BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Heinrich Lautensack

1881 - 1919

 

Frank Wedekind's Grablegung.

Ein Requiem

 

1919

 

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Mitternachtsgesang

 

Der in der Schöpfung fiebernde Mensch bei der Schreibtischlampe

während der zwölf Glockenschläge:

 

Alte Nacht!

Was knatterst du?

Lief nicht leer die Spule?

Neuer Tag!

Wo flatterst du?

Jungblutsüßer Buhle!

 

*

 

Abendrot und Morgenrot

Teilen diese Erde

Wie zwei gleiche Stücke Brot

In Enteil'! und Werde!

 

Abendrot und Morgenrot

Lohnt nie ein Zusammen,

Ob sie, einer Sonn' entloht,

Horizont entflammen.

 

Alte Nacht und neuer Tag,

Solche Unterscheide:

Zwölfter Stunde letzter Schlag

Muntert auf – sie beide.

 

Künftiges und Verronnenes

Falten Eure Hände!

Wollt doch mein Ersonnenes

Spalten nicht durch Wände!

 

Nacht! verweil' nicht! Runzel' nicht!

Riegle deine Türen!

Tag! bei dieser Funzel Licht

Muß ich mich noch rühren!

 

*

 

Nein doch! Nacht: bleib mir noch wach!

Probe meine Gründe!

Tag stob ab: darum du mach',

Daß mein Werk sich ründe!

 

Kirchendach um Kirchendach

Bis auf die Sekunde

Stürmte er dem Zeitmaß nach

In der Türme Runde.

 

Aber absolviert die Reih'n

Schlanker Uhrenhäuser

Tritt er resolviert hinein

In der Huren Häuser.

 

Und verpraßt die halbe Nacht

Und kürt weiße Lämmer

Und verpaßt die hohe Wacht,

Spürt nicht Zeitgehämmer,

 

Und er döst allmählich ein,

Wiegt ihn eins der Lämmer;

Und er löst sich erst beim Schein

Von dem frühsten Dämmer.

 

*

 

Alte Nacht!

Was läufst du leer?

Wechsel aus die Spule!

Seufzend folgt sie dem Begehr:

Jungblutsüßer Buhle!...