BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1917

Aus Breslau

 

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Breslau, 24. 11. 17.

 

Meine liebe kleine Sonitschka,

 

ich hatte mir ohnehin vorgenommen, die Gelegenheit nochmal zu benutzen, um Ihnen zu schreiben. Nun kam gestern auch noch Ihr lieber Brief, und ich muß mit Ihnen plaudern, obwohl ich leider nicht dazu soviel Zeit und Ruhe habe, wie es mir lieb wäre. Reden Sie mir nicht von „hysterischen Dämchen“, mein Vöglein, Verstehen Sie denn nicht, haben Sie nicht bemerkt, daß an Ihrem Übel die besten Frauen leiden? Sehen Sie die Augen der armen Marta 1), in denen so namenloses Leid liegt und so unaussprechliche Angst – Angst, daß die Schranken des Lebens schon geschlossen sind und das eigentliche Leben gar nicht berührt und ausgekostet ist. Die Luise 2) – als ich sie kennenlernte, war sie ein ganz anderer Mensch als jetzt – robust, zufrieden, beinahe dickfellig, fertig. Seitdem hat das Leid und der Verkehr mit anderen Menschen als ihrem Mann aus ihr ein sensibles, weiches Wesen gemacht; blicken Sie in ihre Augen: wieviel Staunen, Unruhe, Tasten und Suchen und schmerzliche Enttäuschung! Und all das auch dasselbe, was Sie klagen ... Ich führe das alles nicht etwa an, um Ihnen den abgeschmackten Trost zu bringen, weil auch andere daran leiden, sollen Sie Ihr Leid vergessen. Ich weiß, für jeden Menschen, jede Kreatur, ist eigenes Leben das einzige, einmalige Gut, das man hat, und mit jedem kleinen Flieglein, das man achtlos zerdrückt, geht die ganze Welt jedesmal unter; für das brechende Auge dieses Fliegleins ist alles so gut [wie] aus, als wenn der Weltuntergang alles Leben vernichtete. Nein, ich sage Ihnen von den anderen Frauen, gerade damit Sie Ihren Schmerz nicht unterschätzen und mißachten, damit Sie sich selbst nicht falsch verstehen und nicht Ihr eigenes Bild vor sich selbst verzerren. Oh, wie wohl ich Sie verstehe, wenn Ihnen jede schöne Melodie, jede Blume, jeder Frühlingstag, jede Mondnacht eine Sehnsucht und Lockung nach dem Schönsten ist, was die Welt zu bieten hat. Und wie ich verstehe, daß Sie „in die Liebe“ verliebt sind! Mir war (oder ist? ...) auch die Liebe an sich stets wichtiger und heiliger als der Gegenstand, der zu ihr anregt. Und zwar deshalb, weil sie erlaubt, die Welt als ein schimmerndes Märchen zu sehen, weil sie aus dem Menschen das Edelste und Schönste herauslockt, weil sie das Gewöhnlichste und Geringste erhebt und in Brillanten faßt und weil sie ermöglicht, im Rausch, in Ekstase zu leben ... Aber, kleine Sonjuscha, Sie sind nicht wie Marta und Luise, an der Grenze des Lebens. Sie sind jung und schön, und sie müssen noch richtig leben. Nur diese fatalen paar Jahre muß man überdauern, aber dann – muß vieles anders werden – so oder so. Sie dürfen und sollen Ihre Rechnung noch nicht abschließen, es ist lächerlich. Ich möchte Sie noch in allen Rausch des Lebensglücks tauchen und werde Ihr Recht darauf fest verteidigen.

