BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hugo Salus

1866 - 1929

 

Das blaue Fenster

 

Novellen

 

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Pietà

 

Ein einsames Kirchlein mitten im Walde hat immer etwas Verträumtes; es ist so, als hätten die Häuser der Menschen, deren Heiligtum es war, das Kirchlein verlassen, so daß es nun ganz allein zurückgeblieben ist, bis die Bäume des Waldes an seine Mauern hinanwuchsen; oder als wäre es, einsamkeitssüchtig und der Welt überdrüssig vom Tale heraufgeflogen, um fürder recht als ein Einsiedel hoch oben im grünen, stillen Forste zu träumen.

In solch einem Kirchlein vertritt dann die Waldfrömmigkeit und der Märchenzauber des Wanderers etwa mangelnden Glauben; und er kniet in dem Heiligtume ehrlich und wundergläubig wie ein Kind.

Ich habe im Sommer heuer solch ein einsames Kirchlein mitten im Hochwalde gefunden; es sah etwa wie eine kleine Dorfkirche aus, die sich aber seltsam genug an einen hohen und runden Turm anschmiegte: so daß es gleich den Anschein weckte, als wäre an einen alten Wartturm später die Kapelle angebaut worden. Ich war durch den schönen Wald wie immer in dem Gefühle gegangen, durch einen Dom zu schreiten, so daß ich lächelnd nunmehr das kleine Gotteshaus mitten in der Heiligkeit des Domes gewahrte. Die Tür der Kapelle war leicht geöffnet und das Innere des Kirchleins hell und freundlich. Ich legte meinen Wanderhut auf eine der wenigen Bänke und ging auf ein Grabmal zu, das an der einen Seitenwand sich vom Boden erhob. Es war das langgestreckte Grabmal eines adeligen Fräuleins, und ihre Gestalt war aus dem Sandstein herausgemeißelt, so daß sie mit gefalteten Händen wie in ihrem Sarge da auf der Erde lag. Auf ihrem Gesichte spielte der Sonnenschein, der durch das Fenster der gegenüberliegenden Wand hereinleuchtete, aber seltsam bläulich schimmernd, so daß ich den Strahl gleich zu dem Fenster zurückverfolgte und dort mitten in dem Fenster eine blaue Glasscheibe gewahrte, von einem so tiefen und satten Blau, wie ich es noch nie gesehen habe. Da schaute ich mir das Gesicht der Schlummernden noch einmal an, ich beugte mich darüber, aber so, daß der bläuliche Schimmer nicht verdeckt wurde, und blickte nun in ein zartes, leidverklärtes Antlitz von einer solchen Reinheit der Linien, von einem so schmerzlich erkämpften Frieden, daß ich auf das innigste ergriffen ward. Schlicht gescheiteltes Haar umrahmte die eingesunkenen Schläfen, die Augen wölbten die zarten Lider wie große Kugeln vor, eine stolze, edelgeformte Nase ragte zwischen den eingefallenen, verhärmten Wangen umso ausgeprägter empor, aber das Wunder war doch der schmale und beinahe lächelnde Mund, um den ein Frieden, eine heilige Ruhe lagerten, wie sie der Tod nur solchen Lippen läßt, die viel, unendlich viel gelitten haben.

Da setzte ich mich auf den Grabstein hin, ich fing wohl träumend die blauen Strahlen mit meinen Händen auf und goß sie dann wieder über das bleiche Totengesicht und las aus den süßherben Zügen ihre Geschichte.

Und jetzt, da ich sie niederschreibe, ist es mir hier in meinem Zimmer wie ein Wunder, daß weit von hier, hoch in den Wäldern droben, ein Kirchlein steht und daß dort durch ein tiefblaues Kirchenfenster die Sonne auf ein schmales Angesicht scheint, seit Jahrhunderten und wohl noch jahrhundertelang, ein Angesicht voll Leid und erkämpftem Frieden.

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Meilenweit, hügelauf, hügelab Tannenwald um das weiße Schloß. Die Täler hinab bis an die Meierhöfe und kleinen Dörfer, die Berglehnen hinan und über die Bergrücken rauschender oder heiligstiller Forst mit sturmerprobten Bäumen bestanden; oben von dem einsamen Rundturme mit seinem spitzigen Dachhütlein schweift der Blick wie über ein großwelliges Meer über die hellgrünen Baumkronen in der Nähe, über die schon ferneren dunkelgrünen Wipfelfelder, über das bläuliche Grün der Forste am Horizonte, die wie breite Moosflächen sich an den runden Himmelsrand schmiegen. Und drüber über dem besonnten und doch so dunklen Grün schwebt auf breiten Schwingen ein Adler oder wiegt sich wohlig ein Edelfalke. Deutsche Waldlandschaft, Besitz des Grafen Otto Eberstein, der mit seinen fünfzig Jahren mächtig und eigensinnig in seinem Schlosse sitzt und doch schon ein Greis sein sollte, so viele Pfade und Steige hat die Sorge und das Leid zum Schlosse gefunden. Er war ein gar lebensfreudiger Herr gewesen, der neben dem Fürsten sitzen durfte und dessen Schimmel gleich hinter des Kaisers Rappen in das Geschirr schäumte, wenn sie prächtig zum Reichstage ritten. Dann hatte ihn eine edle Fürstentochter zum Gatten erwählt, und sie hatten ein glückliches Jahr in dem weißen Schlosse verlebt und der Forst hatte Ja und Amen dazu gerauscht: bis die Tochter Berta geboren ward, ein glückliches Ereignis und doch allen Elends Anfang. Denn die junge Mutter verfiel in eine schwere, hitzige Krankheit, aus der ihr Leib genas, indes ihr Gemüt verwirrt blieb in einer tiefen Schwermut, daraus sie nie wieder genesen sollte.

Sie saß die erste Zeit nach ihrer Krankheit trübselig auf ihrem Lager, auf ihre entstellten, schlaffen Brüste niederstarrend oder im Spiegel die verlorene Frische ihrer Wangen suchend, als könnte ihre Schönheit unmöglich wiederkehren: so tiefe Runen hatten die Schmerzen der Geburt und die Leiden ihres Siechtums in ihr zartes, mondscheinblasses Gesicht geschrieben. Dann lachte sie traurig auf und barg sich hinter dem Linnen, wenn der Graf sie besuchen kam und wollte sich um keinen Preis zeigen: so häßlich schien sie sich, so zerstört deuchte sie ihr Liebesglück, so abscheulich ihr Körper und ihr Antlitz, daß sie immer wieder aufjammerte, nun werde der Graf sein Liebesverlangen bei schöneren Frauen stillen. Und einmal ward sie von der Amme überrascht, da sie sich eben über die Wiege des Kindes beugte mit funkelnden, rachegierigen Augen, und dann blitzschnell den Säugling in die Höhe hob, wohl um ihn an der Wand zu zerschmettern. Da war ihr die starke Bauernmagd noch rechtzeitig in die Arme gefallen und hatte das Kind gerettet. Die Gräfin aber wurde von dem Tage an in einen fernen Teil des Schlosses gebracht und dort wohl bewacht, daß sie nicht mehr zum Kinde kommen konnte.

Dort lebte die Kranke denn die jungen Jahre ihres Lebens dahin mit der Wärterin und späterhin mit der Amme, da das Kind ihrer nicht mehr bedurfte, trübselig vor sich hinstarrend und immer seltener in einen jener fürchterlichen Wutausbrüche verfallend, daraus sie noch elender und siecher hervorging.

So daß die mutterlose Berta eine traurige und liebeleere Kindheit verträumte.

Denn der Graf hatte wohl die ersten Monate in inniger, liebreicher Teilnahme sein verwirrtes Ehegemahl betreut, da er jeden Morgen von neuem gehofft hatte, der böse Schleier, der sich um ihr Gemüt gelegt hatte, müsse sich endlich heben und die Augen der Gräfin wieder klar, heiter und warm zu ihm emporblicken. Aber Tag um Tag, Woche um Woche verging, aus den Augen der Kranken starrte ihn ein schreckhaftes Nichterkennen, eine böse Angst an, und der Sonnenstrahl, der ihre einst so schönen, blauen Augen traf, wurde fahl und grau, wenn er aus ihren düsteren Augensternen zurückkehrte; so daß der Jammer mit knochigen Fingern immer fester des Grafen Herz umkrallte, bis daß er hoffnungslos, gleichgültig und endlich fast feindselig sich gegen sein Weib auflehnte und immer seltener das Gemach der Kranken aufsuchte.

