BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Alfred de Musset

Die Geschichte einer weißen Amsel

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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V.

 

Allein mit meiner Enttäuschung zurückgelassen, blieb mir nichts übrig als den Rest des Tages darauf zu verwenden und geradenwegs nach Paris zu fliegen. Leider wußte ich den Weg nicht. Meine Reise mit der Ringeltaube war zu wenig angenehm gewesen, als daß ich eine bestimmte Erinnerung davon behalten hätte. So wandte ich mich statt geradeaus nach links auf Bourget zu, und als mich die Nacht überraschte, mußte ich ein Unterkommen im Mortefontainer Walde aufsuchen.

Alles ging zu Bett, als ich ankam. Die Elstern und die Häher, die bekanntlich die unleidlichsten Schlafgenossen sind, schimpften einer auf den andern. In den Büschen piepten die Spatzen unaufhörlich und stießen einander. Im Wasser stolzierten zwei Reiher sehr nachdenklich auf ihren langen Stelzen, zwei Pantoffelritter, die geduldig auf ihre Gemahlinnen warteten. Riesige Raben schwangen sich schlaftrunken hoch auf die höchsten Bäume und näselten ihr Abendgebet. Tiefer unten machten verliebte Meisen noch in den Sträuchern aufeinander Jagd, während ein struppiger Grünspecht seine Beute in einer Baumhöhle verbarg. Eine Horde Waldspatzen kam von den Feldern her, eine wirbelnde Rauchwolke und stürzte sich auf ein Bäumchen, das sie über und über bedeckte. Buchfinken, Grasmücken, Rotkehlchen schienen auf vorspringenden Zweigen wie die Glaskristalle an Kronleuchtern, von allen Seiten Stimmen, die deutlich sagten: – Komm, Frau! – Komm, komm, Töchterchen! – Komm doch, oh Schöne! – Hierher, Liebling! – Da bin ich, mein Guter! – Guten Abend, Gnädige! – Adieu, ihr Freunde! – Schlaft süß, Kinderchen!

Welche Situation für eine keusche Jünglingsseele, in einer solchen Herberge zu nächtigen! Ich geriet in den Versuch, mich einigen Vögeln meiner Größe anzuschließen und sie um Nachtquartier zu bitten. – In der Nacht, dachte ich, sind alle Vögel grau. Und übrigens, was verbricht man an den Leuten, wenn man ganz hübsch ruhig bei ihnen schläft?

Ich flog zuerst nach einem Wassergraben, wo Stare waren. Sie machten ihre Nachttoilette mit ganz besonderer Sorgfalt. Und ich sah, daß die meisten von ihnen vergoldete Flügel und polierte Nägel hatten: das waren die Dandies des Waldes. Es waren sehr nette Leute, die mich gar nicht beachteten. Aber sie schwätzten so eitel, erzählten sich von ihren Streichen und ihrem ‹Schwein› so abgeschmackt, und rieben sich so plump aneinander, daß ich unmöglich länger bleiben konnte.

Ich setzte mich dann auf einen Zweig, wo ein Dutzend verschiedener Vögel der Reihe nach dasaß. Ich nahm bescheiden das äußerste Ende ein, in der Hoffnung, daß es gestattet wurde. Unglücklicherweise hatte ich eine alte Taube zur Nachbarin, die dürr wie ein verrosteter Wetterhahn war. Als ich mich ihr näherte, waren die wenigen Federn, die ihren Rücken bedeckten, ihre einzige Sorge. Sie tat so, als ob sie sie putzen wollte, aber sie hatte zuviel Angst, daß ihr eine davon ausging. So ließ sie sie nur Revue passieren, ob auch alle noch da waren. Kaum hatte ich sie mit einem Flügelende gestreift, als sie sich majestätisch aufrichtete.

– Was tun Sie denn da, Sie? sagte sie und verzog den Schnabel wie eine mythische Jungfer.

Und sie stieß mich mit dem Ellbogen und warf mich mit solcher Kraft herunter, daß es einem Packträger alle Ehre gemacht hätte.

Ich fiel ins Heidekraut, drin eine Haselhenne schlief. Nicht einmal meine Mutter in ihrem Näpfchen hatte einen solchen Ausdruck von Seligkeit an sich. Sie war so rundlich, so vergnügt und saß so bequem auf ihrem dreifachen Bauch, daß man sie wohl für eine Pastete hätte halten können, von der die Rinde abgegessen ist. Ich legte mich ganz verstohlen neben sie. –

«Sie wird schon nicht aufwachen, sagte ich bei mir, und auf jeden Fall kann so eine gute dicke Mama nicht sehr bösartig sein.» Sie wars auch wirklich nicht. Sie machte die Augen halb auf und sagte mit einem Viertelsseufzer:

– Du genierst mich, Kleiner, geh weg.

In diesem Augenblick rief man mich. Krammetsvögel waren es, auf einem Vogelbeerbaum, die mich zu sich hinaufwinkten. – Endlich einmal ein paar mitleidige Seelen, dachte ich. Sie machten mir Platz und lachten wie blödsinnig. Ich schob mich fein zwischen diesen Haufen Federn, gleichwie ein Billetdoux in einen Muff. Aber ich merkte bald, die Damen hatten mehr Weintrauben gegessen, als vernünftig ist. Sie konnten sich kaum auf den Zweigen halten, und ihre unziemlichen Witze, ihr ewiges Kichern und ihre schlüpfrigen Lieder trieben mich fort.

Ich begann zu verzweifeln und wollte mich in einem ganz versteckten Winkel schlafen legen, als eine Nachtigall zu singen anfing. Alles war still auf einmal. Ach, was für eine reine Stimme und wie süß gar ihre Traurigkeit! Sie störte den Schlaf der anderen nicht im mindesten, ihr Gesang war wie ein Wiegenlied. Kein Mensch dachte daran, sie schweigen zu heißen, keine Seele fand es schlimm, daß sie zu so einer Stunde sang, ihr Vater prügelte sie nicht, und ihre Freunde nahmen nicht Reißaus.

– Nur ich soll nicht glücklich sein! rief ich aus. Fliehen wir aus dieser grausamen Welt! Ich will mir lieber meinen Weg im Finstern suchen, auf die Gefahr hin, von einer Eule erwischt zu werden, als mich hier durch den Anblick fremden Glücks zerreißen zu lassen!

Und ich machte mich wieder auf den Weg und fuhr lange Zeit auf gut Glück herum. Beim ersten Tageslicht sah ich die Türme von Nôtre Dame. In einem Augenblick war ich da und ich brauchte nicht lange, um unsern Garten wiederzufinden. Ich flog schneller wie der Blitz ... oh Gott, er war leer ... Ich rief umsonst nach meinen Eltern: Niemand antwortete mir. Der Baum meines Vaters, der Busch meiner Mutter, der teure Napf, alles war weg. Die Axt hatte alles zerstört, wo einst die Allee stand, darin ich geboren, lagen jetzt nur an hundert Reisigbündel.