BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Offener Brief

 

1910

 

Erstdruck:

in: Die Schaubühne, 27. Oktober 1910

Textgrundlage:

Heinrich Lautensack, Das verstörte Fest,

Gesammelte Werke.

Herausgegeben von Wilhelm Lukas Kristl.

München: Carl-Hanser-Verlag 1966

 

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Offener Brief an Herrn Regierungsrath Klotz von der Abtheilung für Theatersachen des Königlichen Polizeipräsidiums zu Berlin

 

Sehr geehrter Herr Regierungsrat!

 

Ein Jahr lang auf einem Korridor zu antichambrieren – und sei es der Korridor des Königlichen Polizeipräsidiums von Berlin – und dabei nicht die Geduld zu verlieren, das geht über menschliche Kräfte. Ich schreibe Ihnen also einen Brief, und ich richte, des mehr oder minder allgemeinen Interesses halber, diesen Brief offen an Sie.

Woraus Sie, sehr geehrter Herr Regierungsrat, nun nicht schließen mögen, daß es mir, indem ich ein paar mir bekannte Züge von Ihnen nachzuzeichnen bestrebt bin, darauf ankommt, Ihr Porträt zu dem Schreckbild eines Zensors zu machen. Ich bin nicht derjenige, der den «Staat» in einzelnen seiner Repräsentanten angreift. Lesen Sie vielmehr aus meinen Zeilen nichts als den einen wehen Vorwurf, daß Sie mich an einen Abgrund gedrängt haben, und daß durch Sie mein vielleicht völliger wirtschaftlicher Ruin bevorsteht.

Vor mehr als zwei Jahren wurden von einem hiesigen Theater (da alle hiesigen Theater, so wie die Menschen vor Gott, vor der Zensur gleich sein sollen, tut der Name nichts zur Sache!) zwei Komödien von mir angenommen. Und die eine davon der Zensur sogleich eingereicht, während man die andre, vorläufig wenigstens, erst gar nicht vorzulegen sich getraute. Und nun werden Sie, sehr geehrter Herr Regierungsrat, mir sofort erwidern: diese zweite Komödie sei ja dadurch schon genügend charakterisiert, daß man sie Ihnen einzureichen überhaupt gar nicht sich getraue! Damit aber treffen Sie mich wirklich nicht; denn Sie selber, der Sie mit dem nämlichen Theater fortgesetzt zu tun haben, werden seinen Leitern kaum zutrauen, daß sie so hirnverbrannt handeln konnten, ein Stück für ihr Theater anzunehmen, das sich von vornherein von selbst verbietet. Nein, das charakterisiert weniger meine Komödie als vielmehr die Zensur! Es waren ungefähr fünfzehn Leute, und zehn zumindest im anerkannten und bis heute noch nicht bestrittenen Besitz all ihrer Geisteskräfte, die diese Komödie gerade um ihrer ernsten, schier schmerzlichen Tendenz willen unumschränkt lobten – wenn aber während der einstimmigen Urteilsabgabe etwa das Wort «Zensur» gefallen wäre, so wären alle fünfzehn auseinandergerissen wie eine Hammelherde bei einem Blitzschlag.

Kehren wir indes zu meiner andern, ersten Komödie zurück, die Ihnen gleich nach der Annahme von demselben Theater eingereicht worden ist. Sie, sehr geehrter Herr Regierungsrat, sollen über meine Arbeit aufgeschrien haben: «Gendarmenmord auf offner Landstraße!» Nichtsdestoweniger haben Sie das Stück keineswegs vom Fleck weg verboten (und ich Idealist habe Ihnen das damals gedankt!), sondern wollten eine «Bearbeitung» abwarten. Selbige Bearbeitung ist Ihnen vor reichlich anderthalb Jahren zugegangen – und heute bin ich immer noch ohne jede Nachricht! Ist das die Möglichkeit? Gibt es irgendwie im geschäftlichen Leben, ja selbst in einer gerichtlichen Streitsache eine Entscheidung, die aus nichts und wieder nichts sich länger als ein Jahr hinzieht?! Ist es gestattet, selbst einen zum Tode Verurteilten so lange auf die Bestätigung des Todesurteils warten zu lassen? Versetzen Sie sich, bitte, nur einen Augenblick in meine weit mehr als zwölf Monate währende Lage! Vielleicht habe ich meinen Beruf als Komödienschreiber verfehlt (doch darüber haben Sie nicht zu urteilen!). Jedenfalls hätte ich während dieser Zeit, trotz meiner angeborenen Neigung zur Schwindligkeit, ein ausgelernter Turmseiltänzer werden können. Aber «noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf».

Bleibt nur der eine Vorwurf, der das in Frage kommende berliner Theaterunternehmen trifft: daß es längst hätte monieren müssen. Aber die berliner Theaterverhältnisse in ihrem besonderen Verhältnis zum Zensor, die kennen Sie, sehr geehrter Herr Regierungsrat, ja wohl besser als ich.

Und so schreibe ich heute nicht an Sie: «Fordern Sie, bitte, auch noch mein andres Stück von jenem Theaterdirektor ein!» Sondern ich schreie zu Ihnen aus seelischer wie wirtschaftlicher Qual der Ungewißheit: «Verbieten Sie endlich wenigstens das eine!!»