Zu Berta hatte er eine verwitwete Verwandte ins Schloß berufen, die in Trauerkleidern das verschüchterte Kind leitete und die auch das Trauerkleid von ihrer Seele nicht abstreifen konnte, so liebevoll und zart sie auch mit dem Kinde umging. Und in den ersten Jugendjahren war es für das Kind immer noch ein Fest, wenn die Amme einmal herüberkam und mit ihr schön tat. Denn der Vater verstand die holde Kunst schlecht, eines Kindes Seele zu eröffnen und ihr ein Lachen, ein Jubeln, ein Jauchzen zu entlocken, das die eigene Seele wieder jung zu machen und ihre Flügel zu lösen vermag.

So war das Kind zehn Jahre alt geworden und ein kluges, stilles und verträumtes Kind mit den tiefsten und klarsten blauen Kinderaugen und sah versonnen und traumverloren in die Welt, die ihr aus Zimmern, seltsamen Menschen und Waldesrauschen bestand und darin ihr, ohne daß sie wußte was, etwas fehlte, das ihre Augen hätte aufleuchten lassen. Und es war wieder einmal die Amme bei ihr gewesen und hatte ihr abergläubische und wunderbare Märchen erzählt bis in die Dämmerung. Berta hatte sich an ihre Kniee geschmiegt und sie hundertmal umarmt und ihr immer wieder verstohlen zugeflüstert: «Ach, Amme, du bist gut!» Bis einer der Diener von der Gräfin drüben sie holte; die sei wieder schlimm geworden. Da war die Amme davongeeilt, um nach ihrer Kranken zu schauen. Und hatte nicht gemerkt, daß das Kind, durch das Dunkel und die Märchen verwirrt, ihr nachschlich, wohl weil seine Liebe es der guten Amme nachdrängte, vielleicht auch, weil es etwas ahnte oder fürchtete in seinem erwachten Kinderherzen, ein tiefes Geheimnis, das man ihm verbarg, und das es entdecken wollte.

So geschah es, daß Berta auf dem dunklen Gange durch die verbotene Tür schlüpfte und plötzlich in einem hohen, erleuchteten Zimmer stand, darin eine große Frau mit aufgelösten Haaren schreiend und händeringend umherirrte und sich dann erschöpft auf die Erde hinkauerte, den Kopf jammernd zwischen den Knieen verbergend. Dann hob die Frau ihr Haupt wieder empor und starrte plötzlich mit dem weit offenen Munde einer Maske und mit entsetzten Blicken zur Türe, wo das Kind zitternd stand, und dann stieß der starre Mund einen furchtbaren Schrei aus. Da hatte die Amme aber auch schon das Kind erblickt und hatte es schnell aus der Tür gedrängt und mit einem der Diener in sein Zimmer geschickt.

Es zitterte und war ganz bleich geworden, es hatte den Mund offen wie jene Frau drüben, nur daß es nicht schreien konnte, und endlich in den Armen seiner Pflegemutter löste sich das Entsetzen des Kindes, ein heißer Tränenquell sänftigte sein verwirrtes Gemüt. Und so lag Berta die ganze Nacht in den Armen ihrer Pflegerin, die mild auf sie einsprach und die ihr Gesicht eng an des Kindes bleiche Wangen drückte, als wolle sie alle bösen Geister davon abhalten.

Nach diesem Abend, der das Mädchen um viele Jahre älter machte, wurde die kranke Gräfin mit der Amme in den runden einsamen Turm oben im Walde gebracht, zu dem ein schattiger Waldpfad wohl eine Stunde lang vom Schlosse emporklomm; so daß in den folgenden Nächten denen im Schlosse unten ein neues Sternlein aufleuchtete, die Ampel im friedlosen Schlafgemach der Gräfin.

Das Kind aber verblieb noch einige Monate im Schlosse. Es war sehr nachdenklich und schreckhaft geworden, aus dem Schlafe schrie es oft und verzerrte das Gesicht wie in einer großen Angst und stöhnte aus seinen Träumen. Da wußte sich der Graf, dem das scheue Wesen seines Kindes unheimlich war, nach langer Beratung mit seiner Base und dem Pfarrer keinen andern Rat, als sie aus dem Hause zu geben. Und Berta kam zu den Feldegg, armen Rittersleuten, die dem Grafen eine Meierei verwalteten und die stundenweit vom Schlosse in einem Tale hausten; hier verblieb Berta durch viele Monate.

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Die ersten Wochen weilte die Base bei dem Mädchen. Dann aber fuhr sie von dannen, da sie sah, wie wohl die neue Umgebung und die Güte der Meiersleute auf das Gemüt des Kindes wirkten. Die waren brave Menschen, denen von ihren Kindern nur ein Knabe geblieben war, Leon, der etwa vierzehn Jahre zählen mochte, und sie freuten sich über die Auszeichnung, nunmehr die Tochter ihres Herrn pflegen zu dürfen; was ihnen in ihrer bedrängten Lage gewiß zum Vorteile gereichen mußte. Sie waren einst selbst wohlbegütert gewesen, aber durch Wetterschäden, allerlei Krankheiten und Unglück heruntergekommen, so daß sie gern ein Lehen des Grafen empfingen.

Nun nahm sich also Frau Anna, Leons Mutter, des armen Grafenkindes mit all der überschüssigen Liebe an, die ihren verstorbenen Kindern zugedacht war; und sie verhätschelte und verzärtelte das Kind, das anfangs solche Liebe gar nicht verstand; denn die brave Rittersfrau wußte wohl um das traurige Geschick des mutterlosen Kindes und empfand es in ihrem frommen Gemüte als eine himmlische Gnade, daß sie es nun pflegen und ihm die Mutter ersetzen dürfe. Und ihrem Leon hatte sie in einer jener fürs ganze Leben unvergeßlichen Stunden, da Herz zu Herzen spricht, erklärt, wie unglücklich Berta trotz ihres Ranges und Reichtums sei, da sie ohne Mutter lebe, und der gute, geweckte Knabe hatte als Antwort und Beweis, daß er sie verstanden habe, die Mutter weinend und wortlos umarmt und immer wieder an sich gedrückt und ihr dann geschworen, er wolle die junge Gräfin wie ein Ritter schützen.

Und der Knabe hielt sein Versprechen. Er war schlank und wohlgebildet und hatte jene pagenhafte Art, die Knaben von seiner Art die gröberen Altersgenossen fliehen und die Einsamkeit mit ihrem Rauschen und Raunen lieben läßt; so daß mit vierzehn Jahren viel mehr Dichter in den Landen herumträumen, als das Leben später zuläßt. Er betrachtete das Grafenkind mit bewundernder Scheu, weil sie viel Leids erlebt hatte und weil sie des Grafen Kind war. Und er freute sich, daß sie in seinen Märchen so gut die traurige Prinzessin oder verlassene Königin vorstellen konnte, die auf ihren Ritter wartet.

Berta gab ihm denn auch gern ihre Hand, wenn sie in den Wald gingen, gesittet wie bei Hofe, und lauschte seinen Worten, denn er wußte gar manches, was sie noch nicht gelernt hatte. Und im dichten Waldesschatten sitzend, erzählten sie einander von ihrem Leben.

«Ich will einmal was Großes werden,» sagte er, «der Vater möchte mich zu einem Soldaten machen, aber ich will lieber ein Gelehrter werden oder ein berühmter Arzt oder ein Papst, der in Rom wohnt. Und die Mutter, meine liebe Mutter» ..... da unterbrach er sich aber, denn er hatte einen flüchtigen Blick auf Berta getan und nun schwieg er betroffen still. Die zwei großen, blauen Augen neben den seinigen taten ihm leid, sie waren so traurig, und plötzlich schlang er den Arm um die Schultern seiner Gespielin: «Du mußt immer bei uns bleiben, bei uns ist es schön und, wenn ich ins Kloster komme, um zu lernen, mußt du an meiner Statt bei der – bei dem Vater und der Mutter bleiben. Im Sommer kehre ich dann immer wieder zu euch heim und dann wollen wir mitsammen in den Wald gehen und ich will dein Lehrer sein. Willst du, willst du?» fragte er in der eindringlichen Art von Kindern.

«Ja, ich will,» sagte sie. «Aber du mußt auch einmal zu uns aufs Schloß kommen.» Dabei rückte sie noch einmal so eng an Leon heran und senkte ihre Stimme und flüsterte ihm ins Ohr: «Und dann mußt du über den dunklen Gang in das hohe Zimmer gehen, wo die arme traurige Frau ist, und mußt ihr sagen, sie dürfe nicht so traurig sein und solle mit uns kommen! Willst du, willst du?»

«Deine Mutter,» sagte Leon geheimnisvoll und stolz, daß er um das Geheimnis wußte. «Ist das meine Mutter?» brachten die bleichen Lippen Bertas mühsam hervor. «Ich habe keine Mutter! Wenn sie meine Mutter ist, die arme, erschrockene Frau drüben, warum lassen sie mich nicht zu ihr? Warum hat sie die Arme so vor sich ausgestreckt, wie sie mich erblickte?» Und sie streckte die Hände weit von sich und machte das entsetzte Larvengesicht wie damals, da sie bei der Kranken gewesen war.

