BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Georg Simmel

1858 – 1918

 

Grundfragen der Soziologie

(Individuum und Gesellschaft)

 

1917

 

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IV.

Individuum und Gesellschaft

in Lebensanschauungen

des 18. und 19. Jahrhunderts

(Beispiel der Philosophischen Soziologie)

 

Das eigentliche praktische Problem der Gesellschaft liegt in dem Verhältnis, das ihre Kräfte und Formen zu dem Eigenleben der Individuen besitzen. Mag die Gesellschaft an den Individuen oder noch außerhalb dieser existieren. Aber selbst wer ein eigentliches „Leben“ nur den Individuen zuerkennte und das Leben der Gesellschaft mit dem ihrer einzelnen Mitglieder identifizierte, würde eine Vielheit tatsächlicher Konflikte nicht leugnen können. Einerseits, weil die sozialen Elemente an den Individuen eben zu dem Sondergebilde „Gesellschaft“ zusammenrinnen und dieses eigene Träger und Organe gewinnt, die dem Einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm fremde Partei gegenübertreten. Andrerseits ist der Konflikt gerade durch das Einwohnen der Gesellschaft in dem Einzelnen nahegelegt. Denn die Fähigkeit des Menschen, sich selbst in Parteien zu zerlegen und irgendeinen Teil seiner selbst als sein eigentliches Selbst zu empfinden, das mit andern Teilen kollidiert und um die Bestimmung seines Handelns kämpft – diese Fähigkeit setzt den Menschen, insoweit er sich als Sozialwesen fühlt, in ein oft gegensätzliches Verhältnis zu den durch seinen Gesellschaftscharakter nicht ergriffenen Impulsen und Interessen seines Ich: der Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum setzt sich in das Individuum selbst als der Kampf seiner Wesensteile fort. Der umfassendste und tiefstgreifende Zwist zwischen der Gesellschaft und dem Individuum scheint mir nicht auf einen einzelnen Interesseninhalt zu gehen, sondern auf die allgemeine Form des Einzellebens. Die Gesellschaft will eine Ganzheit und organische Einheit sein, so daß jedes ihrer Individuen nur ein Glied ist; in die spezielle Funktion, die es als solches zu üben hat, soll es womöglich seine gesamten Kräfte gießen, soll sich umformen, bis es ganz zum geeignetsten Träger dieser Funktion geworden ist. Allein gegen diese Rolle sträubt sich der Einheits- und Ganzheitstrieb, den das Individuum für sich allein hat. Es will in sich abgerundet sein und nicht nur die ganze Gesellschaft abrunden helfen, es will die Gesamtheit seiner Fähigkeiten entfalten, gleichviel, welche Verschiebungen unter ihnen das Interesse der Gesellschaft forderte. Dieser Widerstreit zwischen dem Ganzen, das von seinen Elementen die Einseitigkeiten der Teilfunktion fordert, und dem Teil, der selbst ein Ganzes sein will, ist prinzipiell nicht zu lösen: man kann kein Haus aus Häusern bauen, sondern nur aus besonders geformten Steinen, keinen Baum aus Bäumen erwachsen lassen, sondern nur aus differenzierten Zellen. Diese Formulierung scheint mir den Gegensatz der beiden Parteien deshalb so weitgreifend zu umschreiben, weil sie ihn über die übliche Reduktion auf Egoismus und Altruismus vollkommen hinausführt. Denn einerseits freilich erscheint das Ganzheitsstreben des einzelnen als Egoismus, dem der Altruismus seiner Einordnung als einseitig geformten sozialen Gliedes gegenübersteht; andrerseits aber ist dieses Verlangen der Gesellschaft ein Egoismus, eine Vergewaltigung des Einzelnen durch die Vielen und ihren Nutzen, die jenen oft zu einer völligen Vereinseitigung und Verkümmerung bringt; und daß das Individuum darauf drängt, sich in sich zu vollenden, braucht keineswegs als Egoismus zu gelten, sondern kann ein objektives Ideal sein, bei dem durchaus nicht nach seinem Erfolg für das Glück und die im engeren Sinne persönlichen Interessen des Subjekts gefragt wird, ein überpersönlicher Wert, der sich an der Persönlichkeit verwirklicht.

Mit dem zuletzt Angedeuteten, sogleich weiter Auszuführenden scheint mir allerdings eine ganz wesentliche Entwicklungsstufe des kulturphilosophischen Bewußtseins erreicht, auf der auch die Ethik des Individuums, und indirekt die der Gesellschaft, ein neues Licht empfängt. Es ist die populäre Meinung, daß alle Absichten, die sich in dem undurchbrochenen Seins- und Interessenkreise des wollenden Individuums selbst halten, egoistischer Natur wären. Diese wäre nur da überwunden, wo der Wille sich auf das Wohl des Du oder der Gesellschaft richte. In Wirklichkeit aber hat die tiefere Reflexion über die Lebenswerte schon lange ein Drittes festgestellt, am entschiedensten vielleicht bei Goethe und Nietzsche, wenn auch nicht in abstrakter Formulierung: daß die Vollkommenheit des Individuums rein als solche und gleichgültig gegen ihre Bedeutung für irgendwelche andere oder dieser nur zufällig verbunden, ein objektiver Wert sei, der sich aber auch ebenso unabhängig gegen den eigenen Glücks- oder Unglückszustand dieses Individuums stellen kann. Was ein Mensch nach Kraft und Vornehmheit, nach Leistungen und Harmonie der Existenz bedeutet, ist unzählige Male ohne Beziehung dazu, was er selbst oder was andere davon haben. Die Welt ist eben so viel wertvoller dadurch, daß ein in sich wertvolles, in seinem Sein vollkommenes Wesen in ihr lebt. Natürlich besteht solcher Wert unzählige Male in der praktischen Hingebung an Einzelne oder an Gesamtheiten; allein ihn darauf zu beschränken, ist ein willkürliches moralistisches Dogma. Auch gibt es eine Schönheit und Perfektion des Daseins, ein Arbeiten an sich selbst, eine leidenschaftliche Bemühung um ideale Güter, welches alles sich in das Gefühl seines Trägers keineswegs immer als Glück fortsetzt. Diese Einstellung, sozusagen von dem weltmäßigen Wert her, setzt doch nur eine entsprechende des individuellen Bewußtseins fort. Jeder höhere Mensch begehrt unzählige Male Zustände und Geschehnisse, Erkenntnisse und Werke, in deren So-Sein und Dasein er ein definitiv befriedigendes Ziel sieht. Gelegentlich mag Förderung oder Befinden Anderer solchen Willensinhalt ausmachen; notwendig aber ist dies nicht, die Sache selbst wird gewollt, nur um ihrer eigenen Verwirklichung willen, und andere daher ebenso zu opfern wie sich selbst, ist kein zu hoher Preis: jenes „fiat justitia pereat mundus“ oder die Erfüllung des göttlichen Willens, bloß weil es der göttliche ist, der Fanatismus des Künstlers, den die Vollendung seines Werkes jede altruistische wie egoistische Rücksicht vergessen macht, oder der politische Idealist, den die Begeisterung für eine Verfassungsform ganz gleichgültig dagegen macht, wie sich die Individuen dabei befinden – alles dies sind Beispiele für jene, bis zu ganz unscheinbaren Inhalten herabgehende, rein objektive Wertung. Das handelnde Subjekt weiß sich selbst nur als den eigentlich zufälligen Gegenstand oder Vollbringer dieses Auftrags von der Sache her; die Leidenschaft für sie fragt hier so wenig nach dem Ich, dem Du, der Gesellschaft als solcher, wie der Wert des Weltzustandes sich etwa ausschließlich (wenn auch natürlich zum Teil) an deren Lust oder Leid messen läßt. Aber es liegt auf der Hand, daß die von Personen und Gesamtheiten, soweit sie sich als letzte Wertinstanzen fühlen, herkommenden Ansprüche mit diesen objektiven nicht ohne weiteres zusammengehen. Insbesondere, wo der Einzelne einen solchen objektiven Wert an sich selbst oder einem sozial nicht geschätzten Werk herzustellen strebt, ist es der Gesellschaft höchst gleichgültig, daß er dabei durchaus überegoistisch verfährt. Sie fordert ihn für sich und will ihn in die ihrer Ganzheit einfügsame Form bringen, oft in so harter Unverträglichkeit mit derjenigen, die er als objektiven Wert sich selbst abverlangt, wie sie nur zwischen einem rein egoistischen und einem sozialen Anspruch bestehen mag. Die mit jenen Wertungen erreichte Stufe hat freilich den Gegensatz von Egoismus und Altruismus hinter sich gelassen; aber der zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft versöhnt sich prinzipiell auch auf ihr nicht.