Sie irren sich, daß ich von vornherein gegen die modernen Dichter bin. Vor etwa 15 Jahren habe ich Dehmel 3) mit Begeisterung gelesen – irgendeine Prosasache von ihm – am Sterbelager einer geliebten Frau – ich habe eine dunkle Erinnerung – hat mich entzückt. Arno Holz' „Phantasus“ 4) kann ich jetzt noch auswendig. Johann Schlaf's „Frühling“ (Poesie in Prosaform) 5) hat mich damals hingerissen. Dann bin ich abgekommen und zu Goethe und Mörike zurückgekehrt, Hoffmannsthal verstehe ich nicht, George kenn ich nicht. Es ist wahr: ich fürchte bei ihnen allen ein wenig die meisterhafte vollendete Beherrschung der Form, des poetischen Ausdrucksmittels und das Fehlen einer großen, edlen Weltanschauung dabei. Dieser Zwiespalt klingt mir so hohl in der Seele, daß mir dadurch die schöne Form zur Fratze wird. Sie geben gewöhnlich wunderbare Stimmungen wieder. Aber Stimmungen machen noch keinen Menschen.

Sonitschka, es sind so zauberhafte Abende jetzt, wie im Frühling. Ich gehe um 4 Uhr herunter in den Hof, es dämmert schon, dann sehe ich die scheußliche Umgebung in geheimnisvolle Schleier der Dunkelheit gehüllt, dafür leuchtet in heller Bläue der Himmel und ein silberner, klarer Mond schwimmt darauf. Um diese Stunde ziehen jeden Tag quer über dem Hof hoch oben Hunderte von Krähen im lockeren, weiten Band nach den Feldern hinaus, zu ihrem „Schlafbaum“, wo sie zur Nacht rasten. Sie ziehen mit gemächlichem Flügelschlag und tauschen merkwürdige Rufe aus – ganz anders als das scharfe „krah“, mit dem sie bei Tag raubgierig nach Beute jagen. Jetzt klingt das gedämpft und weich, ein tiefer Kehllaut, der auf mich wirkt wie eine kleine Metallkugel. Und wenn mehrere abwechselnd dieses „kau-kau“ gurgelnd ausstoßen, ist mir, als ob sie spielend einander Metallkügelchen zuwerfen, die in der Luft im Bogen schweben. Es ist ein richtiges Geplauder von dem Erleben „vom Tage, vom heute gewesenen Tage“ ... Sie kommen mir so ernst und wichtig vor, wie sie so jeden Abend ihrer Sitte und vorgezeichneten Bahn folgen, ich empfinde wie Ehrfurcht für diese großen Vögel, denen ich mit gehobenem Kopf nachschaue, bis zum letzten. Dann wandle ich in der Dunkelheit hin und her und sehe die Gefangenen, die eilig ihre Arbeiten noch im Hofe verrichten, wie undeutliche Schatten herumhuschen und freue mich, daß ich selbst unsichtbar bin – so allein, so frei mit meinen Träumereien und den verstohlenen Grüßen zwischen mir und dem Krähenzug droben – mir ist so wohl bei dem linden, frühlingsmäßigen Luftzug. Dann gehen die Gefangenen mit den schweren Kesseln (Abendsuppe!) durch den Hof ins Haus, zwei und zwei, marschmäßig, zehn Paar hintereinander; ich folge als letzte; im Hof, in den Wirtschaftsgebäuden verlöschen allmählich die Lichter, ich trete ins Haus und die Türen werden zweimal verschlossen und zugeriegelt – der Tag ist aus. Ich fühle mich so wohl, trotz des Schmerzes um Hans 6). Ich lebe nämlich in einer Traumwelt, in der er gar nicht gestorben ist. Für mich lebt er weiter und ich lächle ihm oft zu, wenn ich an ihn denke.

Sonitschka, mein kleiner Liebling, leben Sie wohl. Ich freue mich so auf Ihr Kommen. Schreiben Sie bald wieder – vorläufig offiziell – das geht ja auch – und dann durch Gelegenheit.

 

Ich umarme Sie.

 

Ihre Rosa.

 

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1) Marta Rosenbaum, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

2) Luise Kautsky, siehe In den Briefen erwähnte Personen. 

3) Richard Dehmel (1863-1920), bei der „Prosasache“ handelt es sich vielleicht um die Erzählung „Die drei Schwestern“ (1893);. 

4) Arno Holz' (1863-1929) Gedichtband „Phantasus“ (1898). 

5) Johann Schlafs (1862-1941) Gedichtband „Frühling 

6) Hans Diefenbach, siehe In den Briefen erwähnte Personen.