noch einen Schritt weiter in dem Aufsatz: „Zeit für Kinderbücher!“ 131) Er führt darin etwa folgendes aus: Zwei, drei Tage vor Weihnachten überlegt man: „Was soll ich meinem Kinde schenken? Ein Buch? Gut! Man geht in einen Buchladen, läßt sich vertrauensvoll und gedankenlos vom Buchhändler etwas raten, bezahlt, geht hinaus und glaubt, nun [49] seine Pflicht getan zu haben. Was aber liest das Kind? Das weiß weder Vater noch Mutter. „Die Polizei warnt vor Spielzeug mit giftigen Farben. Die Eltern sind sorgfältig darauf bedacht, daß das Kind nichts genießt, was seine Gesundheit schädigt Aber die giftigen Farben der Bücher, die verderblichen Genüsse der Schrift lassen sie sorglos und unbekümmert in seine Seele dringen.“ – Darum mahnt er die Eltern in eindringlicher Weise: Gib dem Kinde kein Buch in die Hand, das du nicht selber durchgelesen hast. Was nicht wert ist, daß es die Eltern durchlesen, ist gewiß auch nicht wert, den Kindern in die Seele gepflanzt zu werden.

Was aber nützen noch so geistvolle Theorien, wenn in der Praxis immer dagegen gesündigt wird. Darum reift in Auerbach der Plan, eingedenk des Wortes: Verba docent, exempla trahunt!, selbst vorbildliche Kindergeschichten zu schaffen. Er sagt darüber: Briefe II, S. 287: „Gestern auf dem Wege gestaltete sich mir eine von einem Reisegefährten erzählte Tatsache zu einer vollen Geschichte. Diese Geschichte heißt: „Die Ferienkinder.“ Ein rechtschaffener Geistlicher in Zürich hat nämlich Geld gesammelt, um arme Kinder, besonders Fabrikkinder während der Ferien aufs Land zu schicken. Er reiste in den Kanton, wo er früher Dorfpfarrer war, und bestimmte die Bauern zur Aufnahme der Kinder. Sie waren sehr willig, und nun soll's gar herrlich und lustig sein, wie die Kinder in Wald und Feld, in Stall und Bach gedeihen. Manche haben noch gar nie melken gesehen und noch nie ungewässerte Milch getrunken. Daraus will ich eine Erzählung machen. Ich habe schon ausgiebige Motive, und die Geschichte kann gut werden und Gutes wirken.“ – Und bis fast in die letzten Lebensjahre hinein begleitet ihn der Gedanke, ein Kinderbuch zu verfassen. Jacob Auerbach sagt uns darüber in einer Anmerkung (Briefe, II. 216): „Mit dem leider nicht zustande gekommenen Kinderbuche beabsichtigte Berthold Auerbach eine Dichtung, die (nach seinen mündlichen Äußerungen) gewissermaßen ein neuer Robinson sein sollte. Während der zu pädagogischen Zwecken bearbeitete Defoe'sche Roman durch Abenteuerlichkeit der Schicksale anziehend wirkt und dabei durch Versetzung in eine dem Naturzustande ähnliche Lage, in welcher die Hilfsmittel der modernen Kultur erst wieder neu erdacht und mühsam ersetzt werden müssen, den Bildungstrieb anregt, wollte Berthold Auerbach eine Erzählung geben, die sich ganz auf dem Boden des wirklichen Lebens bewegt und den Sinn für gewöhnliche und stetige Arbeit weckt, zugleich aber ebenfalls den Wert der ererbten Lebensgüter schätzen lehrt, indem Zustände geschildert werden, unter welchen die Bildungswelt sozusagen neu entdeckt und der Eintritt in dieselbe nur durch größte Anstrengung aller Kräfte ermöglicht wird. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, die unwandelbaren Grundbedingungen des geistigen und sittlichen [50] Lebens in ihrer Einfachheit und Ursprünglichkeit zu veranschaulichen und durch Einwirkung auf Gemüt und Phantasie zur Selbstführung zu erwecken. Die Ausführung des allerdings noch nicht völlig gereiften Planes wurde teilweise dadurch gestört, daß er Motive desselben in andern Schriften vorwegnahm. Nach Beendigung des „Waldfried“ dachte er vermutlich an eine Geschichte, deren Mittelpunkt das Erwachen des Allgemeinbewußtseins und damit zugleich sittliches Streben, Vaterlands- und Menschenliebe wären. Nach dem Plane, von dem in obigen Briefen vom 5. bis 9. August 1874 einige Punkte gegeben sind, wollte er unter dem Titel: „Die Kinder vom Gotthard“ die Geschichte eines früh verwaisten Geschwisterpaares, eines Knaben und eines Mädchens, erzählen, die nach dem Tode der armen Eltern von der Gemeinde untergebracht wurden, in fremder Umgebung, weit voneinander entfernt heranwuchsen, sich aus bedrückenden Verhältnissen emporarbeiteten und, nachdem sie sich lange vergeblich gesucht, endlich im Momente der festlich gefeierten Vollendung des Gotthard-Tunnels von den zwei entgegengesetzten Seiten zusammentrafen und sich wiedererkannten. Dem Bruder, der mit Überwindung großer Schwierigkeiten sich zum Techniker ausbildete, war bei dem völkervereinenden Werke der Gotthard-Bahn eine hervorragende Tätigkeit zugedacht, die wohl bei der Feier durch ehrende Auszeichnung belohnt werden sollte, was dann zu der Erkennungsszene zwischen den Geschwistern geführt hätte. Naturleben und Naturfortschritt sollten in der Erzählung, die so ganz im Bereich der dichterischen Kraft und ethischen Richtung Berthold Auerbachs gelegen hätte, gleichmäßig hervortreten. Nach der symbolischen Weise des Erzählers hätte die Geschichte zweier Menschenkinder, die auf eigenartigen, völlig getrennten Wegen und zwar bei einem weltgeschichtlichen Feste zu dem ersehnten Ziele der Vereinigung gelangen, schon an und für sich und ohne daß eine Erklärung erforderlich gewesen wäre, auch auf die Beseitigung aller die Völker voneinander trennenden Hindernisse hingedeutet, wie sie durch die staunenswerten Erfindungen und Friedenswerke unserer Zeit bewirkt wird. In einem derartigen Buche von Berthold Auerbach würden wir nicht bloß eine Jugendschrift, sondern wohl ein würdiges Seitenstück zu „Barfüssele“ besitzen.“