Darauf wußte der Knabe aber keine Antwort, und sie saßen eng umschlungen unter dem alten Baume, und sie weinte, während der Knabe die von Tränen Erschütterte nur immer an sich hielt und streichelte.

«Mutter,» fragte Leon in der Dämmerung, da sie allein miteinander waren, «Mutter, sprich, warum weiß Berta nicht, daß die kranke Frau in dem großen Zimmer im Schlosse ihre Mutter ist? Warum weint sie und glaubt, daß sie keine Mutter habe?»

Da stand die Mutter auf und holte Berta und sagte ihr mild und sanft, daß jene bleiche Frau im Saale eben ihre Mutter sei, eine gute, liebe Mutter, nur daß sie krank sei, denn ein Nebel habe sich vor ihre Augen gesenkt, so daß sie weder den Grafen, noch auch ihr eigenes geliebtes Kind sehen könne und immer nach ihnen begehre und sie herbei wünsche. Wenn dann der Graf zu ihr käme und liebreich zu ihr spreche, dann glaube sie ihm nicht, und kein Arzt habe sie bisher heilen können. Aber einmal werde gewiß der große Arzt kommen, der sie erlösen und heilen werde!

«Und der werde ich sein,» sagte der Knabe.

«Du nicht, du wahrhaftig nicht,» sprach erschrocken die Mutter, «an dich habe ich bei diesen Worten nicht gedacht, so sei Gott meiner Seele gnädig und behüte dich!» Und sie bekreuzte den Knaben.

«Ich will aber Berten ihre Mutter gesund machen und Berta glücklich,» trotzte der Knabe. «Und darum will ich im Kloster fleißig lernen und dann noch lernen und immer lernen, bis ich ein berühmter Arzt sein werde. Und dann will ich die Frau Gräfin gesund machen und Berta soll sich freuen und lachen!» Und er fügte tiefsinnig hinzu: «Denn du mußt wissen, Mutter, daß Berta noch nicht gelacht hat, seit sie bei uns ist, und ich habe ihr doch schon die Geschichte vom dummen Peter erzählt, über die du selbst immer lachen mußt!»

«Ich aber habe sie schon lachen gesehen,» sagte die Mutter. «In der Nacht habe ich mich mit dem Kienspan in der Hand an ihr Bett gesetzt, und da hat sie immer, wenn das Licht über ihr Gesicht huschte, aus dem Schlafe gelacht. Siehst du, genau so wie jetzt, nicht laut, aber ihr Gesicht hat gelacht. Und da hat sie sicher ein schönes Märchen geträumt!» «Ja,» sagte Berta eifrig, «und Leon ritt auf einem Pferde und es war Winter und das Pferd hatte Pelzschuhe an den Füßen!»

Da lachten sie alle drei und Bertas Stimme lachte laut mit.

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Als der Herbst gekommen war und der Knabe von Berta Abschied nehmen sollte, da führte er sie noch einmal in den Wald hinaus zu ihrem Lieblingsplätzchen und sie waren beide beklommen und traurig.

«Du hast es gut, Berta,» sagte Leon, «du wirst den Winter über bei uns bleiben, ich aber muß fort und kann erst in ein oder zwei Jahren wieder zurück.»

«Warum in zwei Jahren?» fragte Berta erschrocken.

«Weil ich jetzt Chorknabe werden soll. Da muß ich auch über den Sommer im Kloster bleiben. Aber vielleicht lassen sie mich im nächsten Jahre noch heim und behalten mich erst übers Jahr im Kloster.»

«Ich will aber nicht, daß du wegbleibst!» sagte Berta fast zornig, «und wenn ich es meinem Vater sage, so wird er es den Klosterleuten verbieten!»

«Bis dahin hast du mich längst vergessen,» meinte der Knabe, «was liegt dir denn an mir!»

Da schaute ihn das Mädchen mit einem langen, vorwurfsvollen Blicke an und es mußte ihr sehr nahe gehen, denn langsam überzogen sich ihre Augen mit einem feuchten Schimmer und der ward zu Tränen, die groß und schwer über ihre Lider sickerten. Und sie konnte nichts sagen, kein Wörtlein, weil ihre Lippen so zitterten. Der Knabe stand ganz ratlos neben ihr und wußte auch nichts Gescheiteres zu tun und weinte auch. Und dann gingen die beiden Hand in Hand und immer wieder aufschluchzend nach Hause.

«Daß nur die Mutter nichts sieht!» sagte Leon.

«Daß nur die Mutter nichts merkt!» schluchzte Berta. Und es war ihnen, als ob nun ein schweres Geheimnis, fast wie ein Verbrechen, sie beide noch enger aneinander kette, und wußten doch nicht, was sie getan hatten. Und als Leon am nächsten Tage davonfuhr, da hob er, als die Mutter unter dem Tore just wegschaute, die zum Beten gefalteten Hände gegen Berta und sie nickte ihm voll Einverständnisses zu, obgleich sie beide nicht wußten, was Geheimnisvolles sie damit ausdrücken wollten.

Und der Wagen verschwand im Walde.

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Aber es kam doch anders, als die Kinder geglaubt hatten. Als Leon im nächsten Jahre nach Hause fuhr und vom Berge oben die Meierei im Tale unten friedlich liegen sah, da klopfte ihm das Herz fast schmerzlich bei dem Gedanken, daß er nun Berta wiedersehen werde, nach der er sich das ganze Jahr so sehr gesehnt hatte. Aber seine Lippen sprachen dabei die Worte: «Liebe, liebe Mutter, wie sehn' ich mich nach dir! Du liebe, liebe ....» und schon sprachen die Lippen auch weiter – «liebe, kleine Berta, wie wirst du mich mit deinen traurigen Augen ansehn!»

Dann aber erschrak er über den Verrat seiner Lippen und schloß die Augen, um recht innig an die Mutter zu denken und jeden andern Gedanken zu verscheuchen. Aber er mußte zwischendurch manchmal Berta sagen, oder er kehrte das Wort um und sagte Atreb vor sich hin in spielerischer Knabenart, Atreb und Noel, wie wenn sie beide aus der biblischen Geschichte wären!

Der Wagen hielt vor dem Tore, der Kutscher hatte durch Peitschenknall die Hofleute benachrichtigt, und da stand der Vater und lachte in den Sonnenschein und die Mutter lief ihrem Buben entgegen. Nur Berta fehlte.

Und dann lag Leon in den Armen der Mutter und bekam vom Vater den Kuß, der ihn von dem ernsten, zärtlichkeitskargen Manne immer so erregte, und mußte viel erzählen und berichten, und dann ging er an Mutters Hand durch die Zimmer und Ställe und Wirtschaftsräume und erfuhr alles Neue, das sich auf dem Hofe begeben hatte.

In dem dunklen Gange hinter der Tenne nahm er sich ein Herz und fragte: «Was ist denn auf dem Schlosse Neues? Lebt die Gräfin noch?»

Da huschte ein Lächeln über Mutters Gesicht und sie antwortete mild und legte dabei ihre Hand auf Leons Haupt: «Berta kommt heuer nicht zu uns, sie ist jetzt in ein adeliges Stift gegeben worden, wo sie einige Jahre bleiben soll, um Sitte und höfische Art zu lernen. Und die Gräfin lebt in dem Turme im Walde und ist nicht gesund geworden.»

Da senkte der Knabe sein bleiches Gesicht und die Mutter merkte wohl, daß eine Hoffnung in seinem Herzen gebrochen sei; sie sah auch seine zuckenden Lippen, da sie aus dem Dunkel traten. Sie drückte des Knaben Haupt wärmer an sich und sprach: «Die arme Gräfin!» Als glaubte sie, daß den Knaben das traurige Geschick der kranken Frau so schmerzte.

Und dann kam Leon wieder ins Kloster und wurde Chorknabe und im Jahre darauf verfiel er in eine schwere Krankheit, von der er sich nur langsam erholte, und er war einundzwanzig Jahre alt, als er das Kloster verließ, um nach Italien zu ziehen und dort in den tiefen Schacht der Wissenschaft hinabzusteigen.

Vorher aber blieb er noch einige Wochen zu Hause und die Augen seiner Eltern blickten besorgt auf das bleiche Gesicht des schlanken Jünglings und fürchteten sich vor der Trennung.

Die Pflicht erforderte es, daß Leon sich erst dem Förderer seiner Studien, dem Grafen, vorstelle und ihn um weitere Gnade anflehe.

Und so ritt er denn eines Morgens langsam den Talweg dahin, nicht wie ein Soldat, der er hätte werden sollen, sondern recht als ein Scholare, müde auf dem Pferde sitzend und dem Rößlein ganz die Wahl der Gangart überlassend; so daß die Sonne schon recht im Sinken war, als er das weiße Schloß Eberstein erreichte.

