BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Schubartgymnasium Aalen

gegründet 1912

 

Aus den Zeiten der Lateinschule

 

Dr. Hermann Stützel

Erinnerungen eines alten Lateinschülers

 

____________________________________________________________________

 

 

 

Das Meerrohr als Erziehungsmittel

____________________

 

Daß in der „guten alten Zeit“, d. h. bis zum Anfang dieses Jahrhunderts, das Meerrohr, der Rohrstock:, bei der Erziehung der Schulkinder eine große, ja, überragende Rolle spielte, davon hat die heutige junge Generation keine Vorstellung mehr. Deshalb will ich im folgenden etwas über dieses Erziehungsmittel erzählen. Das Meerrohr, auch spanisches Rohr genannt, kam in Gestalt von 70 bis 100 cm langen, 10 bis 12 mm starken, sehr biegsamen und elastischen Stücken zur Verwendung. Seine Handhabung geschah in der Weise, daß der Lehrer den Stock an einem Ende anfaßte und nun das andere Ende mit kräftigem Schwung mit geeigneten Körperstellen des Schülers in Berührung brachte. Der durch diesen Schlag hervorgerufene Schmerz sollte nun die beabsichtigte und erhoffte strafende, warnende oder bessernde Wirkung ausüben.

 

 

Als geeignete Stellen, die als Ziel für den Hieb in Betracht kamen, galten a) die inneren Handflächen, b) das Gesäß, c) andere Körperteile. Die Schläge auf die Handfläche nannte man Tatzen. Der Lehrer hielt mit der linken Hand die ausgestreckte Hand des Schülers und handhabte mit der rechten Hand den Stock. Tatzen wurden in drei Graden verabreicht: eine, zwei oder vier Tatzen, je nach Art der begangenen Handlung. Daß Faulheit, Bosheit, Unaufmerksamkeit etc. mit Tatzen bestraft wurden, habe ich begriffen. Daß aber bei notorisch schlecht begabten Schülern, die für ihre unzureichenden Arbeiten regelmäßig vier Tatzen einheimsten, durch diese Maßnahme eine Besserung, d. h. eine Erhöhung ihrer Intelligenz eingetreten wäre, konnte ich nie feststellen.

b) Die Schläge aufs Gesäß, bei denen der Delinquent über die Bank oder die Holzkiste gelegt wurde, nannte man „Hosenspannes“. Z. B. hatte einmal ein Schüler sein schlechtes Zeugnis an Stelle seines Vaters selbst unterschrieben, was dadurch herauskam, daß er in der Unterschrift einen Schreibfehler gemacht hatte. Da kannte der Herr Kollaborator kein Erbarmen, ein kräftiger „Hosenspannes“ war fällig.

c) Manche Lehrer wählten mit Vorliebe die Waden der Buben als Ziel für die Meerrohrstreiche. Herr V. ließ besonders gern seinen Stock auf die Waden des an der Tafel stehenden Wilhelm A. spazieren, weil 1. Wilhelm niedliche Waden hatte und 2. Wilhelm nach jedem Schlag so drollige Sprünge vollführte. Wie alles auf dieser Welt, hat auch die Verwendung des Meerrohrs als Erziehungsmittel ihre zwei Seiten. Zweifellos ist der Mißbrauch des „Tatzensteckens“ zu verurteilen. Aber andererseits hat er auch manch günstige Wirkung gehabt. Ein bißchen könnte das Meerrohr auch heute noch seine Berechtigung haben ...