Es gibt aber wohl kaum ein Buch, das eindringlicher und nachhaltiger auf das Kind einzuwirken berufen ist, als das Lesebuch. Jedoch, bevor wir uns mit dem Inhalt und der Tendenz der Lesebücher befassen, die zu Auerbachs Zeiten in den Schulen gebraucht wurden, wollen wir einen kurzen Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Lesebuches werfen.

Die Geschichte des Lesebuches ist verhältnismäßig erst jungen Datums. Im Jahre 1776 erschien das erste deutsche Lesebuch, der [51]Kinderfreund“ von Eberhard v. Rochow 132) das ausschließlich selbstgefertigte Lesestücke, Gedichte, Gebete, Sprüche etc. enthielt und ganz der damals herrschenden utilitaristisch-moralisierenden Richtung angepaßt war. Seine Nachfolger waren nicht besser. Sie hatten alle das gemeinsam, daß die moralischen Erzählungen in ihnen den breitesten Raum einnahmen. Im Gegensatz dazu standen die sogen, „realistischen Lesebücher“, deren Hauptvertreter die Bücher Wilmsens 133) waren. Auch in ihnen nahmen trotzdem die moralischen Erzählungen einen großen Raum ein. Sie waren vom Herausgeber selbst verfaßt und wirken, wenn wir sie heute durchlesen, recht abstoßend auf uns. Als Probe sei aus dem „Brandenburgischen Kinderfreund“ nachstehende „Erzählung“ zitiert: „Karl sah immer mürrisch und finster, blaß und krank aus. Woher kam das? Er wollte sich nicht kämmen lassen. Immer mußte er sich den Kopf kratzen, denn er war voll Ungeziefer. Keiner wollte bei ihm sitzen, und jeder verachtete ihn. Aber Philipp kämmte sich meherere Male des Tages die Haare aus, und daher sah er immer freundlich und gesund aus. Er hatte nicht nötig, sich den Kopf zu kratzen.“ 134) Erwähnt werden sollen auch noch die sog. Sprach-Lesebücher, deren Hauptvertreter Auerbachs Freund Diesterweg war. 135) Seine Bücher verbanden die Aufgaben des Sprach- und Lesebuches und des davon ausgehenden Unterrichts und sollten in erster Linie dazu dienen, die Sprache zu bilden. Zu diesem Zwecke enthielt z. B. das Schullesebuch Diesterwegs Lesestücke in gesucht falscher Rechtschreibung, die von den Kindern verbessert werden mußte. In dem Stücke: „Der gerettete Handwerksbursche“ heißt es z. B.: „Ein Hantwerkspursche ging unweid Presburch ihn Ungarn, in der krimmichsten Kelde mit seihnem Pindel über die Heite . . .“