Einen verwandten und doch nach der letzten, weltanschaulichen Gesinnung anders orientierten Gegensatz läßt die moderne Auseinanderlegung der soziologischen Begriffe oft um dieselben materiellen Inhalte spielen. Die Gesellschaft – und ihr Repräsentant im Einzelnen, das sozial-sittliche Gewissen – verlangt unzählige Male ein Spezialistentum, das nicht nur, wie hervorgehoben, die harmonische Totalität des Menschen unentwickelt läßt oder zerstört; sondern inhaltlich stellt jenes sich oft ebenso feindlich zu den Eigenschaften, die man die allgemein menschlichen zu nennen pflegt. Den Unterschied zwischen dem Menschheitsinteresse und dem sozialen Interesse hat, wie es scheint, zuerst Nietzsche mit prinzipieller Deutlichkeit gefühlt. Die Gesellschaft ist eine der Formungen, in die die Menschheit die Inhalte ihres Lebens bringt; aber weder ist sie für diese alle wesentlich, noch ist sie die einzige, innerhalb deren die Entwicklung des Menschlichen sich vollzieht. Alle rein sachlichen Bedeutsamkeiten, an denen unsere Seele irgendwie teilhat, die logische Erkenntnis und die metaphysische Phantasie über die Dinge, die Schönheit des Daseins und sein Bild in der Selbstherrlichkeit der Kunst, das Reich der Religion und der Natur – alles dies, soweit es zu unserem Besitz wird, hat innerlich und seinem Wesen nach mit „Gesellschaft“ nicht das mindeste zu schaffen; die Menschheitswerte, die sich an unserem größeren oder geringeren Besitz innerhalb dieser idealen Welten messen, haben zu den sozialen Werten, mit denen sie sich freilich oft genug kreuzen, eine nur zufällige Beziehung. Andrerseits sind die rein personalen Eigenschaften: Kraft und Schönheit, Denktiefe und Gesinnungsgröße, Milde und Vornehmheit, Mut und Herzensreinheit – von einer autonomen Bedeutung, die von ihren sozialen Verflechtungen völlig unabhängig ist. Es sind Werte des menschlichen Seins und als solche von den sozialen Werten, die immer auf den Wirkungen von Personen beruhen durchaus getrennt; sie sind freilich zugleich Elemente des sozialen Geschehens, als Wirkungen wie als Ursachen, aber dies ist nur eine Seite ihrer Bedeutung, während die andere in der bloßen, nicht über sich hinausweisenden Tatsache ihres Daseins an der Persönlichkeit besteht. Dieses, genau genommen, unmittelbare Sein der Menschen aber ist für Nietzsche der Ort, an dem die jeweilige Höhe des Menschengeschlechts sich erhebt. Ihm sind alle gesellschaftlichen Institutionen, alles Geben und Nehmen des Individuums, wodurch es zum Sozialwesen wird, nur Vorbedingungen oder Folgen der Beschaffenheitswerte des Einzelnen, mit denen er eine Stufe der Menschheitsentwicklung ausmacht. Alle utilitarisch-soziale Wertung hängt nicht ganz von der Eigenbedeutung des Einzelnen ab, sondern auch von denen, die sein Tun aufnehmen, sein Wert tritt damit aus ihm heraus, und er empfängt ihn nur zurück als den Reflex von Vorgängen und Gebilden, in denen sich seine Eigenheit mit äußeren Wesen und Umständen gemischt hat. Daraufhin hat schon die Ethik, vor allem die Kantische, den Schätzungsgrund des Menschen von seinem Tun in seine Gesinnung zurückverlegt: der gute Wille, eine nicht näher zu beschreibende Beschaffenheit des letzten Quellpunktes unseres Handelns, hinter aller Erscheinung des letzteren stehend, mache unseren Wert aus, während diese Erscheinung selbst und mit ihr alle Wirksamkeiten schon eine bloße Folge seien, die jenes Wesentliche bald richtig ausdrücke, bald verzerre und so von den Mächten der Phänomenalität in ein bloß zufälliges Verhältnis zu dem Grundwert gesetzt werde. Nietzsche hat dies verbreitert oder prinzipieller gefaßt, indem er den Kantischen Gegensatz zwischen Gesinnung und äußeren Taterfolgen, der schon von sich aus den Wert des Individuums aus seiner sozialen Abhängigkeit erlöste, in den zwischen dem Sein und den Wirkungen des Menschen überführte. Das qualitative Sein der Persönlichkeiten aber dokumentiert, wohin es die Entwicklung unserer Art gebracht hat, mit ihren jeweilig höchsten Exemplaren schreitet die Menschheit über ihre Vergangenheit hinaus. Die Grenzen des bloß gesellschaftlichen Daseins, die Wertabmessung des Menschen nach seinen Wirkungen sind damit durchbrochen. Die Menschheit ist so nicht nur ein quantitatives Mehr der Gesellschaft gegenüber, sie ist nicht die Summe aller Gesellschaften, sondern eine völlig eigenartige Synthese derselben Elemente, die in andrer Form die Gesellschaften ergeben. Dem Individuum gegenüber sind beides gleichsam zwei verschiedene methodische Gesichtspunkte, von denen aus es betrachtet werden kann, die es mit verschiedenen Maßen messen und deren Ansprüche aufs härteste kollidieren können. Was uns mit der Menschheit als Ganzem verbindet und was wir als Beitrag zu ihrer Gesamtentwicklung leisten können: Religiöses und Wissenschaftliches, interfamiliäre und internationale Interessen, die ästhetische Vervollkommnung der Persönlichkeit und die rein sachliche, auf keinerlei „Nutzen“ ausgehende Produktion – alles dies mag gelegentlich auch der Gesellschaft, in die wir historisch hineingewachsen sind, förderlich sein; prinzipiell aber ist es von weit über sie hinwegsehenden Forderungen abhängig, die der Höherbildung und sachlichen Bereicherung des Typus Mensch dienen und sich bis zum Gegensatz gegen die spezielleren Ansprüche zuspitzen, wie sie von der Gruppe, die für uns „die Gesellschaft“ ist, gestellt werden. In vielen andern Beziehungen aber drängt diese Gesellschaft auf ein Nivellement ihrer Mitglieder, innerhalb ihres engeren Kreises schafft sie einen Durchschnitt, über den mit individuellen Besonderheiten der Quantität und Qualität des Lebens hinauszustreben sie ihren Elementen auf das äußerste erschwert. Die Besonderung, die sie dem menschlich Allgemeinen entgegen fordert, verbietet sie gegenüber dem sozial Allgemeinen. So ist die Persönlichkeit von zwei Seiten her bedrängt: die Gesellschaft gibt ihr ein Maß, das sie weder in der Richtung des Allgemeineren, noch in der des Individuelleren überschreiten darf. Diese Konflikte, in die der Einzelne nicht nur seiner politischen Gruppe, sondern auch der Familie wie dem Wirtschaftsverband, der Partei wie der religiösen Gemeinde gegenüber gerät, haben sich schließlich in der neueren Geschichte zu dem sozusagen abstrakten Bedürfnis nach individueller Freiheit sublimiert. Dies ist der Allgemeinbegriff, der das Gemeinsame der mannigfachen Beschwerden und Selbstbehauptungen des Individuums gegenüber der Gesellschaft deckte.

