BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Alfred de Musset

Die Geschichte einer weißen Amsel

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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III.

 

Ich habs schon gesagt, meine Flügel waren noch nicht stark genug. Während mein Führer wie der Wind hinflog, ging mir aller Atem aus. Ich hielt mich ja wohl einige Zeit, aber bald ergriff mich ein so heftiger Schwindel, daß ich fast ohnmächtig wurde.

– Ists noch weit bis hin? fragte ich ganz schwach.

– Nein, sagte er, das ist Bourget. Wir haben nur mehr sechzig Stundenmeilen zu machen.

Ich nahm noch einmal allen Mut zusammen, weil ich doch kein begossenes Hühnchen abgeben wollte. Und ich flog noch eine Viertelstunde. Aber dann wars mit einemmal aus.

– Herr, Herr, lallte ich, könnte man nicht für einen Augenblick einhalten? Ich habe einen entsetzlichen Durst ... ich verschmachte ... wenn wir uns auf einen Baum niederließen....

– Geh zum Teufel! Du bist doch nur eine Amsel! sagte der Ringeltäuberich voller Wut.

Und ohne nur den Kopf umzudrehen, setzte er die rasende Fahrt fort. Ich aber fiel betäubt und blind in ein Kornfeld nieder.

Ich weiß nicht, wie lange ich so lag. Als ich wieder zu mir kam, war das erste, das mir einfiel, das Wort des Täuberichs: «Du bist doch nur eine Amsel,» hatte er gesagt. – Oh, meine teueren Eltern, dachte ich, ihr habt euch also getäuscht! Ich kehr zu euch zurück, ihr müßt mich als euer wahres und legitimes Kind anerkennen und ihr sollt mir meinen Platz im Laub unter dem Napf meiner Mutter wiedergeben.

Ich bemühte mich, mich aufzurichten. Aber die Erschöpfung von der Reise und der Schmerz, den mir der Sturz verursachte, lähmten mir alle Gliedmaßen. Kaum war ich auf meinen Füßen, wurde ich von neuem schwindlig und sank um.

Der schreckliche Gedanke an Tod und Sterben bemächtigte sich bereits meines Geistes, als ich durch Kornblumenblau und wilden Mohn her zwei liebreizende Gestalten auf mich zukommen sah. Die eine war eine kleine sehr gesprenkelte und außerordentlich kokette Elster, die andere eine rosafarbene Turteltaube. Die Turteltäubin blieb einige Schritt vor mir sehr züchtig und voller Mitleiden mit meinem Unglück stehen; indes die Elster, auf die artigste Weise der Welt, zu mir hertänzelte.

 

 

– Du guter Gott! was machen Sie da, armes Kindchen? fragte sie mich mit ihrer mutwilligen und wie Silber tönenden Stimme.

– Ach! Frau Marquise, redete ich sie an (und das verdiente sie zumindest zu werden) ich bin ein armer Teufel von einem Reisenden, den sein Postillon auf dem Weg liegen ließ ... und eben dabei, Hungers zu sterben.

– Heilige Jungfrau! was sagen Sie da? antwortete sie.

Und allsogleich hüpfte sie dahin und dorthin, unter den Büschen, die uns umgaben, ging dahin und kam von dorther, und brachte mir eine Menge Beeren und Früchte herbei und schichtete sie zu einem kleinen Haufen bei mir, unter Fragen und Fragen:

– Aber wer sind Sie? woher kommen Sie? Das ist eine unglaubliche Geschichte! Und wohin wollten Sie? Allein und so jung auf Reisen, denn sie kommen gerade von der ersten Mauser!

– Was treiben Ihre Eltern? von woher sind Sie? wie können die Sie allein in solcher Verfassung gehen lassen? Da stehen einem wahrhaft die Federn zu Berge!

Während sie redete, hatte ich mich ein wenig von der Seite aufgerichtet und aß mit großem Appetit. Die Turteltäubin stand unbeweglich und sah mich mit Mitleiden an. Und da sah sie auch, wie mein Kopf mit einemmal ganz kraftlos zurücksank, und wußte, daß ich Durst litt. Vom Regen zur Nacht war ein Tropfen auf einem Gauchheilhalm geblieben. Sie nahm ihn äußerst besorgt mit ihrem Schnabel auf und brachte ihn mir: ganz frisch. Gewiß, wenn ich nicht so krank gewesen wäre, hätte sich eine so vornehme und zurückhaltende Dame niemals einen ähnlichen Schritt gestattet.

