BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Wronke (Posen)

 

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[Wronke, Anfang Januar 1917.]

 

Sonjuscha, mein liebes kleines Vöglein!

 

Tausend Dank Ihnen für den herrlichen Christbaum, für das wundervolle Bild, für den schönen Spiegel!!, für Ihre Besorgungen und für den Brief. Ich hatte ihn schmerzlich erwartet. Ich habe keinen Tag Ruhe um Sie, habe Sehnsucht nach Ihnen und möchte wenigstens durch ein paar Zeilen öfters mit Ihnen in Verbindung treten. Sie müssen mir oft schreiben, Sie können mir alles Persönliche ungeniert schreiben, ich kriege hier die Briefe direkt. Sie sind völlig im Irrtum, wenn Sie annehmen, ich könnte irgendwelche Züge in Ihrem Wesen nicht verstehen oder geringschätzen. Sie kennen mich noch nicht ganz: Nichts Menschliches und auch nichts Weibliches ist mir fremd und gleichgültig. Ich glaube sogar, ich verstehe Sie schon besser, als Sie ahnen, und überblicke den ganzen tragischen Konflikt, in den Sie mit Karl und durch Karl – namentlich jetzt in seiner Situation 1) – geraten sind. Sie armes Mädchen, wie möchte ich Sie aus dieser schrecklichen Situation herausreißen; ich würde vor schroffsten Mitteln nicht zurückschrecken. Aber allerdings, das Problem wie die Lösung steckt in Ihnen selbst, in Ihrem Innern. Ich dachte nicht, daß Karl Sie noch innerlich so beherrscht, denn dann weiß ich freilich keinen Rat. Ich füge mich in bezug auf die Jungen Ihrem Willen, obwohl ich Ihnen wenigstens äußere Ruhe schaffen wollte. Mit Ihrer Mutter sehe ich den Fall durchaus nicht für so ausweglos an wie Sie. Sie müssen einfach an den Kessel 2) (oder an das Auswärtige Amt?, das kann Ihnen Oskar Cohn 3) sagen) eine Eingabe um Erlaubnis zur Reise nach Schweden machen, um Ihre Mutter zu sehen. Wenn Sie zur Begründung Ihre Verluste in diesem Kriege anführen, bin ich ohne weiteres sicher, daß Sie Erlaubnis kriegen. Und läßt man Ihre Mutter nicht heraus, dann können Sie mit Ihrem Mädchenpaß für einige Wochen vielleicht zu ihr. Karl können Sie ja jetzt wenig helfen, ihn sowieso erst alle drei Monate besuchen (so ist es, glaube ich?), und er muß ja schließlich auch das Opfer bringen, daß er sie für einige Monate freiläßt. Ich bin sicher, er tut es ohne weiteres. Und Sie werden beruhigt und erfrischt zurückkommen. Bitte also, machen Sie gleich eine solche Eingabe. Schreiben Sie mir darüber! Sie brauchen auf diesen Brief keinen Bezug zu nehmen, im übrigen aber ganz frei über alles schreiben.

Sonjuscha, mein kleines Mädchen, pflegen Sie sich, soviel Sie können. Sie müssen viel an die frische Luft gehen, in den Botanischen (beschreiben Sie mir dann, was blüht), gute Romane lesen zur Zerstreuung und viel in Gesellschaft sein; allein sein ist für Sie nicht gut in der jetzigen Stimmung. Und wie ist's mit dem Sanatorium? Wohin, wann? Verlieren Sie keine Zeit. Entweder fahren Sie baldigst nach Schweden oder dann gleich in ein Sanatorium. Schreiben Sie bald!

 

Ich umarme Sie innigst und bin immer

Ihre treu ergebene Rosa.

 

Geschäftliches: Bitte, schreiben Sie gleich, wieviel ich Ihnen in summa schuldig bin (zwei Bücher und Brosche, die wundervoll ist!). Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar für ein Fläschchen Toilettenessig wieder und eine Puderquaste mit Flaum (ins Päckchen per Post).

 

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1) Das Urteil des Oberkriegsgerichts gegen Karl Liebknecht wurde am 4. November 1916 vom Reichsgericht bestätigt und Karl Liebknecht am 8. Dezember 1916 ins Zuchthaus Luckau [in der Niederlausitz] eingeliefert. 

2) Gemeint ist General Gustav von Kessel, Oberkommandierender in den Marken. 

3) Oskar Cohn war seit 1907 Stadtverordneter in Berlin und Mitglied der USPD, siehe In den Briefen erwähnte Personen