Es ist das 18. Jahrhundert, in dem das Bedürfnis nach Freiheit überhaupt, nach Lösung der Fesseln, mit denen die Gesellschaft als solche das Individuum als solches gebunden hat, seine stärkste Bewußtheit und Wirksamkeit fand. Diese prinzipielle Forderung ist feststellbar in ihrer volkswirtschaftlichen Einkleidung bei den Physiokraten, die die freie Konkurrenz der Einzelinteressen als die natürliche Ordnung der Dinge preisen; in ihrer gefühlsmäßigen Ausgestaltung durch Rousseau, für den die Vergewaltigung des Menschen durch die geschichtlich gewordene Gesellschaft der Ursprung aller Verkümmerung und alles Bösen ist; in ihrer politischen Formung durch die Französische Revolution, die die individuelle Freiheit so ins Absolute steigerte, um den Arbeitern sogar die Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen zu untersagen; in ihrer philosophischen Sublimierung durch Kant und Fichte, die das Ich zum Träger der erkennbaren Welt und seine absolute Autonomie zu dem sittlichen Werte schlechthin machten. Die Unzulänglichkeit der gesellschaftlich gültigen Lebensformen im 18.Jahrhundert im Verhältnis zu den materiellen und geistigen Produktivkräften der Zeit kam den Individuen als eine unerträgliche Bindung ihrer Energien zum Bewußtsein: so die Vorrechte der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel, die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassungen wie der unduldsame Zwang des Kirchentums, die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der Stadtverfassungen. In der Bedrücktheit durch solche Institutionen, die jedes innere Recht verloren hatten, entstand das Ideal der bloßen Freiheit des Individuums; wenn nur jene Bindungen fielen, die die Kräfte der Persönlichkeit in unnatürliche Bahnen zwängen, so würden alle inneren und äußeren Werte, zu denen die Spannkräfte vorhanden, aber politisch, religiös, wirtschaftlich lahmgelegt waren, sich entfalten und die Gesellschaft aus der Epoche der historischen Unvernunft in die der natürlichen Vernünftigkeit überführem Weil die Natur all jene Bindungen nicht kannte, erschien das Ideal der Freiheit als das des „natürlichen“ Zustandes. – Versteht man unter Natur das ursprüngliche Sein unserer Gattung und jedes einzelnen Menschen (unbeschadet einer Zweideutigkeit des „Ursprünglichen“: als zeitlich Ersten und als wesenhaft Fundamentalen), an das der Kulturprozeß sich ansetzt –, so suchte das 18. Jahrhundert in einer gewaltigen Synthese den End- oder Höhepunkt dieses Prozesses wieder an seinen Ausgangspunkt zu knüpfen. Die Freiheit des Einzelnen war zu leer und zu schwach, um seine Existenz zu tragen; wenn die historischen Mächte sie nicht mehr erfüllten und stützten, so leistete dies nun die Idee, daß man diese Freiheit nur recht rein und restlos zu gewinnen brauchte, um sich wieder auf dem Urgrund unseres gattungsmäßigen und persönlichen Seins zu befinden, der so sicher und fruchtbar wäre wie die Natur überhaupt.

Dieses Freiheitsbedürfnis des Individuums, das sich durch die geschichtliche Gesellschaft eingeengt und deformiert fühlte, führt aber in seiner Verwirklichung zu einem Selbstwiderspruch.

Denn es ist offenbar nur dann dauernd zu realisieren, wenn die Gesellschaft aus lauter gleich starken und innerlich wie äußerlich genau gleich begünstigten Individuen besteht. Da diese Bedingung aber nirgendwo erfüllt ist, vielmehr die machtgebenden und rangbestimmenden Kräfte der Menschen durchaus von vornherein ungleich sind, qualitativ wie quantitativ, so wird jene völlige Freiheit unvermeidlich zum Ausnutzen dieser Ungleichheit seitens der Begünstigten führen, der Klugen gegenüber den Dümmeren, der Starken gegenüber den Schwachen, der Zugreifenden gegenüber den Schüchternen. Sind alle äußeren Hemmnisse beseitigt, so muß die Verschiedenheit der inneren Potenzen sich in einer entsprechenden Verschiedenheit der äußeren Positionen ausdrücken: die Freiheit, die die allgemeine Institution gibt, wird durch die personalen Verhältnisse wieder illusorisch, und da in allen Machtverhältnissen der einmal gewonnene Vorsprung den Gewinn eines weiteren erleichtert – wovon die „Akkumulierung des Kapitals“ nur ein Einzelfall ist –, so wird sich die Ungleichheit der Macht in raschen Progressionen erweitern und die Freiheit des so Bevorzugten immer sich auf Kosten der Freiheit des Unterdrückten entfalten. Aus diesem Grunde war die paradoxe Frage durchaus gerechtfertigt, ob nicht die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel die einzige Bedingung wäre, unter der – die freie Konkurrenz durchzuführen wäre! Nur also, indem man dem Einzelnen die Möglichkeit gewaltsam nimmt, seine eventuelle Überlegenheit über den Niederen voll auszunutzen, kann ein überall gleiches Maß von Freiheit in der Gesellschaft herrschen. Darum ist es unter Voraussetzung dieses Ideals nicht richtig, daß der Sozialismus die Aufhebung der Freiheit bedeute. Er hebt vielmehr nur dasjenige auf, was bei gegebener Freiheit zum Mittel wird, die Freiheit der einen zugunsten der andern zu unterdrücken: den Privatbesitz, der nicht nur zum Ausdruck, sondern sogar zum Multiplikator der individuell verschiedenen Kräfte wird und diese Verschiedenheit so lange zu steigern vermag, bis sich – in radikalem Ausdruck – an dem einen Pol der Gesellschaft ein Maximum von Freiheit, an dem andern ein Minimum gesammelt hat. Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei voller Gleichheit mit jedem andern statthaben. Diese aber ist nicht nur im ganz Persönlichen unerreichbar, sondern auch im Ökonomischen, solange dieses die Ausnutzung persönlicher Überlegenheiten gestattet. Erst indem diese Möglichkeit ausgeschaltet, d. h. der Privatbesitz an Produktionsmitteln aufgehoben wird, ist hier Gleichheit möglich, und also die von der Ungleichheit nicht abtrennbare Schranke der Freiheit beseitigt. Unleugbar tritt gerade an dieser „Möglichkeit“ die tiefe Antinomie von Freiheit und Gleichheit hervor, da sie nur durch die Versenkung beider in das Negative der Besitz- und Machtlosigkeit zu lösen ist. Es scheint, als ob damals nur Goethe sie klar durchschaut hätte: die Gleichheit, sagt er, verlange Subordinierung unter eine allgemeine Norm, die Freiheit „strebe ins Unbedingte“; „Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichheit und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Scharlatans“. Es war vielleicht ein Instinkt für diesen Sachverhalt, der der Freiheit und Gleichheit als dritte Forderung die Brüderlichkeit hinzufügen ließ. Denn verwirft man das Mittel des Zwanges, um den Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit aufzuheben, so führt nur der ausdrückliche Altruismus zu demselben Erfolge: nur durch sittlichen Verzicht auf das Geltendmachen natürlicher Vorzüge wäre die Gleichheit wiederherzustellen, nachdem die Freiheit sie vernichtet hätte. Im übrigen aber ist der typische Individualismus des 18. Jahrhunderts gegen diese innere Schwierigkeit der Freiheit völlig blind. Jene ständischen, zünftigen, kirchlichen, geistigen Bindungen, gegen die er sich wehrte, hatten unzählige Ungleichheiten zwischen den Menschen geschaffen, deren Ungerechtigkeit und deren nur äußerlich-historischen Ursprung man empfand. So schloß man, daß die Beseitigung der Institutionen, mit der diese Ungleichheiten fallen müßten, alle Ungleichheiten überhaupt aus der Welt schaffen würde. Freiheit und Gleichheit erschienen als die selbstverständlich harmonischen Seiten eines einzigen Menschheitsideals.