Ich wußte noch nicht, was Liebe ist, aber mein Herz klopfte mächtig. Zwischen zwei verschiedenen Wallungen: ein unsagbarer Reiz. Meine Speisenmeisterin war so lustig, meine Mundschenkin so mitteilsam und süß, daß ich wünschte, bis in alle Ewigkeit so frühstücken zu können. Leider aber hat alles ein Ziel, sogar der Appetit eines Genesenden. Als die Mahlzeit zu Ende und meine Kraft zurückgekehrt war, stillte ich die Neugierde der kleinen Elster und erzählte ihr meine Leiden, wieder so aufrichtig, als ich es die Nacht dem Ringeltäuberich erzählt hatte. Die Elster lauschte mit mehr Aufmerksamkeit, als man ihr zutrauen mochte. Die Turteltäubin schenkte mir entzückende Zeichen tiefen Mitfühlens. Aber als ich den springenden Punkt meiner Leiden berührte, das Ungewisse, wer ich denn sei, rief die Elster:

– Spaßen Sie? Sie und eine Amsel ...! Sie und eine Ringeltaube ...! Pfui! Sie sind eine Elster, eine ganz richtige und eine sehr nette Elster! Und gab mir einen leichten Schlag mit dem Flügel: einen Klapps mit dem Fächer.

– Verzeihen Marquise, antwortete ich, mir ist, als hätte ich für eine Elster eine Farbe, eine....

– Eine russische Elster, mein Lieber, Sie sind eine russische Elster! Sie wissen nicht, daß die weiß sind? Armer Kerl, so wenig Ahnung ...!

– Aber, Gnädigste, sagte ich, wie kann ich eine russische Elster sein, wenn ich, wie Sie wissen, in einem alten Napfscherben in jenem Moor *) geboren ...

– Das Kindchen! Durch die Russeninvasion doch...! Oder meinen Sie, daß Sie der einzige sind? Vertrauen Sie sich mir an; ich mach das; ich nehme Sie sofort mit mir und zeige Ihnen die schönsten Sachen von der Welt.

– Bitte wo, meine Gnädigste?

In meinem grünen Palast, mein Süßer. Das Leben sollen Sie sehen! Sie sind noch keine Viertelstunde lang Elster, passen sie auf, und werden schon von nichts anderm mehr sehen wollen. Wir sind uns an die Hundert ... aber keine von den großen Dorfelstern, die auf der Landstraße betteln ... sondern sehr vornehm, aus guter Gesellschaft, schön gefranst, schmuck, und nicht größer als fausthoch. Jede von uns trägt just sieben schwarze Tupfen und fünf weiße Tupfen. Das ist nicht anders, und alles andere verachten wir. Die schwarzen Tupfen besitzen Sie ja nicht, das ist richtig, aber Sie werden durch Ihre Russenabstammung bestehen. Unser Leben teilt sich aus zwei Aufgaben: Konversation und Toilette. Von morgens bis Mittag machen wir Toilette, und von Mittag bis abends treiben wir Konversation. Ein jedes von uns sitzt auf einem Baum, der so hoch und alt als möglich ist. Mitten im Wald steht ein ungeheurer Baum, der ist, ach! unbesetzt. Die Wohnung weiland König Elsterich X., dahin geht unsere seufzerreiche Wallfahrt. Aber abgesehen von dieser kleinen Bitternis verbringen wir sonst unsere Zeit aufs wahrhaft angenehmste. Unsere Frauen sind nicht alberner als unsere Ehemänner eifersüchtig sind. Aber unsere Lustbarkeiten sind züchtig und ehrbar, weil unsere Gefühle so nobel sind als unsere Reden frei und heiter. Unser Stolz kennt keine Grenzen; ein Häher oder sonst eine Kanaille, die sich da an uns heranmachen will, wird aufs erbarmensloseste zerzupft. Nichtsdestoweniger sind wir die gutmütigsten Leute der Welt, und all die kleinen Piepmätze und die Meisen und die Stieglitze, die bei uns im Buchholz wohnen, finden uns immer hilfsbereit, wir speisen und beschützen sie. Nirgends ist wohl die Unterhaltung lebhafter und eifriger als in unserm Kreis, aber ebenso gibts wohl nirgends weniger Nachrede und Verleumdung. Wir haben auch sehr fromme Alte unter uns, die den ganzen Tag Vaterunser beten; aber die windigste unserer jungen Basen kann so dicht und streifend als sie nur will an der strengsten Witwe von Stand vorbeigehen, ohne den leisesten Schnabelhieb befürchten zu müssen. Mit einem Wort: wir leben dem Vergnügen, dem Anstand, der Unterhaltung, der Ehre und dem Putz.

