BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Arthur Rosenberg

1889 - 1943

 

Demokratie und Klassenkampf

im Altertum

 

1921

 

____________________________________________________________

 

 

 

20.

Die Erneuerung der Leibeigenschaft und der

Zusammenbruch des Römischen Reichs.

 

In den Ländern des Römischen Reichs lebte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Die Verhältnisse auf dem Lande mußten also für die Beziehungen der Klassen zueinander entscheidend sein. Es ist schon oben betont worden (S. 11), daß im Laufe der Kaiserzeit der ländliche Großbetrieb mit Sklavenarbeit verschwin­det; aus dem einfachen Grunde, weil die vorhandene Sklaven­bevölkerung ausstarb – die direkte Volksvermehrung ist bei Sklaven immer nur gering – und die Zufuhren neuer Sklaven aufhörten. Die großen [91] Güter in Italien und Sizilien, die früher von Sklaven bear­beitet worden waren, wurden nun von den Besitzern an freie Pächter verteilt. Schon abgesehen davon hatte es in Italien stets eine erhebliche Anzahl von Pächtern gegeben, und überdies können wir beobachten, wie in der letzten Zeit der Republik und in der Kaiserzeit immer mehr selbständige Bauern zu Pächtern werden. Die Bürgerkriege der späten Republik trafen den italienischen Bauernstand schwer: der Landwirt konnte vielfach sein Feld nicht bestellen oder seine Waren nicht auf den Markt bringen; infolgedessen auch seine Hypothekenzinsen nicht bezahlen. Der Versuch Catilinas, die Bauern von ihren Schulden zu befreien, scheiterte ja, und so blieb Tausenden und Abertausenden von Bauern, die sich selbständig nicht halten konnten, nichts anderes übrig, als sich wirtschaftlich unter den Schutz eines Stärkeren zu stellen, also Pächter zu werden. Im 1. Jahrhundert der Kaiserzeit herrschte zwar Friede, aber der Bauer konnte sich doch nicht erholen, weil er zu wenig verdiente, um seine Schulden abzahlen zu können und so der Gefahr zu entgehen, daß der Gläubiger ihn in einem schlechten Jahr von Haus und Hof jagte. So kam es, daß die Zahl der Pächter immer mehr zunahm. Erst um das Jahr 100 raffte sich die Reichsregierung zu einem Rettungsversuch für die Bauern Italiens auf, indem nun das Reich den kleinen Landwirten Hypothekengeld zu den günstigsten Bedingungen zur Verfügung stellte. Aber damals war es schon zu spät: der Sieg des Großgrundbesitzes und des Pachtbetriebes über den selbständigen kleinen Besitzer war schon entschieden.

An sich war ja der Pächter genauso ein freier Staatsbürger wie der selbständige Bauer, und in der Gemeinde, der er angehörte, hatte der Pächter ebensoviel zu sagen wie der Grundherr. Aber allmählich änder­te sich dies. Denn die Großgrundbesitzer gehörten ja den herrschenden Klassen an, die das Reich regierten, und die Pächter zählten zur Klasse der Armen, die man in der späteren Kaiserzeit als eine minderwertige Menschensorte ansah. So ist es begreiflich, daß die Grundherren das Ziel hatten, ihre politische Macht auch auf wirtschaftlichem Gebiet auszunutzen und ihre Pächter herabzudrücken und auszubeuten, so arg wie nur möglich. In den Ländern des Reichs außerhalb von Italien sah es nicht viel anders aus. Im Orient und in Frankreich hatte der Großgrund­besitz schon vorher geherrscht, ehe die Römer dorthin gekommen waren, und nach [92] Nordafrika und Spanien kam diese Wirtschaftsform zusammen mit der römischen Eroberung und Kolonisation.

Um das Jahr 300 ging im Römischen Reich eine große Wandlung vor sich: der Kaiser gewann, gestützt auf das Heer, unumschränkte Gewalt. Nun wurde die alte Selbstverwaltung der Gemeinden beseitigt und durch ein bürokratisches System ersetzt; die Armee wurde riesig vermehrt und der Bevölkerung eine gewaltige Steuerlast auferlegt. Der Reichsadel, die Großgrundbesitzer und Millionäre, verloren bei dieser Umwälzung scheinbar ihre politische Macht; denn bisher hatte ja der Kaiser seine Gewalt mit dem Senat teilen müssen, in dem jene Herren saßen. Der Einfluß des Senats fiel weg; aber die von jetzt ab regierenden kaiserlichen Beamten verstanden sich doch in der Praxis mit den Großgrundbesitzern sehr gut, und alle maßgebenden Gewalten – Kaiser und Offiziere, Beamte und Gutsbesitzer – vereinigten sich, um die ärmere Bevölkerung niederzuhalten und auszubeuten. Auch das Christentum, das in seinen Anfängen einen revolutionären Charakter getragen hatte, trat diesem Treiben nicht mehr entgegen. Denn es war inzwischen Staatsreligion geworden; die Kaiser selbst nannten sich Christen, und wenn auch einzelne Geistliche tapfer für die arme Bevölkerung eintraten, hielt die große Mehrheit der Priesterschaft zu den Unterdrückern. Im 4. Jahrhundert setzten die Gutsbesitzer es durch, daß die Pächter ihr Grundstück nicht verlassen durften, und wenn man gegen sie Fluchtverdacht hegte, durfte man sie in Fesseln legen! Aus dem freien, römischen Bürger war also ein hilf- und rechtloser Leibeigener geworden. Die städtischen Handwerker und Arbeiter standen unter einem ebenso harten Polizeidruck.