Dies wurde nun noch von einer tieferen geschichtlichen Strömung getragen: von dem eigentümlichen Naturbegriff in dem Geiste jener Zeit. Das 18. Jahrhundert war in seinen theoretischen Interessen durchaus naturwissenschaftlich orientiert: es hat, die Arbeit des 17. fortsetzend, den modernen Begriff des Naturgesetzes als das höchste Erkenntnisideal statuiert. Für dieses aber verschwindet die eigentliche Individualität, das Unvergleichliche, Unauflösliche des einzelnen Daseins. Hier besteht nur das allgemeine Gesetz, und jede Erscheinung, ein Mensch oder ein Nebelfleck in der Milchstraße, ist nur ein einzelner Fall desselben, ist selbst bei völliger Unwiederholtheit seiner Form ein bloßer Schnittpunkt und auflösbares Zusammen schlechthin allgemeiner Gesetzesbegriffe. So mindestens verstand man damals die „Natur“ – nur die Dichter verstanden sie anders. Darum steht der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt, im Interessenzentrum dieser Zeit, statt des historisch gegebenen, des besonderen und differenzierten. Dieser letztere ist prinzipiell auf jenen reduziert, in jeder individuellen Person lebt als ihr Wesentliches jener allgemeine Mensch, wie jedes noch so besonders gestaltete Stück Materie doch in seinen Wesen die durchgehenden Gesetze der Materie überhaupt darstellt. Damit aber ergibt sich zugleich das Recht, Freiheit und Gleichheit von vornherein zueinander gehören zu lassen. Denn wenn das Allgemeinmenschliche, sozusagen das Naturgesetz Mensch, als der wesentliche Kern in jedem, durch empirische Eigenschaften, gesellschaftliche Stellung, zufällige Bildung individualisierten Menschen besteht, so braucht man ihn eben nur von all diesen historischen, sein tiefstes Wesen überdeckenden Einflüssen und Ablenkungen zu befreien, damit als dieses Wesen das allen Gemeinsame, der Mensch als solcher, an ihm hervortrete. Hier liegt der Drehpunkt dieses Individualitätsbegriffes, der zu den großen geistesgeschichtlichen Kategorien gehört: wenn der Mensch von allem, was nicht ganz er selbst ist, befreit wird, wenn er sich selbst gefunden hat, so verbleibt als die eigentliche Substanz seines Daseins der Mensch schlecht hin, die Menschheit, die in ihm wie in jedem andern lebt, das immer gleiche Grundwesen, das nur empirisch-historisch verkleidet, verkleinert, entstellt ist. Wenn Freiheit bedeutet, daß sich in der ganzen Peripherie des Daseins das zentrale Ich unbehindert und restlos ausdrückt, daß der Punkt des unbedingten Selbst im Menschen die Alleinherrschaft über seine Existenz besitzt, so ist dies nun derjenige, in dem alle Menschen wesentlich gleich sind, der reine Begriff der Menschheit, das Allgemeine, gegen das alle unterschiedene Individualität etwas Äußerlich-Zufälliges ist. Diese Bedeutung des Allgemeinen ist es, aus der heraus die Literatur der Revolutionszeit fortwährend von dem Volke, dem Tyrannen, der Freiheit ganz im allgemeinen spricht; derentwegen die „natürliche Religion“ eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche Erziehung überhaupt hat, ohne das Recht besonderer Gestaltungen dieses Allgemeinen anzuerkennen; derentwegen das „Naturrecht“ auf der Fiktion isolierter und gleichartiger Individuen beruht. Für diese Anschauung zergeht die Gemeinsamkeit im Sinne der Kollektiveinheit – der kirchlichen oder wirtschaftlichen, der ständischen oder der staatlichen (da dem Staate nur die negative Funktion des Schutzes, des Abhaltens von Störungen zukommt); es bleibt der auf sich ruhende, individuell freie Einzelmensch, und an die Stelle jener historisch-sozialen Gemeinsamkeiten tritt die Überzeugung von der Allgemeinheit der Menschennatur, die als das Wesentliche, Unverlierbare, immer Identifizierbare in jedem subsistiert, nur aufgefunden und an ihm aufgedeckt zu werden braucht, damit er vollkommen sei. Und wie sie jene Isolierung der Individuen mildert und erträglich macht, so macht sie ebenso die Freiheit sittlich möglich, indem sie die Entwicklung der Ungleichheit, die unvermeidliche Konsequenz dieser, von der Wurzel her abzuschneiden scheint. Darum kann Friedrich der Große den Fürsten als „den ersten Richter, den ersten Finanzmann, den ersten Minister der Gesellschaft“ bezeichnen, in demselben Atem aber als „einen Menschen wie den geringsten seiner Untertanen“. Mit alledem überträgt sich die soziologische Antinomie, von der ich ausging, in die Paradoxe der Moral: daß sie die innerste, eigenste Bewegtheit des Menschen ist und zugleich den Verzicht auf das Selbst fordert; und in die der Religion: wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen.

In der Philosophie Kants erlangt dieser Begriff der Individualität seine höchste intellektuelle Sublimierung. Alles Erkennen, so lehrt er, kommt zustande, indem die an sich zusammenhangslose Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke zu Einheiten geformt wird. Dies ist dadurch möglich, daß der Intellekt, in dem dies sich abspielt, selbst eine Einheit, ein Ich ist. Daß wir statt vorüberhuschender Empfindungen ein Bewußtsein von Gegenständen haben, ist der Ausdruck der Vereinheitlichung, die unser Ich an jenen vornimmt, das Objekt ist das Gegenbild des Subjekts. So wird das Ich – nicht das zufällige, psychologische, individuelle, sondern das fundamentale, schöpferische, unwandelbare – zum Träger und Produzenten der Objektivität; die Erkenntnis ist in dem Maße objektiv wahr, sachlich notwendig, in dem sie von jenem reinen Ich, von der letzten Instanz in der erkennenden Seele, geformt wird. Aus dieser unerschütterlichen Voraussetzung der einen Wahrheit, der einen objektiven Welt, folgt deshalb, daß in allen Menschen das Ich, das jene bildet oder bilden könnte, immer das gleiche sein muß. So ist der Kantische Idealismus, der die erkennbare Welt zum Produkte des Ich macht und zugleich an der Einzigkeit und Immergleichheit der wahren Erkenntnis festhält, ein Ausdruck jenes Individualismus, der in allem, was Mensch ist, den unbedingt gleichen Kern sieht, der das im Tiefsten Produktive in uns allen für ebenso gleichartig – wenn auch nicht immer gleich entwickelt und erscheinend – halten muß, wie die erkannte Welt, die für jeden, der Mensch ist, dieselbe ist. – In derselben Tiefe, in der für Kant aus der Gleichheit des Ichs die Gleichheit ihrer Welten erwächst, wurzelt ihm ihre Freiheit. Das Ich des Idealismus, als dessen Vorstellung allein eine Welt gegeben sein kann, verkörpert die absolute Unabhängigkeit der Person von allen Bedingungen und Bestimmungen außerhalb ihrer. Indem das Ich alle bewußten Daseinsinhalte formt, darunter auch das empirische Ich, kann es nicht selbst wieder von irgendwelchen unter ihnen geformt werden. Aus allen Verflechtungen mit der Natur, mit einem Du, mit der Gesellschaft hat das Ich hier seine absolute Souveränität herausgewonnen, es steht so sehr auf sich selbst, daß sogar eine Welt noch auf ihm stehen kann. Dieses Ich müssen alle geschichtlichen Mächte schon gewähren lassen, da es überhaupt nichts über sich, ja, nichts neben sich hat und seinem Begriffe nach keinen andern Weg gehen kann, als den seine eigene Wesensform ihm vorzeichnet. Indem diese Epoche die von aller Bindung und Sonderbestimmung gelöste und deshalb immer gleiche Individualität: das Abstraktum Mensch – zur letzten Substanz der Persönlichkeit macht, steigert sie jenes Abstraktum zugleich zum letzten Werte dieser. Der Mensch, sagt Kant, ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in ihm ist heilig. Und Schiller: „Der Idealist denkt von der Menschheit so groß, daß er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten.“ Für Rousseau, der gewiß ein starkes Gefühl für die individuellen Verschiedenheiten hat, liegen diese dennoch auf der Oberfläche: je mehr der Mensch zu seinem eigenen Herzen zurückkehrt, statt der äußeren Relationen seine innere Absolutheit erfaßt, um so stärker fließt in ihm, d. h. in jedem gleichmäßig, die Quelle der Güte und des Glücks. Wenn so der Mensch wirklich er selbst ist, besitzt er eine gesammelte Kraft, die für mehr als seine Selbsterhaltung ausreicht und die er sozusagen auf andere überströmen kann, durch die er die andern in sich aufnehmen, mit sich identifizieren kann: wir sind also um so sittlich wertvoller, um so mitleidiger und gütiger, je mehr jeder nur er selbst ist, d. h. je mehr er jenen innersten Kern in sich souverän werden läßt, in dem alle Menschen, jenseits der Verworrenheit ihrer gesellschaftlichen Bindungen und zufälligen Einkleidungen, identisch sind. Indem das echte Individuum mehr ist als die empirische Individualität, hat es in diesem Mehr die Möglichkeit, abzugeben, seinen empirischen Egoismus zu übergreifen. Der Naturbegriff bildet hier zugleich den Knotenpunkt zwischen Natur und Ethik; seine Doppelrolle im 18. Jahrhundert kommt in Rousseau zum stärksten Ausdruck. Ich wies auf ihre Bedeutung für das Individualitätsproblem schon hin: die Natur ist nicht nur das, was eigentlich allein ist, das Substantielle in allem Flackern und Wirbeln der Geschichte, sondern sie ist zugleich das Seinsollende, das Ideal, um dessen wachsende Verwirklichung es sich erst handelt. Dies kann als widerspruchsvoll erscheinen: daß das wahrhaft Seiende ein erst noch zu erreichendes Ziel sein sollte. Tatsächlich aber sind dies die beiden Seiten eines einheitlich-psychologischen Verhaltens zu mehr als einem von unseren Wertbegriffen, das wir nicht anders als in jener für die Logik nicht kommensurablen Zweiheit ausdrücken können. Und gerade in der Besonderung zu dem Ichproblem wird die Doppelbedeutung des „Natürlichen“ am ehesten nachfühlbar. Wir fühlen in uns eine letzte Realität, die das Wesen unseres Wesens bildet und mit der sich dennoch unsere empirische Wirklichkeit nur sehr unvollkommen deckt – keineswegs nur ein über der letzteren schwebendes, phantasiehaftes Ideal, sondern in irgendeiner Form doch schon daseiend, wie mit ideellen Linien in unsere Existenz eingezeichnet, aber doch die Norm für diese enthaltend, der vollen Herausarbeitung und Ausgestaltung in dem Material unseres Daseins erst harrend. Im 18. Jahrhundert wird diese Empfindung höchst mächtig: daß das Ich, welches wir ja schon sind, doch ein erst zu erarbeitendes sei – weil wir es eben nicht rein und absolut sind, sondern in Verhüllungen und Entstellungen durch unsere geschichtlich-gesellschaftlichen Schicksale; und daß diese Normierung des Ich durch das Ich sittlich gerechtfertigt sei, weil jenes ideale, im höheren Sinne wirkliche Ich das allgemein menschliche sei und durch seine Erreichung die wahre Gleichheit unter allem, was Mensch ist, erreicht werde. Ganz erschöpfend hat Schiller das ausgedrückt: „Jeder individuelle Mensch trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen, idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist. Dieser reine Mensch gibt sich, mehr oder weniger deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen.“

