BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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8.

Die Entstehung einer proletarischen Kampfpartei

in Athen.

 

Den Nutzen aus dem wirtschaftlichen Aufschwung Athens in den Jahren 479–460 zogen meistens dieselben Kreise, die auch politisch die Macht im Staat in der Hand hatten: die Schiffsbesitzer, Kaufleute, Geldleute, Manufakturbesitzer und größeren Handwerksmeister. Kei­nen Anteil an dem Aufschwung des gewerblichen, industriellen und kaufmännischen Lebens hatten die Bauern und größeren Landwirte; aber sie hatten wenigstens ihren Anteil an der politischen Macht. Demgegenüber stehen auf der anderen Seite die Besitzlosen und zugleich auch politisch Einflußlosen: die Seeleute, Hafen- und Trans­portarbeiter, die Handwerksgesellen, die freien Manufakturarbeiter, die Landarbeiter usw. Wir haben eine zuverlässige Zahlenangabe aus [32] dem alten Athen, wonach unter den Bürgern die Zahl der Besitzlosen zu den Besitzenden sich wie 4:3 verhalten hat. Athen hatte in der Zeit, in der wir uns hier befinden, ungefähr 35000 erwachsene männliche Bürger. Darunter waren demnach 20000 Besitzlose und 15000 Besitzende. Dabei werden aber viele kleinbürgerliche Existenzen mit zu den Besitzlosen gerechnet worden sein: arme Handwerker, die sich ohne Gehilfen ernähren mußten, oder ganz arme Kleinbauern, deren Grundstück knapp ausreichte, um ihre Familie zu erhalten. In einem Lustspiel jener Zeit tritt als Typ aus dem athenischen Volke ein Straßenhändler mit Würstchen auf, und wer die Verhältnisse des heutigen Südens kennt, weiß, daß es auch jetzt noch in den dortigen Städten solche Händler und Hausierer in Menge gibt. Man wird solche Leute des alten Athen ohne weiteres den Besitzlosen zuweisen, auch wenn sie ihre Arbeitskraft nicht gegen Lohn zu verkaufen hatten. Es ist schon oben betont worden, daß die amtliche Scheidung zwischen den Besitzenden und Besitzlosen damals nach dem Grundsatz erfolgte, ob der Betreffende in der Lage war, sich selbst die Ausrüstungs­gegenstände für den Dienst im Landheer zu kaufen. Und bei dem Begriff „Proletarier“ in Rom und den entsprechenden „Theten“ in Athen dachte ja der Mensch des Altertums in erster Linie nicht an den Lohnarbeiter, sondern an den Besitzlosen an sich.

Die vielfältigen Berufe des damaligen Athen führt uns ein Schriftsteller des Altertums recht anschaulich vor Augen. Es ist dies Plutarch in seinem „Leben des Perikles“. Er weist daraufhin, daß an den großen Bauten, die in der Zeit des Perikles (gemeint sind die Jahre 445–432 vor Christus) in Athen entstanden, ein großer Teil der Bevölkerung verdiente; denn „da waren Zimmerleute, Bildhauer, Steinmetze, Erzgießer, Färber, Goldgießer, Elfenbeinarbeiter, Maler, Sticker, Graveure, ferner alle die, welche mit der Beschaffung des Baumaterials zu tun hatten, zur See Kaufleute, Schiffer und Steuerleute, zu Land Wagenbauer, Fuhrleute, Kutscher, Seiler, Leinweber, Lederarbeiter, Wegebauer. Jedes dieser Gewerbe hatte wieder, wie ein Feldherr sein Heer, die Massen der Tagelöhner und Handlanger als ausführendes Werkzeug in seinen Diensten, und so erhielt jedes Alter und jeder Beruf seinen Anteil an der Arbeit und am Wohlstand.“ Da sehen wir sie einmal leibhaftig vor Augen, die „Massen der Tagelöhner und Handlanger Athens“, die allmählich unter dem Eindruck dessen, was sie um sich sahen, [33] auch politisch erwachten. Die Bildungsstufe dieser Leute war verhältnismäßig hoch. Schon um das Jahr 500 vor Christus konnte so ziemlich jeder Athener, auch der arme, schreiben und lesen. Es gab zwar keine staatlichen Schulen, aber die privaten Volksschulen waren äußerst billig, und jedermann schickte seine Kinder für ein paar Pfennige zum Schreiblehrer. Der Besuch der Volksver­sammlungen, in denen die politischen Tagesfragen in aller Öffentlichkeit besprochen wurden, trug dazu bei, auch die Besitzlosen politisch aufzuklären, und wenn die Handwerksmeister, die im Rat und den Kommissionen saßen, daheim oder in der Barbierstube von ihren Taten und Eindrücken erzählten, so hörten die Gesellen zu und dachten sich allerhand dabei.