Wir können es angesichts solcher Proben verstehen, wenn Auerbach ausruft: „Es wäre gut, wenn man einmal den Inhalt der deutschen Schullesebücher einer genauen Prüfung unterwerfen würde. Dann würde man auch finden, daß man jetzt allerorten Geschichten für Kinder zusammenbraut, voll süßer Gefühle und reiner Lehren, deren innere Mattigkeit durch einen gewaltsam überschraubten Ton und deren innere Hohlheit durch einen Wortpomp verdeckt werden soll.“ 136) Um diesem Übel zu steuern, gab es nur einen Weg: die Lesebücher mußten von Grund auf neu geschaffen [52] und ihr Inhalt auf ein höheres Niveau gebracht werden. Und als nach Beendigung des Krieges von 1870–71 Auerbach durch Renk, den Direktor des badischen Oberschulrats, den Auftrag des Ministers übermittelt bekam, für das neue badische Schullesebuch die Geschichte des letzten Krieges zu schreiben, da sagt er seinem Freunde: „Es reizt mich sehr, den Auftrag auszuführen, gerade auf die Jugend einzuwirken, ist mein liebster Wunsch!“

Als er im Beginn des Jahres 1874 auf einer Soirée beim damaligen Kronprinzen war, benutzte er die Gelegenheit, den auch anwesenden preußischen Kultusminister Falk für die Neubearbeitung der Lesebücher zu interessieren. (Briefe II. 197.) „Ich besprach mich auch gute Zeit mit Minister Falk und nahm die Gelegenheit wahr, demselben von meinem dir bekannten, noch vor 1870 gehegten Plane (den dann, wie du dich erinnern wirst, Stoy in seiner Schulzeitung von mir kundgab) 137) zu sagen, nämlich ein allgemeines Schullesebuch für sämtliche Volksschulen des deutschen Reiches unter Mitwirkung von Schulmännern, Professoren der Geschichte, der Naturwissenschaften etc. zu obligatorischer Einführung zu veranstalten. Der Minister sagte mir, der Plan sei sehr bedeutsam . . . aber . . . Ich erlaubte mir zu sagen, daß ich dieses Aber bereits kenne; denn mein Gedanke sei bereits ausgereift, und es solle ein Anhang von lokaler Heimatskunde und Lokalgeschichte je für die besondere Landschaft beigefügt werden.“