Die Formel des „kategorischen Imperativ“, in die Kant unsere sittliche Aufgabe zusammenfaßt, ist die tiefsinnigste Ausgestaltung dieses Begriffes der Individualität. Er stellt zuerst den ganzen moralischen Wert des Menschen auf die Freiheit. Solange wir Teile des Mechanismus der Welt, die gesellschaftliche eingeschlossen, sind, haben wir so wenig „Wert“ wie die ziehende Wolke oder das verwitternde Gestein. Erst indem wir aus einem bloßen Produkt und Schnittpunkt äußerer Kräfte zu einem aus dem eigenen Ich heraus entwickelten Wesen werden, können wir verantwortlich sein und damit ebenso die Möglichkeit der Schuld wie die des sittlichen Wertes erwerben. Innerhalb des natürlich-gesellschaftlichen Kosmos gibt es kein „Fürsichsein“, keine „Persönlichkeit“: wenn wir uns aber auf die absolute Freiheit stellen – das metaphysische Gegenbild des „laissez faire“ – gewinnen wir zugleich Persönlichkeit und die Würde des Sittlichen. Was aber das Sittliche sei, drückt der „kategorische Imperativ“ aus: „Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Hiermit ist das Ideal der Gleichheit zum Sinne alles Sollens geworden. Aller selbstschmeichlerischen Einbildung ist vorgebeugt, als sei man zu einem ganz besonderen Handeln und Genießen berechtigt, weil man „anders als die andern“ sei: die sittliche Rechtsprechung „ohne Ansehen der Person“, die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz ist in der Forderung vollendet, daß die eigene Handlung widerspruchslos als die notwendige Handlungsweise Aller gedacht werden könne. Die Freiheit, als der Quell aller Sittlichkeit, erhält ihren Inhalt an der Gleichheit, die absolut auf sich allein stehende, selbstverantwortliche Persönlichkeit ist eben diejenige, deren Handeln durch die prinzipiell gleiche Berechtigung aller zu ebendemselben sittlich legitimiert wird. Nicht nur: allein der freie Mensch ist sittlich, sondern: allein der sittliche Mensch ist frei, – weil nur sein Handeln jene allgemeine Gesetzlichkeit besitzt, die ausschließlich an dem unbeeinflußten, auf sich allein stehenden Ich wirklich ist. Dadurch hat der Individualitätsbegriff des 18. Jahrhunderts, die persönliche Freiheit, die die Gleichheit nicht aus-, sondern einschließt, weil die wahre „Person“ in jedem zufälligen Menschen eben die gleiche ist, – in Kant seine abstrakte Vollendung gefunden.

Im 19. Jahrhundert nun geht dieser in zwei Ideale auseinander, die man, ganz roh und vieler Einschränkungen bedürftig, als die Tendenz auf Gleichheit ohne Freiheit und auf Freiheit ohne Gleichheit bezeichnen könnte. Die erstere durchzieht den Sozialismus, freilich ohne ihn zu erschöpfen, aber doch mit tieferer Bedeutung, als seine meisten Vertreter zugeben; indem diese die mechanische Gleichmacherei energisch ablehnen, täuschen sie sich über die Rolle, die der Gleichheitsgedanke immer als Träger sozialistischer Idealbildung spielen wird. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel mag, wie ich schon hervorhob, viele individuelle Unterschiede zur Geltung bringen, die jetzt durch die Einrangierung in ein Klassenniveau, durch mangelhafte Ausbildung, durch Arbeitsübermaß, durch Not und Sorge verkümmern. Dennoch würde dem jetzigen Zustand gegenüber das Ausschalten der unverdienten Bevorzugungen und Zurücksetzungen durch Geburt, Konjunkturen, Kapitalansammlung, Verschiedenwertung des gleichen Arbeitsquantums usw. jedenfalls zur erheblichsten Nivellierung der ökonomischen Lagen führen. Und gemäß der strengen Abhängigkeit, die gerade für die sozialistische Theorie zwischen dem wirtschaftlichen und dem gesamten geistigen Status herrscht, müßte die relative Ausgleichung in jenem ihr Gegenbild in einer umfassenden personalen finden. Die Hauptsache aber ist, daß die je nach den Programmen verschiedenen Nivellierungsmaße doch nur die Oszillationen der Theorie um die Tatsache des Gleichheitsideales bedeuten, die zu den großen charakterologischen Bestimmtheiten der Menschheit gehört. Es wird immer einen Typus von Personen geben, deren soziale Wertgedanken mit der Gleichheit Aller schlechthin abschließen, so nebelhaft und gar nicht im einzelnen ausdenkbar dieses Ideal sei – gerade wie ftir einen andern Typus die Unterschiede und Distanzen einen letzten unreduzierbaren, durch sich selbst gerechtfertigten Wert der gesellschaftlichen Existenzform ausmachen. Wenn nun freilich einer der führenden Sozialisten behauptet, alle sozialistischen Maßregeln, auch die äußerlich sich als Zwänge darstellen, gingen auf Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit, zum Beispiel bedeute der Maximalarbeitstag nur das Verbot, auf die persönliche Freiheit für länger als eine bestimmte Zahl von Stunden zu verzichten, stünde also prinzipiell dem Verbote gleich, sich dauernd in persönliche Knechtschaft zu verkaufen – so zeigt das, daß er noch innerhalb des Individualismus des 18. Jahrhunderts und seines schematischen Freiheitsbegriffes steht. Vielleicht ist kein empirischer Mensch ausschließlich von der einen oder von der andern jener beiden Tendenzen geleitet, vielleicht würde auch die absolute Verwirklichung der einen oder der andern etwas ganz Unmögliches sein; das hindert nicht, daß sie die Grundtypen der Charakterverschiedenheiten in ihrer gesellschaftlichen Äußerungsweise sind. Wo eine von beiden einmal besteht, wird man ihren Träger durch verstandesmäßige Gründe nicht umstimmen; denn solche Tendenz geht nicht aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen um eines höheren Endzweckes willen – z.B. des allgemeinen Glückes der der personalen Vervollkommnung oder der Rationalisierung des Lebens – hervor, so oft sie sich auch für das nachträgliche Bewußtsein so darstellen wird. Sie ist vielmehr selbst die letzte Instanz, auf der sich dann erst alle andern Absichten, Entscheidungen, Deduktionen aufbauen; in ihr drückt sich das Sein des Menschen, die Substanz seines Wesens aus. Sein Verhältnis zu seinen Mitmenschen ist für ihn etwas zu Wichtiges, Weitgreifendes, Fundamentales, als daß nicht die Entscheidung, ob er ihnen gleich oder ungleich ist, sein will oder sein soll – im einzelnen wie im Prinzip – aus seinem tiefsten Wesensgrund kommen müßte. Aus den Naturen, die in dieser Weise dem ganz allgemeinen Gleichheitsideal zu tendieren, scheint mir der Sozialismus seine meisten, jedenfalls seine fanatischsten Anhänger zu beziehen. – Das Verhältnis nun, das die relative Gleichheit eines sozialisierten Zustandes zu der Freiheit zeigen würde, ist ein sehr kompliziertes. Es unterliegt einer typischen Zweideutigkeit; mit der die Differenzierung der Klassen sehr oft einheitliche, die Gesamtheit treffende Einflüsse oder Umgestaltungen heimsucht: indem nämlich die Ausbildungsstufe und die Lebensbedingungen der Gruppenteile äußerst verschiedenartig sind, wird eine gemeinsame Modifikation des Daseins an diesen Teilen äußerst verschiedenartige, ja diametral entgegengesetzte Erfolge auslösen. Ebendasselbe Maß allgemeiner Egalisierung, das dem unter der fortwährenden Hungerchance lebenden, von den Härten der Lohnarbeit bedrückten Arbeiter ein sehr hohes Maß von Freiheit gewähren würde, müßte für den Unternehmer, den Rentier, den Künstler, den Gelehrten, für die führenden Persönlichkeiten der jetzigen Ordnung eine mindestens ebenso erhebliche Einschränkung ihrer Freiheit bedeuten. Es ist ein formal entsprechender soziologischer Dualismus, der die Frauenfrage spaltet: dieselbe Freiheit zu wirtschaftlicher Produktivität, die von Frauen der höheren Stände ersehnt wird, damit sie zu fundierter Selbständigkeit und befriedigender Kraftbewährung kämen – eben diese ist für die Fabrikarbeiterin die fürchterliche Hemmung, ihren Pflichten und ihrem Glück als Frau und Mutter nachzugehen. Die Aufhebung der häuslich-familiären Umschränktheit läuft, auf zwei klassenmäßig verschiedene Schichten treffend, in eine völlige Wertverschiedenheit ihrer Erfolge aus. Diese Umbiegung hat also die Synthese von Freiheit und Gleichheit in der sozialistischen Strömung erlitten: der Akzent ist auf die Gleichheit gerückt, und nur daß diese von der Klasse, deren Interessen der Sozialismus vertritt, im ersten Augenblick als Freiheit empfunden werden würde, hat dieser Partei den Antagonismus beider Ideale ferngestellt.