Sehr stark zur Hebung des proletarischen Selbstbewußtseins in Athen trug auch die Entwicklung der Flotte bei. In der Adelszeit führte nur der Ritter die Waffe, und die bürgerliche Republik fand ihren Ausdruck in dem Landheer der Besitzenden. Nun wurde es aber von Jahr zu Jahr immer deutlicher, daß die Machtstellung Athens auf seiner Marine beruhte und nicht auf seinem Landheer. Ohne die athenische Flotte wäre das Reich binnen 24 Stunden zusammengebrochen, und das Reich brachte den Wohlstand. Die zumindest 30000 Ruderer, welche die mobile athenische Flotte brauchte, konnte das Proletariat Athens nicht alle stellen; dazu reichte seine Zahl gar nicht aus. Es mußten also jedesmal, wenn man die Flotte mobilisierte, eine Menge Ruderer auswärts angeworben werden. Aber den Kern der athenischen Flottenmannschaft bildeten doch die vielen Tausende von armen Bürgern, besonders diejenigen, die schon im Frieden auf der See zu tun hatten, die Matrosen, Steuerleute usw. Sie mußten sich sagen, daß sie die eigentlichen Gründer und Erhalter des athenischen Reichs seien; daß sie im Frieden durch ihrer Hände Arbeit den Wohlstand der Besitzenden schufen und im Kriege schützten. So erhob sich bei ihnen die Forderung, diesen Staat, der ohne sie nicht existieren konnte, auch zu beherrschen.

In den sechziger Jahren des 5. Jahrhunderts schloß sich die gesamte arme Bevölkerung Athens zu einer einheitlichen Partei zusammen mit dem Ziel, die politische Macht zu erobern. Ihre Führung übernahm Ephialtes, ein Mann, von dessen Persönlichkeit wir leider sehr wenig wissen, der aber einer der bedeutendsten politischen Köpfe des Altertums gewesen ist. Es war im Grunde genommen nur eine einzige Maßregel nötig, um den bisherigen [34] Staat Athen umzuwerfen und die Herrschaft des Bürgertums durch die des Proletariats zu ersetzen: man mußte den Grundsatz abschaffen, daß die Tätigkeit im Rat und als Geschworener eine ehrenamtliche war. Sobald dem Ratsmitglied und dem Volksrichter Tagegelder gezahlt wurden, von denen sie existieren konnten, war die Schranke gefallen, die bisher den Besitzlosen von der Betätigung im öffentlichen Leben abhielt, und der Grundsatz des Loses, den bereits die bürgerliche Republik aufgestellt hatte, konnte sich nun erst recht bewähren. Denn in allen Bezirken des Staates gab es erheblich mehr arme als reiche Bürger. So mußte die mechanische Anwendung des Loses mit Naturnotwendigkeit im Rat wie in den Schwurgerichten eine Mehrheit der Armen zutage befördern, und war dies erst einmal erreicht, so ergab sich alles Weitere von selbst.

