BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Rosa Luxemburg

1871 - 1919

 

Briefe aus dem Gefängnis

 

1918

Aus Breslau

 

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[Breslau,] 5. Februar 1918.

 

Liebste Sonitschka,

 

ich höre mit Freuden, daß Sie nächstens zu mir kommen wollen. Da ich dies erwartete, habe ich mit einem Brief gezögert, denn momentan befriedigt mich das geschriebene Wort nicht: mündliche Aussprache ist doch ganz etwas anderes ... Vielen Dank für Ihre beiden lieben Briefe und für den Ulrici 1). Ich habe mich sofort auf die Lektüre gestürzt und bin hoch befriedigt: Er schreibt sehr geistreich und anregend. Ich werde pünktlich zur Frist mit ihm fertig, vielleicht kann ich ihn Ihnen gleich mitgeben. Ich bin aus diesem Grunde froh, daß die anderen Bücher nicht gleich mitkamen. – Den Broodcoorens 2) hat Ihnen Mathilde [Jacob] sicher schon gegeben, und es wird mir sehr interessant sein, Ihren Eindruck und Ihr Urteil über das Buch zu hören. – Es gibt jetzt so schöne Vorfrühlingstage hier! Heute sah ich, als ich unten im Hof spazierte, einen Flug Schwanzmeisen über die Mauer fliegen. Sie kennen wohl kaum diese reizenden Geschöpfe; wenn Sie hier sind, zeige ich sie Ihnen auf dem Bilde. Ich erwarte noch eine Nachricht, wann Sie hier eintreffen. Auf Wiedersehn, Sonitschka! Ich umarme Sie.

 

Ihre Rosa.

 

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1) „Über Shakespeares dramatische Kunst“ und „Geschichte Shakespeares und seiner Dichtung“ von Hermann Ulrici. Siehe den vorigen Brief.  

2) „Rotes Flamenblut“ von Pierre Broodcoorens (Verlag Egon Fleischel & Co. Berlin, 1916. Übersetzung von Johannes Schlaf). Siehe den vorigen Brief.