BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Alfred de Musset

Die Geschichte einer weißen Amsel

 

Übersetzt von Heinrich Lautensack

 

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VI.

 

Erst suchte ich meine Eltern in allen Gärten ringsum. Aber das war verlorene Müh. Sie waren zweifellos nach einem entfernten Viertel verzogen. Und ich würde nie wieder von ihnen hören.

Ich war schrecklich betrübt, und ich setzte mich auf die Dachrinne, wohin mich der Zorn meines Vaters zu allererst verbannt hatte. Da verbrachte ich Tage und Nächte, mein trauriges Schicksal beweinend. Ich schlief nicht mehr, ich aß kaum mehr. Ich war nahe daran, vor Gram zu sterben.

Eines Tages lamentierte ich wie gewöhnlich. Und ganz laut:

– Also bin ich weder eine Amsel, da mich mein Vater ja gezaust hat; noch ein Ringeltauber, da ich hinfiel, als ich nach Belgien wollte; noch eine russische Elster, da die kleine Marquise sich die Ohren versperrte, sowie ich nur den Schnabel auftat; noch eine Turteltaube, da Gourouli, das gute Gouroulichen, zu meinem Singen schnarchte wie ein Mönch; noch ein Papagei, da mich Kakatogenus nicht anhören wollte; noch überhaupt irgendein Vogel, da man mich zu Mortefontaine mutterseelenallein schlafen ließ. Und doch habe ich Federn auf dem Leibe und Füße und Flügel. Ich bin absolut kein Monstrum, da ist Gourouli Zeuge und sogar die kleine Marquise, denen ich genügend gefiel. Durch welch unsagbar Geheimnisvolles bilden diese Federn, diese Flügel und diese Füße kein ganzes Ganzes, dem man einen Namen geben kann. Sollte ich nicht zufällig....

Ich wollte mich also weiter beschweren, als mich zwei Hausmeisterinnen unterbrachen, die auf der Straße zankten.

– Zum Teufel! sagte die eine der beiden zu der andern, wenn du dein Maul hältst, mache ich dir eine weiße Amsel zum Präsent!

– Gerechter Gott! rief ich aus, das ist meine Sache. Oh Vorsehung! ich bin der Sohn einer Amsel und ich bin weiß: das ist, ich bin eine weiße Amsel!

Man muß zugeben: diese Entdeckung konnte meine Ansichten wohl umkrempeln. Statt weiter zu lamentieren, brüstete ich mich, schritt stolz die Dachrinne entlang und sah sieghaft in die Welt.

– Das ist eine Sache, sagte ich bei mir selber, eine weiße Amsel zu sein: das gibts nicht alle Tage, das findet man nicht hinter jedem Esel her. War ausgezeichnet, daß ich mich kränkte, nicht meinesgleichen zu finden: das ist das Schicksal des Genies, das ist mein Schicksal! Ich wollte die Welt fliehen ... ich werde sie in Bewunderung versetzen! Da ich ein Vogel ohne gleichen bin, dessen Dasein die gemeine Welt verleugnet, muß mein ganzes Benehmen ein solches, entsprechendes sein: so gut wie der Phönix! und ich muß auf alles übrige Geflügel herabsehn. Ich muß mir die Memoiren des Alfieri kaufen und die Gedichte des Lord Byron; so wertvolle Nahrung wird mich mit edlem Stolz erfüllen, den ungerechnet, den Gott mir mitgegeben hat. Das alles muß noch zum Prestige meiner Geburt hinzu! Die Natur hat eine wahrhafte Seltenheit mit mir geschaffen; ich werde ein Mysterium aus mir machen. Eine höchste Gunst soll es sein und eine höchste Ehre mich ansehn zu dürfen. – Wie denn? fügte ich leise hinzu, wenn ich mich geradewegs für Geld sehen ließe?

– Pfui, unwürdiger Gedanke! Ich werde ein Gedicht machen, wie Kakatogenus, aber nicht in einem Gesang, sondern in vierundzwanzig Gesängen, wie alle großen Männer. Nein, nicht genug, es müssen deren achtundvierzig werden, mit Fußnoten und einem Anhang! Das Weltall muß erfahren, daß ich bin. Ich werde schon nicht ermangeln und in meinen Versen meine große Einsamkeit beklagen, aber so, daß mich die Glücklichsten noch beneiden sollen. Da mir der Himmel ein Weibchen verweigert hat, werde ich schauderhaftes Zeug über die aller andern zu sagen wissen. Ich werde beweisen, daß alles zu grün sei, außer die Weinbeeren, die ich esse. Die Nachtigallen sollen sich fein in acht nehmen; ich werde darlegen, daß zweimal zwei vier ist, ihre Lamentos Herzdrücken verursachen und ihre Ware Schund ist. Ich muß Charpentier aufsuchen. Ich will mir zuerst eine mächtige literarische Position schaffen. Es soll etwas wie ein Hof um mich sein, nicht nur von Journalisten, sondern wirklichen Autoren und sogar weiblichen Schriftstellerinnen. Ich werde der Rachel eine Rolle schreiben, und wenn sie sie nicht spielen will, werde ich ihr zeigen, ihr Talent sei geringer als das der ältesten Provinzschauspielerin. Ich gehe nach Venedig und werde am großen Kanal mitten in dieser Feenstadt den prächtigen Dogenpalast mieten, der pro Tag vier Pfund und etliche Sous kostet. Dort will ich mich von den Erinnerungen inspirieren lassen, die Byron, der Verfasser des Lara noch übriggelassen hat. Aus tiefster Einsamkeit heraus will ich die Welt mit einer Sintflut von Kreuzreimen überschütten. Und zu Strophen von Spencer meine gewaltige Seele als Unterlage hergeben. Alle Meisen werden seufzen müssen, alle Turteltauben girren, alle dummen Gänse in Tränen schwimmen und die ältesten Nachteulen aufheulen. Aber der Liebe werde ich unerbittlich und ganz unzugänglich sein. Man soll mich umsonst bedrängen, umsonst beschwören, Mitleid mit den Unglücklichen zu haben, die durch meine hohen Gesänge verführt wurden. Ich werde auf alles das nur mit einem «Pfe!» antworten. Oh Übermaß des Ruhmes! ... Meine Manuskripte werden mit Gold aufgewogen werden, meine Bücher über alle Meere verbreitet, Ansehn und Reichtum an meine Fersen geheftet sein! ich aber ganz kalt, inmitten des Gemurmels der Menge! Mit einem Wort, ich werde eine vollkommene weiße Amsel sein, ein wahrhaft exzentrischer Schriftsteller, gefeiert, verzärtelt, bewundert, beneidet, aber ein absoluter Brummbär und Grobian.