Wir müssen uns aber hier an dieser Stelle gleich darüber klar werden, was die Proletarier Athens nicht anstreben konnten: die Durchführung des Sozialismus konnten sie nicht wollen. Die Forderung der Sozialisierung kann erst erwachsen, wenn der industrielle Großbetrieb da ist, und der fehlte in Athen durchaus. Und die vielen Hunderte von kleinen Betrieben mit bis zu 20 Arbeitern konnte man gar nicht in den Besitz der Allgemeinheit überführen, weil sich kein Apparat hätte schaffen lassen, um diese Kleinbetriebe nach ihrer Übernahme durch den Staat weiter zu leiten. Was hätte man auch mit den vielen Handwerksmeistern anfangen sollen, die eine solche Maßregel erwerbslos gemacht hätte? Der Gedanke einer Sozialisierung des Gewerbes und der Industrie war also in Athen undurchführbar und ist auch nie von einem athenischen Staatsmann geäußert worden. Nur die Bergwerke waren schon seit alter Zeit im Besitz des Staates, der sie an Unternehmer verpachtete. Die Eroberung der politischen Macht konnte also nicht direkt durch die Sozialisierung, sondern nur indirekt die wirtschaftliche Lage der Arbeiter verbessern. Welche Wege das Proletariat Athens zu diesem Ziel einschlug, werden wir weiter unten betrachten. Was endlich die Landwirtschaft betraf, so gab es im Staatsgebiet von Athen sehr wenig große Güter; der mittlere und kleine Bauernbesitz überwog durchaus. Bei den besonderen Verhältnissen Athens hätte also weder eine Sozialisierung noch eine Aufteilung des Großgrundbesitzes etwas Wesentliches geändert. Unter anderen Umständen sind ja gerade im Altertum Revolutionen der ländlichen Besitzverhältnisse oft erstrebt worden. [35]

Ebensowenig wie eine Sozialisierung wollten aber die Proletarier Athens die Abschaffung der Sklaverei. Es ist schon oben betont worden, daß die Solidarität des freien Griechen mit dem aus wilden Ländern eingeführten Sklaven gering war. Immerhin hat das Proletariat Athens, als es zur Macht gelangte, auch eine menschliche Behandlung der Sklaven durchgesetzt, und das bleibt eine Ruhmestat der armen Bürger Athens. Aber die völlige Abschaffung der Sklaverei hätte den besitzlosen Bürgern kaum einen praktischen Nutzen gebracht. Von Arbeitslosigkeit der Freien hören wir aus Athen nichts, und wie unten noch gezeigt werden wird, waren in Athen, unter der Herrschaft des Proletariats, die Löhne der gelernten freien Arbeiter recht hoch, und man kann sich kaum denken, daß sie bei Abschaffung der Sklaverei noch höher gestiegen wären. Es war in Athen stets eine erheblich größere Anzahl von Arbeitskräften nötig, als erwachsene freie Bürger vorhanden waren. Ja, man kann sogar folgendes sagen: auch die Bürger und die Sklaven der Athener zusammengenommen haben den Bedarf auf dem Arbeitsmarkt Athens im 5. und 4. Jahrhundert nicht gedeckt, sondern es waren daneben noch Tausende von freien Arbeitskräften nötig, die aus anderen griechischen Staaten nach Athen einwanderten. Es ist richtig, daß in den vorwiegend agrarischen Staaten Griechenlands schon im 5. Jahrhundert eine gewisse Übervölkerung herrschte, die sich durch Auswanderung, teils in die größeren Städte, teils in die überseeischen Länder, Luft machte. Wäre ganz Griechenland ein Einheitsstaat mit einheitlicher Wirtschaftspolitik gewesen, so wäre der Gedanke richtig gewesen, dem Bevölkerungsüberschuß in den Landgebieten durch Abbau der Sklaverei in den Städten einen Ausgleich zu schaffen. Aber vom einseitig athenischen Standpunkt aus bestand diese Notwendigkeit durchaus nicht. Athen hätte sich höchstens davor zu hüten gehabt, daß ein zu großer Zufluß von freien auswärtigen Arbeitskräften die Löhne der Bürger drückte. Über die Übervölkerung der Landkantone, die im 4. Jahrhundert kritisch wurde, und die Mittel, die man anwandte, um sie zu überwinden, wird unten noch ein Wort zu sagen sein.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 8.

 

1. Wieviel Besitzlose gab es in Athen im 5. Jahrhundert?

2. Welche Berufe hatten diese Leute?

3. Wie stand es mit der Volksbildung in Athen? [36]

4. Welches war die politische Hauptforderung des Proletariats in Athen?

5. Warum wäre eine Sozialisierung in Athen unmöglich gewesen?

6. Hätten die Athener ein Interesse daran gehabt, in ihrem Staat die Sklaverei abzuschaffen?

7. Was für Arbeitskräfte gab es in Athen noch neben den freien athenischen Bürgern und den Sklaven?