BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

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14.

Noch ein Reaktionsversuch

in Athen.

 

Nach der Erneuerung der Proletarierherrschaft wurde Kleophon der einflußreichste Führer des Volkes. Es war zum ersten Mal ein Mann aus der armen, handarbeitenden Klasse, der die politische Leitung übernahm. Kleophon war ein Musikinstrumentenmacher, ein aufopfernder und treuer Mann, aber es fehlte ihm der rechte Blick für die Wirklichkeit. In der Lage, in der Athen sich seit dem Jahre 410 befand, hatte es nichts so nötig wie den Frieden, um endlich wieder die furchtbaren Wunden zu heilen, die Pest und Krieg der Republik geschlagen hatten. Aber Kleophon hat durch seinen Starrsinn manche Friedensmöglichkeit verdorben. Er wollte die Wiederherstellung des athenischen Reichs in seiner alten Herrlichkeit; aber zu einem solchen Sieg reichten die Kräfte des athenischen Proletariats nicht mehr. [63] Wenn Athen gegen die ungeheure feindliche Übermacht auch nur seine Existenz behauptete, so konnte es schon zufrieden sein. Aber da Athen keinen Frieden schließen wollte, ging der Kampf weiter. Heldenmütig schlugen die athenischen Seeleute den Feind, wo sie ihn trafen. Aber am Ende hätte Athen mit seinen ewig leeren Kassen gegen die unerschöpflichen Millionen Persiens doch erliegen müssen. Denn so viele Schiffe die Feinde auch verloren, mit dem persischen Geld wurden wieder neue gebaut. Athen dagegen hatte nur die eine Flotte, und wenn sie ein Unglück traf, war alles erledigt.

Das Ende kam durch Verrat: im Jahr 405 war es einigen Angehörigen der Alkibiadesklique, vor allem einem gewissen Adeimantos, gelungen, sich unter die Admirale wählen zu lassen. Und Adeimantos spielte in den Dardanellen die Flotte Athens den Peloponnesiern in die Hand. Er sorgte dafür, daß die Matrosen an dem bestimmten Tag fast alle Landurlaub erhielten. Der Feind bekam dann einen Wink, erschien plötzlich und nahm die fast unverteidigten Schiffe weg. Athen mußte jetzt Frieden schließen: es trat alle seine Besitzungen ab, legte seine Mauern nieder und fügte sich unter die Kontrolle des Peloponnesischen Bundes.

Gleichzeitig kam auch der erwartete Staatsstreich im Innern (404). Kleophon wurde hingerichtet, ein Märtyrer mehr für die Sache des Proletariats, und die äußerste bürgerliche Rechte riß die Macht an sich. Eine reaktionäre Kommission von 30 Männern übernahm die Regierung. An die Spitze trat Kritias, ein Onkel des Philosophen Platon; selbst ein bekannter Dichter und Freigeist, aber auf politischem Gebiet ein gewissenloser Abenteurer, dem jedes Mittel recht war, um zur Macht zu kommen und die Macht zu behaupten. Eine blutige Schreckens- und Polizeiwirtschaft setzte nun in Athen ein, und um auf alle Fälle sicherzugehen, ließ die Regierung sich noch ein Bataillon Infanterie aus dem Peloponnes kommen. Gestützt auf diese fremden Söldner, sollte die Herrschaft des reichen Bürgertums und seiner politischen Schildknappen aufgebaut werden.

Da zeigte sich im athenischen Bürgertum dieselbe Spaltung wie seinerzeit im Jahre 411. Wiederum protestierte der Mittelstand gegen die Schreckensherrschaft der äußersten Rechten, und wiederum suchte er selbst die Regierung in die Hand zu bekommen. Es war auch der alte Führer, der an die Spitze der Mittelstandsbewegung trat: Theramenes. Er war seit der [64] Wiederherstellung der Proletarierherrschaft in den Hintergrund getreten; hielt sich jetzt aber für stark genug, um seine Gedanken gegen rechts und gegen links durchzusetzen. Aber Theramenes hatte es diesmal mit einem rücksichts- und gewissenlosen Gegner zu tun, der seine Machtstellung bis aufs äußerste verteidigte. Für Kritias war Theramenes ein gefährlicher Schwärmer, dessen Treiben darauf ausging, die Herrschaft der besitzenden Klasse wieder zu unterwühlen; also mußte er beseitigt werden. Gegen Theramenes wurde Anklage wegen Verrats erhoben. Nach einer jämmerlichen Justizkomödie setzte Kritias es durch, daß sein Gegner verurteilt und hingerichtet wurde. Kritias redete sich ein, daß er die Herrschaft seiner Partei durch die Hinmordung des Theramenes gesichert habe. Tatsächlich war das Todesurteil gegen Theramenes zugleich auch das Todesurteil für das besitzende Bürgertum als politische Partei. Es war jetzt für jedermann klar, daß all die schönen Redensarten, mit denen man die Reaktion in Athen rechtfertigen wollte, weiter nichts waren als Lug und Trug. Die „Herrschaft der Besitzenden“, die „Verfassung der Väterzeit“, wie man sie gewöhnlich nannte, war tatsächlich die blutige Tyrannei einer kleinen Clique. Es hatte in Athen kein Mann gelebt, der ein entschiedenerer Gegner der Proletarierherrschaft, ein ehrlicherer Freund der „Verfassung der Väter“ gewesen war als gerade Theramenes. Und diesen Theramenes hatte die bürgerliche Regierung hinmorden müssen, um ihre Existenz zu fristen, und das einzige Verbrechen des Theramenes war gewesen, daß er es mit den Idealen der „Väterzeit“ wirklich ernst genommen hatte.