Nun könnte freilich die Freiheitseinbuße, die der Sozialismus gewissen gesellschaftlichen Schichten auferlegen würde, nur eine Übergangserscheinung sein, nur so lange bestehend, wie die Nachwirkungen des jetzigen Zustands noch Unterschiedsempfindungen Raum geben. Gegenüber den oben berührten Schwierigkeiten für die Vereinigung von Freiheit und Gleichheit bleibt dem Sozialismus überhaupt nichts übrig, als auf eine Anpassung an die Gleichheit zu rekurrieren, die als Gesamtbefriedigung auch die über sie hinausgehenden Freiheitswünsche zurückbildete. Indes ist das Anrufen der allaushelfenden Anpassung schon deshalb bedenklich, weil sie sich jeder gegenteiligen Chance nicht weniger bereitwillig leiht. Nicht weniger plausibel könnte man behaupten, daß die auf soziale Differenzen ausgehenden Freiheitsinstinkte sich an jeder Verminderung des absoluten Quantums dieser Differenzen anpassen könnten. Da unsere Empfindungen von Natur auf Reizunterschiede angewiesen sind, so würden, nach einer kurzen Anpassungsperiode, die individuellen Unterschiede an die geringen Lagedifferenzen, die selbst der sozialisierteste Zustand nicht beseitigen kann, die ganz unverminderten Leidenschaften des Begehrens und des Neides, der Herrschaft und des Unterdrücktheitsgefühles knüpfen. Die Ausübung der Freiheit auf Kosten anderer fände, angesichts jener psychologischen Struktur des Menschen, selbst bei der äußersten erreichbaren Gleichheit ein unvermindert ergiebiges Ausbreitungsfeld. Und wenn man selbst die Gleichheit nur in dem Sinne der Gerechtigkeit verstünde: daß die sozialen Einrichtungen einem jeden sein Freiheitsquantum nicht mit mechanischer Immergleichheit, sondern genau im Verhältnis seiner qualitativen Bedeutung zumäßen – so würde dies doch unrealisierbar sein, und zwar auf Grund einer selten hervorgehobenen Tatsache, die indes für das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft von der tiefsten Bedeutsamkeit ist. Während jedes gesellschaftliche Leben eine Stufenfolge von Über- und Unterordnungen – schon aus technischen Gründen – fordert, und unter dieser Voraussetzung Gleichheit im Sinne der Gerechtigkeit nur bedeuten kann, daß die persönliche Qualifikation und die Stelle auf jener Skala sich genau entsprechen, ist diese Proportion überhaupt und prinzipiell unmöglich, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde: daß es immer mehr Personen gibt, die zu übergeordneten Stellungen befähigt sind, als es übergeordnete Stellungen gibt. Von den Millionen Untertanen eines Fürsten gibt es sicher eine große Anzahl, die ebenso gute oder bessere Fürsten sein würden; von den Arbeitern einer Fabrik sehr viele, die ebensogut Unternehmer oder wenigstens Werkführer sein könnten; von den gemeinen Soldaten sehr viele, die die volle, wenngleich latente Qualifikation zum Offizier haben. Hierin liegt die Beobachtungswahrheit des Sprichwortes: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Der zur Ausfüllung höherer Stellungen erforderte „Verstand“ ist eben bei vielen Menschen vorhanden, aber er bewährt, entwickelt, offenbart sich erst, wenn sie diese Stellungen einnehmen. Bedenkt man die barocken Zufälle, durch die die Menschen auf allen Gebieten in ihre Positionen gelangen, so wäre es ein unbegreifliches Wunder, daß nicht eine sehr viel größere als die tatsächliche Summe von Unfähigkeit in der Ausfüllung derselben hervortritt, wenn man nicht annehmen müßte, daß eben die Fähigkeiten zu den Stellungen in sehr großer Verbreitung vorhanden sind. Diese Inkommensurabilität zwischen dem Quantum der Befähigungen zur Überordnung und dem ihrer möglichen Betätigung erklärt sich vielleicht aus dem Unterschiede zwischen dem Charakter der Menschen als Gruppenwesen und als Individuen, den diese Blätter zuvor erörtert haben. Die Gruppe als solche ist niedrig und führungsbedürftig, weil die Individuen im ganzen nur die Allen gemeinsamen Seiten ihrer Persönlichkeit in sie hineingeben, welche immer die gröberen, primitiveren, „untergeordneten“ sind. Sobald also überhaupt gruppenmäßige Vereinigungen stattfinden, ist es zweckmäßig, daß die ganze Masse sich in der Form der Unterordnung unter Wenige organisiere. Das verhindert aber nicht, daß jeder einzelne aus dieser Masse für sich höhere, feinere Eigenschaften besitze. Nur sind diese individueller, gehen nach verschiedenen Seiten über den Gemeinbesitz hinaus und helfen deshalb der Niedrigkeit derjenigen Qualitäten nicht auf, in denen sich alle mit Sicherheit begegnen. Aus diesem Verhältnis folgt, daß die Gruppe als Ganzes des Führers bedarf, es also nur viele Untergeordnete und nur wenig Übergeorduete geben kann, andrerseits aber jeder einzelne aus der Gruppe höher qualifiziert bzw. öfter zu einer führenden Stellung „berufen“ ist, als er als Gruppenelement realisieren kann. Auch in der sozialen Struktur geht es nach dem Grundsatz zu: Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Mit dieser Antinomie findet sich das ständische Prinzip und die jetzige Ordnung ab, indem sie Klassen pyramidenförmig mit immer geringerer Mitgliederzahl übereinanderbauen und dadurch die Zahl der zu leitenden Stellungen „Qualifizierten“ a priori einschränken. Da es bei Gleichberechtigung aller zu allen Stellen unmöglich wäre, jeden berechtigten Anspruch zu erfüllen, so trifft die ständische und klassenmäßige Ordnung eine von vornherein beschränkende Auswahl, die sich gar nicht nach den Individuen richtet, sondern umgekehrt die Individuen präjudiziert. Ob eine sozialistische Ordnung schließlich ohne ein solches Apriori für Über- und Unterordnung auskommen würde, ist fraglich. In ihr soll einerseits, unter Wegfall jeder zufälligen Chance, nur die Begabung über die Erreichung der Positionen entscheiden, andrerseits jede Begabung sich „frei“ entwickeln, d. h. die ihr angemessene Stelle finden, infolgedessen es, nach dem eben Erörterten, mehr Über- als Untergeordnete, mehr Befehlende als Ausführende geben müßte. Bedeutet Freiheit im sozialen Sinn, daß jedes Maß individueller Kraft und Bedeutung sich in dem Mischungsmaß von Führen und Folgen innerhalb der Gruppe adäquat ausdrückt, so ist sie von vornherein ausgeschlossen: den Konflikt zwischen der individuellen Totalität des Menschen und seinem Wesen als Element der Gruppe, der jene Proportion und damit die Synthese von Freiheit und Gleichheit auf der Basis der Gerechtigkeit hindert, kann auch eine sozialistische Verfassung nicht beseitigen, weil er sozusagen zu den logischen Voraussetzungen der Gesellschaft überhaupt gehört.