– Das ist äußerst schön, Gnädigste, versetzte ich. Und ich wär ein Stoffel, wenn ich dem Rate einer Persönlichkeit, wie Sie sie darstellen, nicht unbedingt folgen würde. Aber eh ich die Ehre und das Glück habe, mit Ihnen zu kommen, erlauben Sie mir bitte, bitte, ein Wort an das beste Fräulein hier.

– Gnädiges Fräulein, wandte ich mich da an die Turteltäubin, sagen Sie mir unumwunden, ich beschwöre Sie, bin ich wirklich eine russische Elster?

Bei dieser Frage senkte die Täubin das Köpfchen und wurde blaßrot wie Lottens Strumpfband.

– Aber mein Herr, sagte sie, ich weiß nicht ... ich vermag nicht ...

– Bei allen Himmeln, mein gnädiges Fräulein, reden Sie! An meinem Kleid ist nichts, das Sie verletzen könnte ... im geraden Gegenteil. Sie kommen mir alle beide so reizend vor, daß ich schwöre, ich biete Herz und Fuß derjenigen von Ihnen an, die es nimmt, von dem Augenblick ab, da ich weiß, ob ich eine Elster oder sonst was bin. Denn, sagte ich nun ein wenig leiser zu dem jungen Mädchen, wenn ich Sie ansehe, komme ich mir, ich weiß nicht wie, so turteltaubengleich vor ... und das quält mich besonders....

– Aber wahrhaftig, sagte die Täubin und errötete noch mehr, ich weiß nicht, obs von der Sonne ist, die durch den roten Mohn fällt, aber Ihr Gefieder scheint mir einen leisen Teint, einen leisen Stich ...

Sie wagte es nicht, bis zu Ende zu reden.

– Über die Verlegenheit! rief ich nun. Wie soll ich wissen, woran ich mich zu halten habe? Wie soll ich mein Herz einer von Ihnen schenken, wo es so grausam zerrissen wird? Sokrates! Was für eine erhabene, aber was für eine schwer zu befolgende Lehre hast du uns gegeben, wenn du sagtest: «Erkenne dich selbst!»

Seit dem Tage, da das unglückselige Lied meinem Papa so sehr auf die Nerven gefallen war, hatte ich keinen Gebrauch mehr von meiner Stimme gemacht. In diesem Augenblick aber fiels mir ein, ich mußte mich ihrer bedienen, um endlich zur Wahrheit zu kommen. «Teufel, dachte ich bei mir, wenn mein Papa mich schon bei der ersten Strophe an die Luft gesetzt hat, ist es das mindeste, daß die zweite von inniger Wirkung auf die Damen sein wird!» Ich verbeugte mich also artig, wie um gütige Nachsicht, des ausgestandenen Regens wegen, und ging erst an ein wenig Pfeifen, dann Gezwitscher, dann zu Läufen und Trillern über, und schrie endlich aus vollem Halse wie ein spanischer Mauleseltreiber bei richtigem Wind.

In dem Maße wie ich sang, entfernte sich die kleine Elster von mir, erst überrascht, dann betäubt, voller Schrecken und nicht ohne einen Ausdruck tiefer Langeweile. Sie ging im Kreis um mich, recht, wie eine Katze um den heißen Brei. Ich sah die Wirkung und wollte es bis auf die Spitze treiben, aber die Marquise ward immer unruhiger, je mehr ich mich heiser schrie. Nachdem sie so fünfundzwanzig Minuten meine musikalische Kraftleistung ausgehalten hatte, hielt sies nicht länger, sie lief mit Geschrei davon, nach ihrem grünen Palast. Die Turteltäubin aber war gleich bei der ersten Note tief eingeschlafen.

– Eine staunenswerte harmonische Wirkung, dachte ich da. Oh Heimat! Napfscherben meiner guten Mutter! zu euch, zu euch zurück! je eher, desto besser!

In dem Augenblick, als ich mich davonmachte, erwachte die Turteltäubin.

– Adieu, sagte sie, Du ebenso artiger wie langweiliger Unbekannter! Ich heiße Gourouli; vergiß mich nicht!

– Schöne Gourouli, antwortete ich, Sie sind lieb, lieblich und süß. Leben und sterben könnt ich für Sie. Aber Sie haben Ihren Stich ins Rosenrote, und soviel Glück ist nie für mich!

 

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*) Das Wort «Marais» bedeutet auch hier nicht «Moor» sondern bezieht sich auf den Pariser Stadtteil Marais. Also etwa: «im Maraisviertel von Paris» (U.H.)