Es ist seltsam, daß die Massen sich gegen dieses schändliche System nicht mit Gewalt auflehnten. Aber es kam eigentlich nur in Frankreich zu Bauernaufständen, die ohne viel Mühe unterdrückt wurden. Es rächte sich jetzt, daß die Massen – auch in Italien – es sich seit Beginn der Kaiserzeit abgewöhnt hatten, die Reichspolitik zu beachten. Die Interessen des einzelnen beschränkten sich auf seine Gemeinde. Den Massen fehlte jeder Zusammenhalt, jeder einheitliche Gedanke des Klassenkampfes. So waren sie nicht imstande, in offenem Kampf sich zu befreien. Aber der passive Widerstand der breiten Masse und die unbedingt staatsfeindliche Gesinnung, die sie erfüllte, hat am Ende doch das römische Riesenreich untergraben. Die Kaiser [93] wagten es bald nicht mehr, ihren lieben Landeskindern die Waffen in die Hand zu geben; deshalb wurde die römische Armee meistens aus halbwilden ausländischen Söldnern, besonders aus Germanen (Deutschen), zusammengesetzt. Allmählich sahen aber die Obersten und Generale der Söldnertruppen ein, daß die erhabenen Kaiser, Minister und Geheimräte nur dank ihren Säbeln regierten. Als sie diese Erkenntnis gewonnen hatten, zogen sie auch die Schlußfolgerungen daraus. Im Jahre 486 hat in Italien ein General deutscher Abkunft, Odovacar, gestützt auf seine Soldaten, den Kaiser Romulus einfach pensioniert und selbst die Regierung des Landes übernommen. Ähnlich verfuhren andere Generale in Frankreich, Spanien und Nordafrika. Als aber so das Römische Reich und die Kaiserherrlichkeit in Trümmer gingen, da rührten die Untertanen nicht einen Finger für das alte System: im Gegenteil, sie hatten zu den fremden Soldaten viel mehr Vertrauen als zu der alten Bürokratie und Klassenjustiz. Die Militärherrschaft der aus­ländischen Söldner bildet dann in den Ländern Westeuropas den Über­gang zu neuen Formen des politischen und wirtschaftlichen Lebens, deren Betrachtung aber außerhalb des Rahmens dieser Darstellung liegt. Wie im Westen des Römischen Reiches, so ging es auch im Osten. Als dort die mohammedanischen Araber in das Reich einbrachen, nahmen die Einwohner die fremden Eroberer gern auf, um die römische Mißwirtschaft loszuwerden. Die Großgrundbesitzer und Millionäre, die Bürokraten und Bischöfe sind also im späteren Römischen Reich imstande gewesen, ihre Klassenherrschaft rücksichtslos der armen Bevölkerung aufzuzwingen. Nebenbei bemerkt, fällt diese brutalste Unterdrückung der ärmeren Klasse, von der die Geschichte des Altertums zu berichten hat, in eine Zeit, in der die Sklaverei fast gar nichts mehr zu bedeuten hatte. Man sieht daraus wieder einmal, wie wenig der Gegensatz Freier – Sklave die Klassenkämpfe des Altertums beherrscht. Aber dieses Unterdrückungssystem im späten Römischen Reich hat die Kraft des Riesenstaats gebrochen: die herrschende Klasse ist zwar nicht von innen heraus, aber doch unter Mithilfe der Beherrschten von außen her gestürzt worden.

 

Fragen im Anschluß an Kapitel 20.

 

1. Aus welchen Gründen ging die Zahl der selbständigen Bauern in Italien zurück?

2. War der Pächter in der frühen Kaiserzeit ein freier Bürger? [94]

3. Wodurch wurde die Lage der Pächter immer schlechter?

4. Wie ist der Pächter zum Leibeigenen geworden?

5. Welches System herrschte im Römischen Reich seit dem Jahre 300?

6. Wie stand die christliche Kirche zum Staat und zu den einzelnen Klassen?

7. Wie wurde in jener Zeit die Armee zusammengesetzt?

8. Welches war die Hauptursache für den Zusammenbruch des Römischen Reiches?