Ich begnüge mich gegenüber dem vielbehandelten Verhältnis des Sozialismus zur individuellen Freiheit mit diesen fragmentarischen Andeutungen und skizziere jetzt die eigentümliche Form des Individualismus, die die Synthese des 18. Jahrhunderts mit ihrer Gründung der Gleichheit auf die Freiheit und der Freiheit auf die Gleichheit auflöste. An die Stelle jener Gleichheit, die das tiefste Sein der Menschen ausspricht und andrerseits erst realisiert werden soll, setzt sie die Ungleichheit – die, ebenso wie dort die Gleichheit, nur der Freiheit bedürfe, um aus ihrer vielfach bloßen Angelegtheit und Möglichkeit heraustretend, das menschliche Dasein zu bestimmen. Die Freiheit bleibt der Generalnenner, auch bei dieser Entgegengesetztheit ihrer Korrelate. Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte. Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den verrosteten Ketten der Zunft, des Geburtsstandes, der Kirche vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sich auch voneinander unterscheiden wollen: nicht mehr darauf, daß man überhaupt ein freier Einzelner ist, kommt es an, sondern daß man dieser Bestimmte und Unverwechselbare ist. Das moderne Differenzierungsstreben kommt damit zu einer Steigerung, die seine soeben erst gewonnene Form wieder dementiert, ohne daß diese Entgegengesetztheit an der Identität des Grundtriebes irre machen dürfte. Er geht durch die ganze Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben. Begreiflich genug verlangt es bei der unerhörten Erweiterung des theoretischen und des praktischen Gesichtskreises nach einem solchen immer dringlicher, und kann ihn nun aber in keiner der Seele äußeren Instanz mehr finden. Das Doppelbedürfnis: nach zweifelsfreier Deutlichkeit und nach rätselhafter Unergründlichkeit, durch die geistige Entwicklung des modernen Menschen immer weiter auseinandergetrieben, stillt sich, als wenn es ein einziges wäre, am Ich, an dem Gefühle der Persönlichkeit – freilich kommen auch dem Sozialismus seine psychologischen Hilfskräfte einerseits aus begrifflich demonstrierendem Rationalismus, andrerseits aus ganz dunkeln, vielleicht atavistisch-kommunistischen Instinkten. Alle Verhältnisse zu Andern sind so schließlich nur Stationen des Weges, auf dem das Ich zu sich selber kommt: mag es sich den andern im letzten Grunde gleichfühlen, weil es, auf sich und seinen Kräften allein stehend, noch dieses stützenden Bewußtseins bedarf, sei es, daß es der Einsamkeit seiner Qualität gewachsen ist und die vielen eigentlich nur dasind, damit jeder einzelne an den andern seine Unvergleichbarkeit und die Individualität seiner Welt ermessen könne.

Diese Individualisierungstendenz führt also historisch, wie ich schon andeutete, über das Ideal der zwar völlig freien und selbstverantwortlichen, aber der Hauptsache nach gleichen Persönlichkeiten zu dem andern: der gerade ihrem tiefsten Wesen nach unvergleichlichen Individualität, die zu einer nur durch sie ausfüllbaren Rolle berufen ist. Im 18. Jahrhundert klingt dies Ideal schon an, bei Lessing, Herder, Lavater; den Christuskult des letzteren hat man seiner Sehnsucht, selbst Gott zu individualisieren, zugeschoben und noch eine Steigerung davon seinem Verlangen nach immer neuen Christusbildern. Seine erste volle Ausgestaltung gewinnt diese Form des Individualismus im Kunstwerk: im Wilhelm Meister. Denn in den Lehrjahren wird zum ersten Male eine Welt gezeichnet, die ganz auf die individuelle Eigenheit ihrer Individuen gestellt ist und sich nur durch diese organisiert und entwickelt, und zwar ganz unbeschadet der Tatsache, daß die Figuren als Typen gemeint sind; so oft sie sich in der Realität wiederholen mögen, es bleibt der innere Sinn jeder einzelnen, daß jede gerade in ihrem letzten Grunde von der andern, an die das Schicksal sie rühren läßt, unterschieden ist, daß der Akzent des Lebens und der Entwicklung nicht auf dem Gleichen, sondern auf dem absolut Eigenen ruht. In den Wanderjahren rückt das Interesse von den Menschen auf die Menschheit – nicht in dem Sinne des abstrakten Menschen überhaupt, den wir im 18. Jahrhundert herrschen sehen, sondern im Sinne der Kollektivität, der konkreten Gesamtheit der lebenden Gattung. Und nun ist es höchst interessant, wie jener auf die Unvergleichlichkeit, die qualitative Einzigkeit gehende Individualismus sich auch auf der Basis dieses Interesses geltend macht. Nicht die ganze Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft wird von der Besonderheitsforderung her gewertet, sondern die objektive Leistung der Persönlichkeit für die Gesellschaft. „Narrenpossen sind, so heißt es jetzt, eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“ Diese ganze Gesinnung ist der absolute Gegensatz zu dem Ideal der freien und gleichen Persönlichkeiten, den Fichte einmal, diese Geistesströmung in einen Satz zusammendrängend, so formuliert: „Ein Vernunftwesen muß schlechthin ein Individuum sein, aber nicht eben dieses oder jenes bestimmte“ – und in der Forderung, daß das individuelle, unterschiedlich bestimmte Ich sich im sittlichen Prozeß wieder in das reine, absolute Ich – die philosophische Kritstalliserung des „allgemeinen Menschen“ des 18. Jahrhunderts – hinaufentwickle. Wie in zugespitzter Antithese hierzu hat Friedrich Schlegel den neuen Individualismus in die Formel gefaßt: „Gerade die Individualität ist das Ursprüngliche und Ewige im Menschen; an der Personalität ist so viel nicht gelegen. Die Bildung und Entwicklung dieser Individualität als höchsten Beruf zu treiben, wäre göttlicher Egoismus.“