Eine Regierung, die in dem Grade den Ekel und die Verachtung fast der gesamten Bevölkerung Athens auslöste wie die des Kritias, konnte sich nicht halten; trotz der fremden Söldner und der aus den Söhnen der Reichen rekrutierten weißen Garde, auf die die „30“ sich stützten. Noch im Winter des Jahres 404 kam es zu einer revolutionären Erhebung. Derselbe Thrasybulos, der im Jahre 411 an der Spitze der athenischen Flotte dem Staatsstreich die Anerkennung verweigert hatte, lebte seit dem Sturz der proletarischen Demokratie als Flüchtling im Ausland. Nun überschritt er mit 70 Freunden die Grenze des athenischen Staates. Er überrumpelte die kleine Grenzfestung Phyle und pflanzte dort das Banner der proletarischen Republik auf. Der Zug des Thrasybulos erinnert an die unsterbliche Fahrt Garibaldis, als er mit seiner kleinen Schar das verruchte [65] Königtum der Bourbonen von Neapel umwarf. Von allen Seiten erhielt Thrasybulos Zulauf, und bald waren aus seinen siebzig Anhängern 1000 geworden. Nun gingen die Revolutionäre zum Angriff über: Thrasybulos schlug den Kritias, seine Söldner und weißen Garden und besetzte die wichtige Hafenstadt Athens, Piräus. Im März 403 fiel Kritias selbst in einem Gefecht, und damit war die Kraft der schon wankenden Reaktion endgültig gebrochen. In der Stadt Athen wurde damals noch einmal ein Versuch gemacht, eine Mittelstandsregierung aufzurichten. Aber gegenüber dem begeisterten Schwung, mit dem die Sache des Proletariats vorwärtsgetragen wurde, waren solche bürgerlichen Rettungsversuche der 11. Stunde aussichtslos. Was aber vielleicht das Wichtigste war: die Regierung des Kritias und seine Partei wurden von der öffentlichen Meinung ganz Griechenlands so verachtet, daß auch der Peloponnesische Bund, damals die erste Militärmacht der Griechen, seine Hand von der athenischen Reaktion abzog. Die Peloponnesier hatten nichts dagegen einzuwenden, daß in Athen die proletarische Demokratie wiederhergestellt wurde. Im Herbst 403 war der bürgerliche Staatsstreichversuch erledigt, und Athen hatte wieder dieselbe Verfassung wie in der Zeit des Perikles und Kleon. Die wichtigste Lehre, die sich aus den beiden Putschen von 411 und 404 ergeben hatte, war die, daß das Bürgertum in Athen überhaupt nicht mehr imstande war, zu regieren. Die angebliche Herrschaft der Besitzenden artete beidemal in ein wüstes Schreckenssystem aus, bei dem der Mittelstand in Stadt und Land ganz ebenso verfolgt wurde wie die Proletarier selbst. Es blieb kein anderer Ausweg: die einzige Staatsform, die in Athen Ruhe, Vernunft und Gerechtigkeit verbürgte, war die Herrschaft des Proletariats. 80 Jahre ist nunmehr in Athen die proletarische Demokratie unangefochten geblieben. Sie, und mit ihr die Größe Athens überhaupt, ist erst infolge einer grundstürzenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung in ganz Griechenland dahingeschwunden.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 14.

 

1. Wie war die innen- und außenpolitische Lage Athens nach dem Jahre 410?

2. Welches war der Hauptfehler Kleophons?

3. Wodurch verlor Athen seine Flotte?

4. Welchen Einfluß hatte der außenpolitische Zusammenbruch auf die Verfassung Athens? [66]

5. War das athenische Bürgertum im Jahre 404 einig oder spaltete es sich wieder?

6. Welches waren wieder die beiden Richtungen des Bürgerums, und wer führte sie?

7. Welches Schicksal hatte Theramenes?

8. Welche politischen Folgen hatte der Prozeß des Theramenes?

9. Wodurch wurde die proletarische Revolution des Winters 404–403 siegreich?

10. Wie stand der Mittelstand zu der Erhebung des Proletariats?

11. Welche Stellung hatte die proletarische Demokratie in Athen nach dem Jahre 403?