«Ist der gnädige Herr Graf daheim?» fragte er den Pförtner am Burgtore.

«Der komme abends heim! Aber die Gräfin Berta sei zu Hause, ob der Ritter nicht der sein Anliegen vorbringen wolle?»

«Wenn mich die Gräfin gnädig anhören mag?» sagten da seine Lippen. Aber sein Herz war wieder ganz kindisch geworden und eine demütige Angst quälte es. Denn er hatte doch oft in den letzten Jahren an jenen Sommer gedacht, und die Erinnerung war ihm lieb und innigwert geblieben. «Und meldet einen ehrerbietigen Gruß des Ritters Leon Feldegg von der Meierei im Tale, ob sich die Gräfin seiner noch erinnern mag?»

Wenn nur sein Herz nicht so schmerzlich geschlagen hätte! Das tat es seit der Krankheit immer, wenn er erregt war. Und jetzt hatte es doch wirklich keine Ursache dazu! sagte sich Leon, als er allein war. Die Kinderträume paßten doch wahrhaftig nicht mehr in sein gelehrtes Haupt. Ob sie wohl noch der Wochen in der Meierei gedenken möchte! Und er sah Berta neben seiner Mutter stehen, als er damals ins Kloster gefahren war, und er sah ihr nachdenkliches Kindergesicht ihm zuwinken. Da kam aber auch schon der Pförtner und führte ihn ins Schloß, wo ihn die junge Gräfin erwarte.

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Sie trat ihm an der Schwelle des großen Zimmers entgegen, darin sonst ihr Vater seine Geschäfte zu erledigen pflegte. Es war dunkel auf dem Gange und er konnte im ersten Augenblicke, nachdem er sich tief verneigt hatte, ihr Gesicht nicht sehen; wohl aber sah er gegen die Helle des Zimmers eine große Mädchengestalt und hörte eine holde Stimme: «Tretet ein zu mir, Ritter Leon!», die ihm wie ein Orgelton durch die Seele ging. Und nun er hinter ihr in den hohen Saal eintrat, umfing sein Blick verwundert und ungläubig ihre schlanke, edle Gestalt, und er errötete, da sie sich ihm zuwendete und er ihres Busens sanfte Wölbung streifte, weil es ihm ein Wunder schien, daß die Jungfrau das Kind von damals sein sollte. Und ihm ward bang und weh bei diesem Gedanken.

Dann standen sie einander gegenüber und sahen einander an. Er stammelte einige verlorene Worte von Dankbarkeit, von Schuld und Pflicht, bis sie ihm die Hände entgegenstreckte und ihn herzlich begrüßte. Sie erinnerte sich seiner so gut aus jener Kinderzeit, wenn er freilich indessen auch ein Gelehrter geworden sei, der an ernstere Dinge denken müsse als an jene Kindertage. Sie sagte dies alles mit ihrer dunklen Stimme und so vollendet und überlegen, daß Leon, verwirrt und erstaunt, seiner Worte nicht mächtig war und endlich mit wärmerer Betonung, als der Sitte entsprechen mochte, erzählte, wie oft er jener Zeit gedacht und wie er bei jedem: Ave Maria, Mutter ...., aber da stockte er, denn er hatte sagen wollen, daß er bei seiner Rückkehr ins Kloster damals als Knabe sich vorgenommen habe, beim Worte ‹Mutter› im Vaterunser immer an Bertas Mutter zu denken, und daß er diese Sitte dann schon aus Gewohnheit beibehalten habe. Nun erschrak er, da ihm dies Geständnis entfliehen wollte, er wurde rot und sein Herz fing wiederum zu zerren an, daß er tief atmen mußte, um es zu meistern.

Gräfin Berta hatte ihn rot und bleich werden sehen, und, fast ohne daß sie es wußte, trat sie ganz nahe an Leon heran und fragte ihn, ob er auch immer wohl gewesen sei und wie es Mutter und Vater ergehe, und ob die liebe Frau Anna noch so munter sei. Da konnte er denn viel und freudig berichten, wenngleich es ihn bedrängte, daß er nicht nach Bertas Mutter im Turme oben fragen solle.

Und dann sagte er unvermittelt: «Ich will mir jetzt von Eurem gnädigen Herrn Vater die Erlaubnis erbitten, nach Italien an die hohe Schule zu gehen, die Geheimnisse der Medizin zu erfahren und ein Arzt zu werden.»

«Wie Ihr Euch schon damals vorgenommen habt,» sagte Berta. Dann schwiegen sie eine Weile still, plötzlich füllten schwere Tränen Bertas Augen und mit zuckenden Lippen sprach sie: «Ich danke Euch!»

Und als ob die Tränen auch gleich ihr ganzes Leid vor ihre Seele brächten, fuhr sie fort: «Leon, Ihr wißt ja nicht, wie unglücklich ich bin!»

«Gräfin Berta, liebe, liebe Berta, Ihr unglücklich?! Und ich denke Euch in Stolz und Glück! Was quält euch, Berta, liebe Gräfin Berta, sagt mir, was macht Euch unglücklich?»

Leon schien es, als ob Berta wanke, und er fing die Bebende auf: «Wenn ich Euch helfen könnte! Meine arme, liebe ...»

Da richtete sie sich empor, ihre Augen waren voll Angst und sahen hilflos und hilfesuchend in die Augen Leons: «Wer könnte mir helfen! Ich schreie nach Mitleid, nach ein wenig Mitleid und Güte und man gibt mir kaltes Geschmeide und leere Worte und Kleider. Ich bin unglücklich!» Und die Augen mit den Händen bedeckend: «Unglücklich!»

Und da verschwanden zwischen ihren eng aneinander gedrängten Körpern wie in einer Versenkung die Jahre, seit sie einander nicht gesehen hatten, und das Kind Berta lehnte wieder an der Brust des Knaben Leon, sie fühlten, daß sie aufeinander all die Jahre gewartet hatten. Und er sprach in ihr abenddunkles Haar, das seine Lippen berührten, immer die gleichen Worte des Mitleids: «O du mein armes, liebes Liebes!»

Sie kämpfte mit den Tränen, die sie erschütterten, und suchte ein Wort und konnte keines finden, das ihre Lippen erschlossen hätte, so fest drückte das Leid sie aufeinander, und endlich hatte sie das Wort gefunden und schrie es aus ihrer Seele empor: «Mitleid! Nur ein Tränentröpflein Mitleid!»

Da führte er die Erregte zu dem breiten Stuhle, wohl des Grafen Sitz, wenn er die Verwalter oder Bauern verhörte, und ließ sie sanft niedergleiten. Er kniete zu ihr nieder und sprach still und mild auf sie ein. Und sprach so still und sanft, daß sie plötzlich die Stimme seiner Mutter nach langen Jahren hörte und daß ihr Herz sich beruhigte.

«Wann wollt Ihr mir Euer Leid vertrauen, daß ich über Eure Rettung sinne?» fragte er. «Wann kann ich Euch wiedersehen?»

«Morgen, bei der Mutter Turm, beim Abendglockenläuten!» sagte sie.

Und dann erhoben sie sich, sie standen einander gegenüber Hand in Hand und ihre Augen ruhten lange ineinander. Sie sagten nichts als ihre Namen und wußten doch, daß sie einander alles, alles gesagt hatten......

Und Leon war es, als er dann allein in dem Saale auf den Grafen wartete, als ob die Wände ihm immer noch die Worte Berta und Leon zuriefen, und er hatte keinen andern Gedanken und hörte entzückt auf diese einfache Melodie.

Dann sprach er mit dem Grafen nicht mehr als der schüchterne Scholare, er sprach offen und frei mit ihm als ein Ritter, und der Graf verhieß ihm auch fürder Schutz und Unterstützung.

Das Rößlein aber wunderte sich, als Leon in den Abend hinein heimritt, wie sich der Ritter so verändert hatte. Und wenn es auch nicht verstand, was er mit den Worten ‹mein Rößlein in Pelzstiefeln!› meinte, so mußte es doch etwas Liebes sein, denn dann streichelte der Ritter ihm gar zärtlich den Hals. Und seine Glöcklein klangen hell durch die Stille.

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Als Leon nachts heimgekommen war, da war sein Herz so voll Hoffnung, weil das holde, schlanke Mädchen sich ihm so warm vertraut hatte, daß der jugendliche Stolz über den Empfang ihrer Liebe ihn fast jubeln machte. Aber langsam fiel, Tropfen auf Tropfen, Leid in seinen Becher, Leid über das unbekannte Geschick seiner Herrin, Leid, das seine Seele erzittern ließ, innigstes Mitleid mit der Geliebten, daß er die Stunde des Wiedersehens nicht so sehr aus Sehnsucht nach dem Angesicht seiner Erwählten herbeiwünschte, als aus dem Verlangen, ihr Gutes zu sagen, ihre Hände zu streicheln und ihres Leides Ursache zu erfahren, um ihr beizustehen. Denn der Mutter Siechtum allein konnte es jetzt wohl nimmer sein, was sie so schmerzlich erregte.