Auerbachs Anregungen fielen auf fruchtbaren Boden, denn die nachfolgenden Lesebücher verwirklichten seine Forderungen: das Lesebuch sei ein Literaturbuch! 138) Nicht zum mindesten hat Auerbach selbst einen hervorragenden Anteil an der Verbesserung unserer Lesebücher. Gar manche seiner Erzählungen fand den Weg in die Neuausgaben unserer Schullesebücher und gelangte von dort über die Hand des Kindes in das Elternhaus. 139) Reiniger sagt mit Recht von Auerbach: 140) „Als Volksschriftsteller unterscheidet sich Auerbach wesentlich von den bisherigen Lesebuchmitarbeitern, wie z. B. Christoph von Schmidt, Ahlfeld, Pustkuchen, Glanzow u. v. a. Er deckt die Schäden auf, die im Volke wurzeln, knüpft daran allerlei Betrachtungen, wie diese Verhältnisse zu bessern seien usw. Er geht also vom Realen zum Idealen und führt die Leser auf dem Wege der Induktion zu der von ihm veranschaulichten Wahrheit, ohne aber aufdringlich zu moralisieren oder gar, wie es bei seinen Vorgängern oftmals der Fall war, trivial in seinen Ausdrücken zu werden. Als Beispiel möge [53] die häufig abgedruckte Geschichte dienen: „Die goldene Repetieruhr.“ Der Hergang dieser Erzählung ist höchst einfach: Adam Hämmerlein, ein Knabe von 15 Jahren, wünscht sich eine Taschenuhr, dann eine goldene Repetieruhr. Als er schließlich aber nur eine einfache silberne bekommt, ist er auch ganz außer sich vor Freude. In seiner Erzählung führt Auerbach viele Züge weiter aus und fügt Bemerkungen hinzu und schafft dadurch eine lehrreiche, anmutige Geschichte. „Das ist das charakteristische Merkmal der Beiträge unseres Schriftstellers: er schildert in behaglicher, echt volkstümlicher Rede. Es kommt ihm weniger auf Leben und Handlung an. Er beachtet immer nur das praktische Moment und will in den Herzen der Leser Vaterlandsliebe erwecken und den religiösen Sinn pflegen. Der höchste Zweck bleibt ihm stets die ethische Bildung . . . „Die goldene Repetieruhr“ zeigt uns nicht nur den deutschen Volksschriftsteller, sondern auch den Psychologen. Reizend und fein sind die in dieser Erzählung angewandten Züge: er tut, als habe er nicht gehört und nichts gesehen – geht seitdem stolz durch die Straßen – meint, es müsse ihn jeder ansehen, was für eine goldene Zukunft (scherzhaftes Wortspiel auf die goldene Uhr) er habe, es ist ihm leid, daß man die Uhr nicht offen trage vor aller Welt, er redet sich ein, das wäre viel menschenfreundlicher, die armen Leute konnten dann auch immer genau die Stunden und Minuten sehen. Es ist die Eitelkeit, die ihn zu solchen wunderlichen Gedanken bringt, aber er will das vor sich selber nicht eingestehen und schiebt ihnen ein falsches Mittel unter.“ (Kriebitzsch.) So hoch Auerbach die gemütbildende Seite des Erziehungswesens schätzt, so weiß er doch auf der anderen Seite, welche Bedeutung die materiale Seite des Unterrichts für die Bildung der Menschenseele besitzt. Darum hat er sich auch an verschiedenen Stellen über die Bedeutung der einzelnen Lehrfächer für Erziehung und Unterricht geäußert.

Vom Anschauungsunterrichte meint er (Coll. 57): „Man hat in der modernen Pädagogik den Anschauungsunterricht auch dahin ausgedehnt, daß bereits in den ersten Lesebüchern die alltäglichen Gegenstände in Umrißzeichnungen den Kindern vor Augen gestellt werden, und das hat sicher etwas Erweckliches. Es bleibt aber die Frage, ob die unmittelbare Anschauung, die fruchtbare Wahrnehmung charakteristischer Besonderheiten, nicht dadurch beeinträchtigt wird. Es ist einer der heikelsten Punkte des ganzen modernen Lebens, daß man mit dem Verstande mehr lernt, als Gemüt und Gesinnung bewältigen können. Man lernt auch noch mit fremden Augen sehen, bevor man mit eigenen Augen gesehen hat. 141) Das Hinweisen ist vielfach störend, und es ist mir [54] immer als ein besonderes Symbol erschienen, daß nach dem Volksglauben man nicht mit den Fingern auf einen Stern hindeuten dürfe, man steche dabei einem Engel ins Auge.“

Das Erlernen fremder Sprachen schätzt Auerbach wegen ihrer erzieherischen Bedeutung besonders hoch. (Coll. 230.) „Eine fremde Sprache lernen und gut sprechen gibt der Seele eine innere Toleranz; man erkennt, daß alles innerste Leben sich auch noch anders fassen und darstellen lasse, man lernt fremdes Leben achten.“

(Coll. S. 55 ff.) „Das Sprechen fremder Sprachen gibt vielen die geschulte und bewußte Logik. Man ist genötigt, dem, was man sagen will, eine Bestimmtheit zu geben nach Form und Inhalt und den Gegenstand sachlich zu überlegen, und so erhält das Sprechen eine gewisse unmittelbare logische Fülle, Fertigkeit und Bestimmtheit. Das Kind soll jedoch keine fremde Sprache lernen, bevor es die Eindrücke des Lebens in der heimischen ausdrücken kann. Man pfropft einen Rosenstrauch und einen Fruchtbaum erst dann, wenn sie zu wilden Stämmchen herangewachsen sind.“

Auch über die Bedeutung der humanistischen Bildung hat Auerbach sich verschiedentlich geäußert.