Dieser neue Individualismus hat seinen Philosophen in Schleiermacher gefunden. Für ihn ist die sittliche Aufgabe gerade die, daß jeder die Menschheit auf eine besondere Weise darstelle. Gewiß ist jeder einzelne ein „Kompendium“ der ganzen Menschheit, ja, noch weitergehend, eine Synthese der Kräfte, die das Universum bilden, aber ein jeder formt dieses allen gemeinsame Material zu einer völlig einzigen Gestalt, und auch hier wie bei der früheren Anschauung ist die Wirklichkeit zugleich die Vorzeichnung des Sollens: nicht nur als schon Seiender ist der Mensch unvergleichlich, in einen nur von ihm erfüllten Rahmen gestellt, sondern, von anderer Seite gesehen, ist die Verwirklichung dieser Unvergleichbarkeit, das Ausfüllen dieses Rahmens, seine sittliche Aufgabe, jeder ist berufen, sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen. Der große weltgeschichtliche Gedanke, daß nicht nur die Gleichheit der Menschen, sondern auch ihre Verschiedenheit eine sittliche Forderung sei, wird durch Schleiermacher zum Drehpunkt einer Weltanschauung: durch die Vorstellung, daß das Absolute nur in der Form des Individuellen lebe, daß die Individualität nicht eine Einschränkung des Unendlichen sei, sondern sein Ausdruck und Spiegel, wird das Sozialprinzip der Arbeitsteilung in den metaphysischen Grund der Dinge eingesenkt. Freilich hat die in die letzten Tiefen der individuellen Natur hinabreichende Differenzierung leicht einen mystisch-fatalistischen Zug. („So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen. So sagten schon Sibyllen, so Propheten.“) Dessentwegen mußte sie dem hellen Rationalismus der Aufklärungsepoche fremd bleiben, während sie sich eben durch ihn der Romantik empfahl, zu der Schleiermacher in engster Beziehung stand. Für diesen Individualismus – man könnte ihn den qualitativen nennen gegenüber dem quantitativen des 18. Jahrhunderts oder den der Einzigkeit gegenüber dem der Einzelheit – war die Romantik vielleicht der breiteste Kanal, durch den er in das Bewußtsein des 19. Jahrhunderts einfloß. Wie Goethe die künstlerische, Schleiermacher die metaphysische, so schuf sie ihm die Basis des Gefühls, des Erlebens. Die Romantiker haben sich zuerst wieder nach Herder (in dem deshalb auch ein Quell der qualitativen Individualistik zu suchen ist) in die Besonderheit, Einzigkeit der historischen Realitäten hineingelebt; das Recht und die singuläre Schönheit des geschmähten Mittelalters, des Orients, den die Aktivitätskultur des liberalen Europas verachtete, haben sie tief gefühlt: in diesem Sinn will Novalis seinen „einen Geist“ sich in unendlich viele fremde verwandeln lassen und sagt, daß er „gleichsam in allen Gegenständen steckt, die er betrachtet, und die unendlichen, gleichzeitigen Empfindungen eines zusammenstimmenden Pluralis fühlt“. Vor allem aber: der Romantiker erlebt innerhalb seines inneren Rhythmus die Unvergleichbarkeit, das Sonderrecht, das scharfe, qualitative Sich-gegeneinander-Absetzen seiner Elemente und Momente, das diese Form des Individualismus ja auch zwischen den Bestandteilen der Gesellschaft sieht. Auch hier zeigt Lavater ein interessantes Vorläufertum: seine Physiognomik vergräbt sich manchmal so in das Spezielle der sichtbaren und inneren Züge des Menschen, daß er zu dessen ganzer Individualität nicht zurückgelangt, sondern an dem Interesse für dieses Individuell-Einzelnste hängen bleibt. Die romantische Seele durchfühlt eine endlose Reihe von Gegensätzen, von denen jeder einzelne im Augenblick seines Gelebtwerdens als Absolutes, Fertiges, Selbstgenugsames erscheint, um im nächsten überwunden zu werden, und genießt in dem Anderssein des einen gegen den andern das Selbst eines jeden erst ganz. „Wer nur auf einem Punkte klebt, ist nichts als eine vernünftige Auster“, sagt Friedrich Schlegel. Das Leben des Romantikers überträgt in das proteische Nacheinander seiner Gegensätzlichkeiten von Stimmung und Aufgabe, von Überzeugung und Gefühl das Nebeneinander des Gesellschaftsbildes, in dem jeder einzelne durch seinen Unterschied gegen den andern, durch die personale Einzigkeit seines Wesens und seiner Betätigungen erst den Sinn seiner Existenz findet – der individuellen nicht weniger als der sozialen.

Diese Auffassung und Aufgabe des Individuums weist in ihrer rein gesellschaftlichen Wendung ersichtlich auf die Herstellung eines höheren Ganzen aus den so differenzierten Elementen hin. Je eigenartiger die Leistung (aber auch die Bedürfnisse) des Einzelnen, desto dringender ist die gegenseitige Ergänzung, desto höher erhebt sich über die arbeitsteiligen Glieder der Gesamtorganismus, der aus ihnen zusammenwächst und ihre ineinandergreifenden Wirkungen und Gegenwirkungen einschließt und vermittelt. Die Besonderheit der Individuen fordert eine Verfassungsmacht, die dem Einzelnen seinen Platz anweist, aber damit auch zum Herrn über ihn wird. Darum schlägt dieser Individualismus (die Freiheit auf ihren rein innerlichen Sinn beschränkend) leicht in antiliberale Neigungen um und bildet auch so das volle Gegenstück zu dem des 18. Jahrhunderts, der aus seinen atomisierten und prinzipiell als ununterschieden gesetzten Individuen konsequenterweise gar nicht zu der Idee einer Gesamtheit als eines aus mannigfaltigen Gliedern vereinheitlichten Organismus gelangen konnte. Wodurch dieser vielmehr die freien und gleichen Elemente zusammenhält, das ist ausschließlich das über allen stehende Gesetz, dessen Bedeutung es ist, die Freiheit eines jeden so weit einzuschränken, daß sie mit der Freiheit eines jeden zusammen bestehen kann, das Gesetz, dessen Paten die Gesetzlichkeit einer mechanistisch konstruierten Natur und das Gesetz im römisch-rechtlichen Sinne waren. Von beiden Seiten her entgeht diesem Individualismus das konkret-soziale Lebensgebilde, das nicht aus den isolierten und gleichen Einzelnen summierbar ist, sondern sich nur aus den arbeitsteiligen Wechselwirkungen und über dieselben als eine in den Einzelnen auch nicht pro rata auffindbare Einheit erhebt.

Die Lehre von Freiheit und Gleichheit ist die geistesgeschichtliche Grundlage der freien Konkurrenz, die der differentiellen Persönlichkeiten ist die Grundlage der Arbeitsteilung. Der Liberalismus des 18. Jahrhunderts stellte den Einzelnen auf seine eigenen Füße, und nun durfte er ganz so weit gehen, wie diese ihn trugen. Die Theorie ließ die naturgegebene Verfassung der Dinge dafür sorgen, daß die unbeschränkte Konkurrenz der Einzelnen zu einer Harmonie aller Interessen zusammenging, daß das Ganze sich bei dem rücksichtslosen Streben zum individuellen Vorteil am besten befände: das ist die Metaphysik, mit der der Naturoptimismus des 18. Jahrhunderts die freie Konkurrenz sozial rechtfertigt. Mit dem Individualismus des Andersseins, der Vertiefung der Individualität bis zur Unvergleichlichkeit des Wesens ebenso wie der Leistung, zu der man berufen ist – war nun auch die Metaphysik der Arbeitsteilung gefunden. Die beiden großen Prinzipien, die in der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts untrennbar zusammenwirken: Konkurrenz und Arbeitsteilung – erscheinen so als die wirtschaftlichen Projizierungen der philosophischen Aspekte des sozialen Individuums oder diese umgekehrt als die Sublimierungen jener ökonomisch-realen Produktionsformen; oder, vielleicht richtiger und die Möglichkeit dieser doppelten Verhältnisrichtungen begründend, entspringen sie gemeinsam einer jener tiefen Wandlungen der Geschichte, die wir nicht nach ihrem eigentlichen Wesen und Motiv, sondern nur nach den Erscheinungen erkennen können, die sie gleichsam in der Mischung mit den einzelnen, inhaltlich bestimmten Provinzen des Lebens ergeben.

Die Folgen freilich, die die unbeschränkte Konkurrenz und die arbeitsteilige Vereinseitigung der Individuen für deren innere Kultur ergeben haben, lassen sie nicht gerade als die geeignetsten Mehrer dieser Kultur erscheinen. Vielleicht aber gibt es über der wirtschaftlichen Form der Zusammenwirksamkeit der beiden großen soziologischen Motive – der einzigen bisher realisierten – noch eine höhere, die das verhüllte Ideal unserer Kultur ist. Lieber aber möchte ich glauben, daß die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit noch nicht die letzten Worte des Individualismus sind; daß die Arbeit der Menschheit immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird. Und wenn in glücklichen Perioden diese Mannigfaltigkeiten sich zu Harmonien zusammenordnen, so ist doch auch ihr Widerspruch und Kampf jener Arbeit nicht nur ein Hemmnis, sondern ruft sie zu neuen Kraftentfaltungen auf und führt sie zu neuen Schöpfungen.