Nachmittag klomm denn sein Pferd den steilen Weg zum runden Turm hinan, der über die Tannen emporragte. Dann schwang sich Leon aus dem Sattel, wand die Zügel um einen Stamm und schaute zum Turm empor, der auf dem Gipfel des Berges Wache stand und weit ins Land hinausblickte.

«Wie viel Elend du birgst,» sagte Leon halblaut vor sich hin, «Elend für deine Bewohnerin und tieferes Leid für das arme Mädchen, das so würdig wäre, glücklich zu sein und ihre schönen Augen von deiner Höhe über ihres Vaters Land schweifen zu lassen.»

Dann trat er zwischen den Bäumen hervor und setzte sich auf die Steinbank, die, aus seinen Quadern gebildet, den Turm umgriff und mit Moos überwachsen war. Dort unten sah er das weiße Schloß und in jenem Tale drüben mußte seiner Eltern Haus stehen; aber er konnte es nicht finden. Und von fernher schwang sich der Abendglocke Klang über die Wipfel, daß er fromm seine Hände faltete. Und als er «Ave Maria, Mutter ....» sagte, da hörte er den Huftritt eines Pferdes, er stand auf und half Berta aus dem Sattel.

«Bist du so allein durch den Forst geritten?» fragte er besorgt. Und sie fühlten gar nicht, daß sie einander von jetzt ab wieder du sagten; so innig hatten beide seit ihrem Wiedersehen aneinander gedacht und so ununterbrochen im Herzen zueinander gesprochen.

«Wen sollte ich fürchten? Wer viel innerlich Leids erlebt, lacht der sichtbaren Gefahren!» Und als fühlte sie den Wert jedes Augenblickes, als fahre sie in einer oft durchdachten Rede zu sprechen fort, warf sie sich jetzt leidenschaftlich an Leons Brust, sie dämpfte den Laut ihrer Stimme nicht, sie loderte ihm züngelnd entgegen: «Meine Mutter ist mir mehr als gestorben, wenn sie auch da oben im Turmgemache atmet! Und mein Vater, höre, Leon, mein Vater haßt mich, ich bin ihm zu viel, ich hindere ihn, wenn er sich auch durch mich wenig hindern läßt. Du guter Leon, wenn du wüßtest, wie unendlich viel Schmach und Schimpf ich dulden muß, wie oft ich mich in meiner Mutter früheres Krankengemach flüchte vor den Blicken der, der ..» ihr Mund sträubte sich, das Wort zu sagen – «der Schamlosen, die mir den Vater geraubt hat, die im Tore stand an seiner Seite, da ich mit meiner Sehnsucht im Herzen aus dem Stifte heimkehrte, die von meiner Mutter in Worten spricht, daß ich vor Leid vergehen möchte, indes der Vater seinen Humpen schwingt und ihr zulacht! Leon, ich ziehe mit dir, ich ziehe mit dir, wohin es auch sei, wie könnte ich denn jetzt allein hier weiter leben!»

Sie schwieg erschöpft und ihre tiefen, blauen Augen blickten sehnsüchtig und hoffend zu ihm empor. Da hörte sie von seinen stummen, zuckenden Lippen ungesprochene Worte in ihr Ohr klingen, Worte der Liebe und des Mitleids, und sie lächelte glückselig, da sein Mund sich auf den ihren senkte.

Und dann setzten sie sich eng aneinandergelehnt auf die Bank und ihre Rede war immer das eine Wort «ich liebe dich» und «ich liebe dich», und in ihren Küssen war Sehnsucht und Dank und Erfüllung, bis sie scheiden mußten.

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Leon hatte beim Heimreiten lange überlegt, ob er der Mutter von seiner Liebe erzählen solle; denn er fühlte, daß ihr daraus viel Sorge erwachsen würde. Aber er wußte auch, daß er allein zu schwach sei, eine Entscheidung zu treffen. Hatte ihn doch schon eben in allen den süßen Augenblicken des Glückes beim Turme fast störend der eine Gedanke gequält, daß Berta mit ihm fliehen wollte. Was ihn hätte beglücken und entzücken sollen, sein Blut zum Sieden hätte bringen müssen, das beunruhigte ihn, das störte ihm sein Glück. Die Gefahren der Reise, der Haß und die sichere Verfolgung des Grafen, das Ungemach für seine Eltern und viel Unausgedachtes und rasch beim Aufkeimen in seiner Seele Unterdrücktes: eine Fülle von ungewohnten, peinigenden Vorstellungen drängte sich nun zwischen seine Liebe und die Geliebte. «Ich kann doch nicht wie mit einer Vagantin mit der Grafentochter herumziehen!» wiederholte er. Und so kam er zu Hause an.

Vater war noch im Forsthause draußen und so saß er mit der Mutter allein in der Stube; und langsam, langsam kamen ihm die Worte von den Lippen, die hellen und die dunklen, seine Hoffnungen und Sorgen.

Die Mutter hatte sich wohl gedacht, daß Leon seiner Kinderträume nicht ledig geworden sei, nun hörte sie auch von Bertas Liebe zu ihrem Sohne. Sie sann dem Gehörten eine Weile schweigend nach, dann ließ sie die Hände in den Schoß fallen.

«Ihr seid jung und liebet euch,» sagte sie dann, «so müßt ihr auch den Mut für eine Liebe haben! Und ihr werdet viel Liebe, viel Mut und viel Ausdauer brauchen!»

«Und soll ich Berta jetzt mit mir nehmen?» fragte Leon hastig.

«Deine Frage, mein Junge, ist schon Antwort genug!» sagte die kluge Frau. «Sie wird nicht mehr davon sprechen! Aber vielleicht läßt sie ihr Vater, nachdem du weggeritten, zu mir, und, wenn sie nicht für längere Zeit bei uns leben kann, sie wird schon Wege finden, zu mir zu kommen! Und wenn du Gelegenheit hast, uns einen Brief zu senden, dann wird sie wohl ein Brieflein dabei finden!»

Leon hatte erleichtert genickt, er hatte, da er ihre Hände küßte, gefühlt, daß er ihrer würdig werden müsse und daß ihn diese edle Frau nicht mehr als Knaben, sondern als Mann wiedersehen solle. Er reckte sich empor, er dachte an Berta und fühlte sich stark und sicher.

Dann kam er mit Berta noch mehrere Male zusammen und die Mutter hatte recht gehabt. Berta scheute sich, auf ihre Worte beim ersten Zusammentreffen zurückzukommen, sie sprach nicht mehr davon und dankte im Herzen Leon, der so feinfühlig war, sie nicht beschämen zu wollen. Sie umarmten und küßten einander beim tränenvollen Abschied und gelobten sich ewige Liebe und Treue; er erzählte ihr von seiner Gewohnheit beim Aveläuten und sie versprachen einander, den Abendglocken ihre Grüße mitzugeben, daß die sie einander entgegen schwängen. Und dann wandte sich Leon zum letzten Male auf dem Pferde um und nahm ihr letztes Schleierwinken in seiner übervollen Seele mit nach Italien.

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Er hatte vorerst zwei volle Jahre auf der welschen Universität bleiben wollen. Die ersten Monate hatte ihn die wache Erinnerung an seine Braut, wie er sie in seinen Zwiegesprächen mit seinem Herzen nannte, aufrecht erhalten. Dann hatte er einen hochgelehrten Lehrer gefunden, dem er das Leiden der kranken Gräfin vorgetragen, und dem der Casus viel Nachdenken und gründliches Meditieren verursacht hatte. Denn er hatte den deutschen Studenten lieb gewonnen und wollte ihm gern helfen. Er hatte ihm denn endlich auch ein Arkanum für die Gräfin versprochen und dabei den einsilbigen Scholaren selbst in seine Kur genommen, nachdem er seinen Puls lange geprüft und ihm wiederholt zur Ader gelassen hatte. Denn Leon fühlte sich matt und schrieb dies dem schlaffen Süden zu, indes wohl sein Heimweh nach dem Norden und sein altes Herzübel an ihm zehren mochten.

Als es denn nach ein und einem halben Jahre wieder Frühling werden wollte, da kam ein unstillbares Drängen über ihn, daß er seinem gelehrten Meister erklärte, er müsse wieder nordwärts ziehen, ihm sei, als ob ein geheimer Zauber ihn heimdränge; ob der verehrte Lehrer ihm nun das Mittel für die kranke Gräfin schon jetzt geben könne.

Da führte ihn der Gelehrte in seine Studierstube und brachte zwischen allerlei seltsamen Kolben und Gefäßen eine Tafel hellen Fensterglases hervor, die in einem Bleirahmen gefaßt war.