(Briefe I. 4.) „Hat man Livius und Cicero, die Grundpfeiler der lateinischen Grammatik, im Auge, dann sieht man erst, was Latein heißt. Unverkennbar leuchtet überall der logisch-philosophische Geist dieser Sprache hervor, man staunt die Größe dieser beiden Heroen an. Die griechische Sprache lernt man durch häufiges Komponieren erst in ihrer wahren Schönheit kennen . . .

(Briefe I. 7.) „Latein ist auch hier 142) die Hauptsache und gewiß mit Recht, denn an einer solchen logisch geregelten Sprache seinen Geist zu üben, ist, wenn auch nicht immer materiell, doch gewiß formell bildend, und die auserlesensten der auserlesenen Reden Ciceros zu lesen, ist wahrlich ein reiner Seelengenuß . . .“

Ebenso rühmt er auch Tacitus (Briefe I. 14): „Seine präcise Sprache macht ihn höchst lesens-, noch mehr aber forschens- und sichtenswert.“ Und ein Jahr später (1831) beklagt er die (in Hechingen und Karlsruhe zugebrachten) früheren Jahre nicht besser haben verwerten zu können: „Ich besuche, wie du bereits weißt, das hiesige vorzügliche Gymnasium 143) . . . O Himmel! rufe ich oft aus, warum war es mir nicht auch vergönnt, in Zeiten, wo mein Herz noch empfänglicher, noch bleibend empfänglicher für das Schöne war, mich mit dem klassischen Altertum bekannt zu machen? Die Worte eines unsterblichen Cicero, Plato, Homer u. a. hätten wie ein Blitzstrahl den Feuerstoff, der in mir lag, entzündet, auf daß er gelodert hätte zur wärmenden Flamme für andere.“ (Briefe, I. 10 ff.)

 

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124) In vielen Frauengestalten hat A., wie auch Goethe, seiner Mutter ein Denkmal gesetzt. Als die badischen Schriftsteller dem Großherzogspaare zur Silbernen Hochzeit (20. 10. 1881) ein Album schufen, steuerte A. „Geschichten seiner Mutter“ bei, in denen sie, nach seinen eigenen Worten, „eine Art neuer Auferstehung feierte“.  

125) Coll. 18. 

126) Werke. VI. 21. 

127) Roggen. S. 96. 

128) S. S. 34 ff. 

129) Wolgast, Das Elend unserer Jugendliteratur. Hbg. 1911 

130) Schrift und Volk. S. 214. In ähnlicher Weise sagt ja auch Th. Storm: „Wenn du für die Jugend schreiben willst, dann darfst du nicht für die Jugend schreiben.“ 

131) Kalender. 1867. S. 120. 

132) E. v. Rochow. (1734–1805.) Sein Lesebuch war bald nach seinem Erscheinen in über 100 000 Exemplaren verbreitet. 

133) Der Brandemburgische Kinderfreund. Berlin 1800. Der deutsche Kinderfreund. Berlin 1801. 224. Auflage 1879! 

134) 1. Auflage S. 171 

135) Diesterweg. (1790–1866). Schullesebuch in sachgemäßer Anordnung nach den Regeln des Lesens, 1831. Lese- und Sprachbuch zur Beförderung eines verständigen Lese- und eines bildenden Sprachunterrichts. 1826. 

136) Deutsche Abende. Neue Folge. 1867. S. 149. 

137) Darmst. Allgem. Schulztg. 1870. Nr. 16. 

138) Die von Auerbach hier vertretenen Forderungen finden sich fast wörtlich in dem Min.-Erl. v. 28. 2. 1902. 

139) Reiniger, B. A. u. seine Mitarbeit an unseren Volksschullesebüchern. Pädag. Warte. 1903. Heft 15.  

140) Eine Zusammenstellung der am häufigsten in den Lesebüchern enthaltenen Dichtungen A.'s, siehe Abschnitt VIII dieser Arbeit. S. 55. 

141) Hier ist Auerbach offensichtlich beeinflußt durch die Gedanken J. J. Rousseaus. (1712/1778.) 

142) Gemeint ist das Gymnasium in Stuttgart.  

143) Gemeint ist das Gymnasium in Stuttgart.