«Dies Glas, das dich so unscheinbar dünkt, nimm mit nach deiner Heimat. Und hänge es vor das Fenster des Turmgemachs, darin deine hohe Kranke dahinsiecht. Sie wird durch dieses Fenster schauen, und ich verrate dir, es ist ein wunderbares Glas mit geheimen und tiefen Tugenden begabt, das die übergroße und dem gemeinen Laienverstande darum krankhaft scheinende Sehnsucht aus den Augen der Hindurchschauenden ziehet, und so sie lange genug durch das Glas geschaut haben wird, Wochen, Monde, und vielleicht Jahre lang, dann werden ihre Augen klar und sie wird geheilt sein! Vergiß aber eines nicht, wenn du jetzt heimreitest. Du darfst dieses künstliche und außerordentliche Glas nicht etwa einem Knechte in die Hand geben oder gar in deinen Halftersack stecken, das könnte sich an der zarten Komplexion seines Aufbaues sündhaft rächen, sondern mußt es in Händen nach Hause bringen, daß ihm kein Leids geschehe und es immer an der Luft sei. Und wenn die Heilung naht, dann wird das Glas selbst der Herold sein durch seine Farbe! Und nun reite heim und möge das heiltüchtige Fenster auch deinen schwachen Körper stärken und kräftigen!»

Leon dankte seinem Meister in heißen Worten und versprach ihm, so ihn hoffentlich bald wieder ein beglückteres Ziel hierher führe, ihm zu berichten und würdiger zu danken; wobei er ein überaus heiteres Bild vor Augen hatte.

So zog er von dannen und ritt als ein gar seltsamer Reiter nach Norden. Er hielt die Glasscheibe in Händen vor sich hin oder stützte sie aufs Knie, wenn eine Hand den Zügel ergreifen mußte. Auch stieg er auf den beschwerlichen Alpensteigen vom Pferde, den Zügel um den Arm geschlungen, und ließ das Rößlein hinter sich hertraben, indem er wie eine Monstranz das Glas in Händen trug. Viele Wochen vergingen so, ehe er jenseits der Alpen war, und viele Wochen, ehe er sich seiner Heimat näherte. Und je müder er wurde, je schmäler und dunkler sein Gesicht, je öfter er Halt machen mußte, um sein fast versagend Herz zu beruhigen, um so heißer ward seine Sehnsucht nach Hause, da ihn eine große und schmerzliche Angst gefangen hielt; in welcher Sehnsucht und Angst ihm das Bild seiner Geliebten verloren ging also, daß er Tage und Nächte lang versuchte, sich daran zu erinnern, ohne dazu imstande zu sein. Und krank und elend, mit Armen, die vom ewigen Halten des Heilfensters fast zu Holz verdorrt waren, mit einem Herzen, das eine bleischwere Müdigkeit am Schlagen hinderte, kam er eines Morgens vor die Täler seiner Heimat.

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Er hatte daran gedacht, erst seine Eltern zu begrüßen, seine geliebte Mutter zu umarmen und seinem lauschenden Vater von seinen Studien und dem wunderseltsamen Italien zu erzählen; und gleich zu erfahren, was auf dem Schlosse Neues sich begeben; denn er hatte nun viele Monde lang keinen Brief von Hause bekommen und wußte nicht, ob sein Schreiben je in die Hände seiner Mutter und seiner Braut gelangt war. Als er aber in dem Tale dahinritt, von dem aus die Wege nach seinem Elternhause und dem Schlosse abzweigten, da war ein auffällig großes Leben auf der Straße, viele Wagen fuhren dahin und Edelknechte ritten an ihm vorüber, als ob gerade heute Gerichtstag auf dem Schlosse wäre. Da stieg er, immer von seiner großen Angst gepeinigt, vom Pferde und setzte sich an den Weg, jemanden zu fragen. An einen Ritter wagte er sich nicht, da er vom langen Reiten verstaubt und gering aussah, und so erbat er von einem Bäuerlein Bescheid, was Ursach das Leben auf der Straße habe. Der schaute ihn schier ungläubig an, ob er denn nicht wisse, daß morgen die Hochzeit sei.

«Die Hochzeit?» zitterten die bleichen Lippen Leons.

«Nun, des Landgrafen Hochzeit mit der Tochter unseres Grafen,» sagte gleichmütig der Bauer und wollte weitererzählen. Aber er blieb mit offenem Munde stehen, da der Frager aufgesprungen war und die verstaubte Tafel in seinen Händen als einen Schild vor sich hielt.

«Berta? Berta?» schrie er dabei; und er sah so verändert und nicht von dieser Erde aus, daß dem Bauer angst und bange wurde und er mit großen Schritten weglief. Leon aber war indessen schon einem anderen Wanderer entgegengelaufen, er fragte auch ihn, was auf dem Schlosse sich begebe. Und er hatte kaum die Antwort gehört, so lief er drei Weibern entgegen, die mit schweren Körben bepackt, daherhumpelten, und die antworteten ihm gar nicht erst und hielten ihn für trunken, weil er so seltsam schwankte, und riefen ihm zu, daß morgen erst Freibier auf dem Schlosse fließen werde; da möge er sich nur für morgen seinen Saufsack ordentlich ausleeren! Leon aber sagte ganz geistesabwesend immer nur «meine Braut, meine Braut!» und «so etwas ist doch nicht möglich!» und dann stieg er mühselig auf sein Pferd und wollte es in einen rascheren Trab bringen; wozu das arme, müde Tier aber nicht zu bewegen war.

So saß er auf dem Gaule, hielt das Glas in seinen steifen Händen und ritt auf dem Waldpfade gegen das Schloß, indes die andern auf der breiten Straße blieben. Er sah nicht, daß er endlich seinen seit Monaten ersehnten, geliebten Wald erreicht hatte, er hörte nicht das Rauschen seiner Bäume, darnach ihn so heiß verlangt hatte, und schaute abwesend den Lerchen nach, die sich jubelnd in den Äther warfen.

«Das ist der Schluß!» sagte er den Bäumen, und die nickten dazu, «das also ist der Schluß!» Als er aber gegen Mittag das weiße Schloß zwischen den Bäumen durchblitzen sah, da blieb das Pferd von selbst stehen, und da Leons Augen die weißen Mauern erschauten, da war das Weh zu groß in ihm, da blendete ihn das grelle Hell des Schlosses zu stark und er weinte, daß das Pferd sich immer wieder nach seinem Herrn umschaute. Der stieg denn aus dem Sattel, legte das Glas neben sich hin und schluchzte in das Moos auf der Erde. Und das Rößlein beschnupperte seinen Herrn und verstand ihn nicht.

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Leon hatte sich endlich aufgesetzt, ein irres, wehes Lächeln war um seine Lippen, und immer wieder sagte er kopfschüttelnd: «So etwas ist doch nicht möglich, das gibt es doch nur in Liedern, so die Burschen am Abend in den Dörfern singen:

 

«Und als er kam vor Liebchens Haus, Liebchens Haus,

Kam just der Hochzeitszug heraus,

Feinsliebchen unter dem Schleier.»

 

Er sang die Strophe leise und schwermütig vor sich hin und dann lachte er laut auf. «Das also ist die ewige Treue, die sie mir geschworen, das ist die Liebe, die mich Narren stündlich ihrer gedenken ließ. Gott im Himmel droben, was kann ich denn jetzt noch tun? Soll ich vor sie hintreten, daß sie mich höhnt und fragt, wer der schmutzige Knecht sei, der es wagt, die Landgräfin mit sinnlosen Worten zu belästigen? Und soll ich warten, bis sie mit ihrem feinen Vater mich vom Hofe peitschen läßt? Ich Narr, der ich ihre Augen für wahr nahm, ihre Küsse für rein! Aber ich muß ihr doch sagen, daß sie eine Gauklerin ist, ich muß es ihr sagen, daß ich sie erkannt habe! Und wenn es nur wäre, daß ich ihre Hochzeit störe, ich muß, ich muß mit ihr sprechen! Aber wie kann ich an sie herankommen? Wie wird sie heute unter ihren Brautkleidern und Hochzeitsgeschmeiden für mich zu sprechen sein! Ich will ihr einen Brief schicken!» rief er vom Boden sich erhebend, «ich schreibe ihr einen Brief! Daß ich das Heilmittel für ihre Mutter bringe. Ich bestelle sie zum Turme, dort will ich ihrer warten, ich habe ja Zeit, dort will ich ihr ins Gesicht ...»

Er erschrak vor seiner lauten Stimme, dann nahm er seine Schreibtafel und schrieb ihr in hastigen Worten von seiner Rückkunft, wie er sich freue – Tränen liefen ihm in seine Zeilen –, wie er sich freue, daß er noch zur Hochzeit zurecht gekommen sei, und daß er für die Frau Gräfin das versprochene Gesundmittel heimgebracht habe; und er fügte bei: denn ich halte, was ich versprochen. Beim runden Turme wolle er ihr das Arkanum übergeben; er werde bis zum Abend dort warten.

Dann suchte er seinen Beutel, ein letztes Geldstück funkelte ihm entgegen, das nahm er mit dem zusammengefalteten Briefe und schlich bis zum Tore des Schlosses. Und als er dort einen Diener sah, fragte er ihn, ob er das Gold verdienen wolle. Er müsse nur sogleich dies Brieflein zur Gräfin Braut bringen und ihm dann melden, ob er die Botschaft geheim bestellt habe. Dann, als der Diener zurückkam und sein Goldstück empfangen hatte, bestieg Leon sein Pferd, nun fühlte er fast Freude über seine Rache und ritt den steilen Waldpfad hinan zum Turme. Und er hatte die Glastafel in Händen, ohne sie zu fühlen, so gewohnt war er, sie zu halten.

«Wenn meine Mutter wüßte, daß ich nun doch zur rechten Zeit gekommen bin, wie würde sie mich in die Arme nehmen, wie würde sie mit mir weinen!» Er klagte leise vor sich hin, er dachte an alle Leidensstationen, die ihm noch bevorstanden, aber kein Gedanke war in seinem Herzen, daß vielleicht Berta auch unglücklich sein könnte, daß auch sie viel großes Leid erfahren, vielleicht größeres, als er ahnen konnte! Eine ungeheure Bitterkeit erfüllte ihn, die Beschämung des verschmähten Liebhabers und betrogenen Geliebten, er nannte sich Tölpel und leichtgläubiger Tropf, und dabei hielt er die Glasscheibe in Händen und hob sie bei jedem holperigen Schritte seines Pferdes, daß ihr ja nichts geschehe. Und er sang mit zuckenden Lippen das Burschenlied:

 

«Und als er kam vor Liebchens Haus, Liebchens Haus,

Kam just der Hochzeitszug heraus,

Feinsliebchen unterm Schleier.»

 

Die Sonne senkte sich schon gegen die westlichen Berge, als er oben beim Turme ankam. Er versorgte seinen Gaul und legte die Scheibe neben die Bank beim Turme. Er selbst saß auf der Erde nieder und stützte seinen schweren Kopf in die Hände. «Hier will ich warten. Ob sie wohl kommen wird? Wenn nur mein Herz nicht gar so schmerzen wollte!» – Er hatte in der Tasche noch eine letzte Brotrinde gefunden, daran kaute er nun, denn er fühlte sich schwach zum Vergehen und eine schreckliche Mattigkeit lähmte ihm die Glieder. «Mir ist zum Sterben,» hauchte er. Sein Kopf fiel auf die Bank nieder, so lag er da und starrte vor sich hin.........

‹Nur jetzt nicht sterben!› dachte er, ‹nur jetzt nicht! Ich muß erst mit Berta gesprochen haben, o! nur ein paar Worte, damit sie wisse, wie sie mich elend gemacht hat!›

So sterbensmatt er sich fühlte, so hob er sich doch ein wenig empor und krampfte die Hände zusammen, denn er dachte, daß er Berta bei den Schultern fassen, ihr seine Verachtung und seinen Fluch ins Gesicht schleudern wolle. Er sah ihre Augen vor sich, die erschreckten, blauen Augen, die entsetzt zu ihm aufblickten, und er fühlte, daß sie ihn in seiner grenzenlosen, heißen Erregung bewundern und lieben müsse. Und dann wollte er die Glasscheibe emporheben und ihr überreichen. Mit den Worten des Meisters: ‹Wenn jemand ein tiefes Leid erfahren und voll Sehnsucht und verwirrter Liebe sei, dann solle er durch das Glas schauen, Monde, Monde lang, dann werde die Sehnsucht in das Glas übergehen und die Seele rein werden!› Und er wollte dann Berta sagen, sie möge das Glas ihrer Mutter bringen, er gebe es ihr, wie er versprochen, ob er gleich selber ....

«Nein, das will ich ihr nicht sagen,» stöhnte er, «daß sie den Triumph nicht erlebe, mich gedemütigt zu sehen! Da will ich lieber vor ihren Augen die Scheibe zerbrechen, in tausend Splitter, wie sie mein Herz zerbrochen!»

Da hörte er Pferdegewieher; er erhob sich müde, müde und mit zerrendem Herzen und da, er hob abwehrend die Hand, da stand Berta vor ihm.

«Leon,» schrie sie, «Leon, mein einziges Glück auf Erden, meine Hoffnung und Zuversicht, Leon, mein Geliebter, du kommst mich retten,» und sie weinte, sie schluchzte, sie umarmte ihn, sie drückte ihn stürmisch an sich, sie küßte und liebkoste ihn, «du meine letzte Zuversicht, du mein einzig Geliebter, Leon, Leon, mein Retter!»

Leon hing an ihrem Halse, er fühlte, wie seine Beine unter ihm schwanden, er fühlte, wie sein Herz ihm die ganze Brust füllte, um die Rippen zu zersprengen, seine Rechte schwamm durch die Luft: «Das ist zu viel, das verdiene ich nicht, meine Braut» .....

Sie sah ihm ins Gesicht; es war totenbleich und mit Schweiß bedeckt, da ließ sie seinen Körper auf die Bank niedergleiten: «Um des Himmels willen, Leon, fasse dich, mein Gott, er wird mir doch jetzt nicht ......, meine Hoffnung, mein Glück, Leon, mein Leon!»

Sie nestelte an seinem Wams, sie trocknete sein Gesicht, da ward ihm leichter und endlich lispelte er ihr ins Ohr:

«Das Glück hat mich so schwach gemacht! O Berta, meine arme, liebe Braut, ich bin unwürdig, erzähle mir nur rasch, was haben sie dir getan? Um Gottes willen, sprich rasch, verzeih mir, Berta, verzeih mir, eh es zu spät ist!»

Und sie legte ihren Arm unter sein Haupt, und in wahnsinniger Angst, denn er keuchte wie im Fieber, erzählte sie ihm, wie ihr Vater den einzigen Brief Leons, den sie erhalten, gefunden habe, wie er sie vor den Dienern und seiner ...., vor ‹ihr› mit einem häßlichen Schimpfwort geschmäht, wie er sie verflucht und geschworen habe, sie solle bald auf andere Gedanken kommen; wie sie dann gefangen gehalten wurde, wie sie dann in die Stadt geschleppt und dem jungen Landgrafen zugeführt worden sei und wie sie sicher Gift genommen hätte, wenn sie nicht immer noch auf seine Wiederkunft gehofft hätte: «Und jetzt bist du da, mein lieber, lieber Leon, und jetzt wird alles gut werden!»

«Alles gut,» hauchte Leon. Er wollte sich mühselig aufsetzen, aber er glitt fast von der Bank, da faßte ihn Berta und unterstützte ihn, daß er an ihrer Seite hing, den Kopf schwer an ihrer Schulter. Er wies mit der Hand auf das Glasfenster und erzählte ihr mit stockenden Worten, was für eine Bewandtnis es mit dem Glase habe.

«Mein einzig Geliebtes, meine Braut!» sagte er dann mit klarer Stimme, «ich habe an dir gezweifelt, ich habe dich ob deiner Untreue verflucht, dafür muß ich jetzt sterben. Du Reine, du Treue!» – Und mit der letzten Kraft, die er fand, sagte er: «Küsse mich, vergib mir!» Dann griff er nach seinem Herzen, «Mutter,» schrie er gequält und wund, «Mutter,» und dabei wollte er Berta noch zulächeln, aber da streckte der Tod schon seinen Körper, es war ihm, als ob er noch aufstehen könne, ihm zu entfliehen, er erhob sich ein wenig, dann fiel er auf den Schoß Bertas nieder, sein Kopf sank hintenüber, er war tot ...

Und Berta saß da, der Körper des Geliebten lag über ihren Knieen, ihre Rechte stützte seinen Kopf, auf ihrer Linken lagen seine Kniee, und sie beugte ihr Antlitz über sein Gesicht, über sein totes, entstelltes Gesicht ...

Ringsum aber war Abend, tiefer dunkelblauer Abend im Walde, Waldfrieden und heilige Stille. Und in diesem unendlich süßen Veratmen der Natur saß Berta da, ihren ersehnten Geliebten als Leichnam auf den Knieen, ihre Augen sahen verständnislos in sein Gesicht, ängstliche Seufzer eines Kindes im Dunkel wimmerten von ihren Lippen. «Leon,» sagte sie, wie sie den lieben Namen wohl tausendmal in den Abend gesagt hatte, «Leon!» aber er antwortete nicht, obgleich er doch da auf ihren Knieen, schwer und lastend, lag, und auf einmal wurde ihr klar, daß dieser Leon, ihr Leon, ein Lebloses, Gewesenes sei. Ein rasender Schmerz lohte jäh in ihrer Brust empor, plötzlich löste sich der Krampf in ihrer Kehle, sie atmete tief auf, tief, als ob sie lange, endlos lange nicht geatmet hätte, und dann stieß sie einen Schrei aus, wie ein gequältes Tier, schrie mit entsetzlicher, ihre Kraft höhnender Stimme, einer Stimme, davor die Vögel des Waldes flohen und die sie vor sich hertrieb wie ein Gewittersturm, einer Stimme, die den Turm erschütterte und die in ihrer furchtbaren Stärke nicht erlahmte, die jenseits des Tales drüben an die Felsen anprallte und von dort zurückgellte; und sie schrie und wußte nicht, daß sie schrie, es war ihre Erlösung und sie mußte schreien, auf Leben und Tod schreien, jetzt das Haupt neigend, dem Toten in die tauben Ohren, nicht Worte oder Sätze, nur ihren fürchterlichen Schrei, wie ihre Mutter damals geschrieen hatte, da sie zum ersten Male in ihr Zimmer getreten war, jetzt den Kopf in den Nacken werfend und zum Himmel schreiend, emporstoßend den Schrei ihrer gequälten Jugend, ihrer zerstörten Hoffnungen, ihrer verletzten Scham und ihrer Angst. Sie schrie und wußte nicht, daß die Amme aus dem Turme getreten war, emporgeschreckt durch die furchtbare Stimme, und daß hinter ihr, der Amme unbewußt, die wahnsinnige, zum Skelett abgemagerte Gräfin sich zur Tür geschlichen hatte. Und Berta schrie und sah den freien Platz vor dem Turme sich mit Menschen füllen, sah Fackeln erschrockene Lichter und gespenstige Schatten auf den Waldboden werfen und sah doch nichts und schrie; ihr Schrei war heiser geworden, ihre Lippen waren geschwollen, und jetzt ritt ihr Vater und ihr Bräutigam heran und sprangen von den Rossen, denn sie waren der Entflohenen durch den Wald nachgejagt und waren nun in das gräßliche Schreien hereingeritten, als ahnten sie, daß sie hier die Gesuchte finden müßten. Der Graf war zurückgetaumelt, als er seine Tochter sah und auf ihren Knieen den fremden Mann, den er nicht kannte.

«O, du elende Dirne!» schrie er in seinem jähen Zorne, «hintergehst du mich so?» und er stürzte sich durch den Kreis der Fackelträger zu der Schreienden vor, er zerrte an dem Manne, den sie im Schoße liegen hatte, daß er schwer zu Boden fiel, und da sah er, daß der Mann tot war, und schlug eine fürchterliche Lache auf und schlug sich den Schenkel und lachte: «So hab ich dich mit deinem Liebsten gestört! Herr Landgraf, Euren Nebenbuhler fürchtet nicht, der gibt kalte Küsse, der tut Euch nichts mehr in diesem Leben!»

Da hatte sich Berta schon über ihren Geliebten geworfen, sie deckte ihn mit ihrem Körper zu und wehrte dem Vater mit der drohend erhobenen Rechten.

«Rührt ihn nicht an, wagt nicht ihn anzurühren!»

Eine atemraubende Erregung hielt alle gefangen, alle Blicke starrten auf die drei, den Vater, die Tochter, und ihren toten Geliebten, und niemand merkte, wie aus dem Turme eine hagere und gebeugte Greisin sich wegschlich, mit Blicken aus einer anderen Welt die beleuchtete Gruppe anstarrend, und dann im dunklen Walde verschwand ....

Jetzt aber warf sich Berta über den Leichnam, sie preßte ihren Mund auf die bleichen Lippen des Toten und trank, trank, trank gierig und verzückt von seinem Munde. Dann sprang sie leicht vom Boden, sie schaute glücklich und trunken um sich, ihre Lippen schrieen nicht mehr und konnten auch nicht sprechen, und nun lachte sie irr und verloren, dann beugte sie sich nieder, als habe sie etwas vergessen, sie ergriff dann die Glastafel bei der Bank und stürmte in den Turm, das Tor hinter sich zuschlagend. Die Menschen draußen aber standen unbeweglich und wußten nicht, was sie jetzt tun sollten, als warte jeder auf ein Stichwort vom anderen, und alle schauten auf den Grafen, ob er das Schweigen löse. Der bückte sich endlich zu dem Toten nieder, dann nickte er langsam und bestätigend, er tat seinen hart geschlossenen Lippen Gewalt an und sagte: «Bringet den Meiersleuten im Tale ihren Sohn, sie sollen ihren Teil haben!»

Dann winkte er dem jungen Landgrafen und sie bestiegen die Rosse. Es war finster im Walde und sie wußten nicht, da sie schweigend heimritten, warum bei der ersten Wendung des Weges die Pferde sich bäumten. Dort fanden die Fackelträger kurz darnach die tote alte Gräfin und bei ihr ein mageres Rößlein, das einen zerrissenen Zügel schleifte und sie beschnupperte. Dem banden sie den leichten Leichnam auf den Sattel und zogen zu Tale.

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Drin in dem runden Turme, von wo der Blick weit, weit über die Wälder schweifen konnte, saß Berta am Fenster, das ihre Mutter ihr überlassen hatte. Sie saß still und mild mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen da, sie hielt die Glasscheibe Leons in Händen und schaute Tag und Nacht durch das Fenster, das er ihr gebracht hatte, ins Land hinunter. Ihre blauen, unergründlich dunkelblauen Augen waren weit geöffnet und wie in tiefes Träumen versunken, sie horchte oft gespannt auf, als vernehme sie einen fernen Zuruf, dann beugte sie sich wieder ganz nahe ans Fenster und lächelte es an und küßte es, und die Amme, die nun ihr Pflegekind wieder hatte, weinte gar oft über die sanfte Güte ihrer Schutzbefohlenen und erzählte immer neue Beispiele davon der Mutter Leons, wenn die sie besuchen kam. Von ihr ließ sich Berta auch gerne streicheln, aber sie sprach kein Wort mehr und schaute nur unverwandt durch das Wunderglas, das die Sehnsucht nehmen konnte.

Und dazu brauchte es gar manches Jahr; und es begab sich das Wunder, daß Berta eines Morgens mit geschlossenen Lidern hinter dem Glasfenster saß und das Glas, das schon in den letzten Monden bläulich geschimmert hatte, tief dunkelblau geworden war, so tief blau, wie Bertas Augen gewesen waren. Und als die Amme das Haupt Bertas aufhob und ihre erloschenen Augen öffnete, da war das Blau darin geschwunden, die Augen waren farblos wie Wasser, durchsichtig wie Luft. Da deckte sie die Lider über die Augen, die wie zwei große Kugeln durch die dünnen Lider sich vorwölbten. Sie legte den Körper der Entschlummerten auf ihr Bett, und der Leichnam war so gefügig und sanft, als ob noch die gute Seele der Gestorbenen darin wohne. Dann nahm sie die Glasscheibe vom Fenster wie ein Heiliges und deckte zitternd ein seidenes Tuch der Gräfin drüber. Sie zögerte lange, ehe sie aus dem Gemache wegging, sie mußte immer wieder zum Lager hinschauen, als müßte die still dort Schlummernde die Lider noch einmal über den großen Augen öffnen, als müßte ihre Brust sich nach einem schweren Seufzer wieder heben und senken, jetzt, da das Wunder mit dem Glase geschehen war. Aber das glückselige, unsäglich süße Lächeln um die friedlichen, schmalen Lippen löste sich nicht, der Seufzer blieb aus und die großen Augen blieben hinter den Lidern verborgen.

Da kniete die Amme noch einmal beim Bette der Toten nieder, da seufzte sie recht aus tiefstem Herzensgrunde auf und bekreuzte dann die Tote, indes große Tropfen über ihre Wangen herabrannen.

Und dann ging sie aufrecht und feierlich ins Schloß hinab, den Tod Bertas zu melden.

Das blaue Glas aber brachte sie am gleichen Tage den Meiersleuten.

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Das ist die Geschichte von der Grafentochter und dem blauen Fenster, wie ich sie oben in dem einsamen Waldkirchlein an dem schönen Grabmale träumte. Und ich denke mir, daß dieses stille und friedliche Kirchlein an dem runden Wartturm an der gleichen Stelle angebaut wurde, an der Berta ihren geliebten Toten auf den Knieen hielt.

Und als ich mich damals im Sommer von dem Grabmale erhob, um wieder in den rauschenden Wald einzutreten, da schaute ich noch einmal zu dem blauen Fenster empor und dachte mir, wie es so vollkommen zu der Liebe und Güte der Mutter Leons passe, daß sie in das neuerbaute Kirchlein oben am runden Turme die wundersame Glastafel gespendet hat, durch die nun der Sonnenstrahl so freundliche Lichter auf das Angesicht der Schlummernden zaubert....

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