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B  I  B  L  I  O  T  H  E  C  A    A  U  G  U  S  T  A  N  A

 

 

 

 
Reinhard Sorge
1892 - 1916
 


 






 



Z a r a t h u s t r a .
E i n e   I m p r e s s i o n


1911

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Raum einer Bibliothek, viereckig. Größe eines kleinen Saales. Lesende, teils auf Bänken nebeneinander, teils auf Stühlen. Die schwarzen Vorhänge der beiden breiten und hohen Fenster rechter Seitenwand sind herabgelassen, so daß kein Tageslicht einfällt. Da der untere Saum dieser Vorhänge in Holz gespannt ist, können sie nicht zur Seite bewegt werden. In der Ecke links im Hintergrund ein Pult, dort auch eine elektrische Lichtquelle, eine Art Scheinwerfer. Sie ist erhöht; der Lichtstreif, der sich rasch verbreitert, fällt schräg herab, so, daß er anfangs auch die Köpfe der Lesenden erhellt, im entgegengesetzten Teile des Zimmers aber die Köpfe im Dunkel bleiben und nur die Bücher noch in Helle stehen. Die Lichtquelle selbst ist unsichtbar.

Die Lesenden sind Männer verschiedenen Alters, verschiedenen Standes, verschiedener Rasse.

Ein Jüngling sitzt inmitten der ganzen Gruppe. Wenig entfernt links hinter ihm in des Pultes Nähe ein Greis. Beide auf Stühlen. Eine Weile herrscht tiefe Stille; ein jeder liest, das Haupt auf sein Buch geneigt, unbeweglicher Haltung.

Der Greis klappt das Buch zu und hebt den Kopf.


GREIS:
Ich bin zu Ende.

(Alle heben die Köpfe.)

SCHULMEISTER:
Alle Wetter! . . . 

KAUFMANN:
Das geht fast an die Nerven.

STIMME:
Teufel auch!

ERSTER STUDENT:
Ich weiß nur ein Gegenstück.

ZWEITER STUDENT:
Welches?

ERSTER STUDENT:
Die Bibel.

THEOLOGE:
Junger Herr, Sie reden recht unbedacht!

SCHULMEISTER:
Nicht so sehr; aber Sie vergessen: die Bibel war zuerst.

ERSTER STUDENT:
Der Einwand besagt nichts.

(Einige erheben sich und bilden Gruppen, lebhaft redend. Zweiter Student geht rastlos im Vordergrund auf und ab; die Hände auf dem Rücken. Der  J ü n g l i n g  sitzt tief versonnen, die Augen groß, fast angsthaft geöffnet. Er verharrt so während des ganzen Spiels.)

DICHTER:
Ich bin hingerissen. Furchtbar! Ich sehe Zukünfte . . . 

MÄZEN:
Meine Kinder, seid nicht zu hastig . . . Seid nur nicht zu hastig . . . 

JUNGER KÜNSTLER:
Ich sehe die Tat. Noch schwindelt mir.

DICHTER:
Was jetzt tun? Was jetzt noch dichten?
(Gelächter.)

GREIS:
Jemand sagte, er sähe Zukünfte.

DICHTER:
Das war ich.

GREIS:
Mein Lieber, dies ist sehr fraglich.

KUNSTGELEHRTER:
Dieses Buch hat eine Gegenwart und eine Zukunft . . . Vielmehr . . . seine Gegenwart ist seine Zukunft . . . 

DICHTER:
Welche Zukunft?

GELEHRTER:
Es selbst. Sonst keine.

GREIS:
Das klingt paradox, mein Herr, aber ich halte es für durchaus wahrscheinlich . . . 

DICHTER:
Welche Umwertungen . . . welche Bereicherungen . . . Und doch . . . 

GELEHRTER:
Ah, sehen Sie! Und doch . . . 

KAUFMANN:
Ruhig Blut . . . Ruhig Blut . . . das Buch ist stark . . . ich gebe zu . . . aber ein Buch hob noch nie die Welt aus den Angeln . . . 

STIMME:
Einzig Bücher heben die Welt aus den Angeln. Sie sind ununterrichtet.

ZWEITER STUDENT
(immer auf und ab):
Sie sind Kaufmann . . . und schließlich . . . 

KAUFMANN:
Ich weiß . . . ich weiß . . . keinen Zank . . . ich bitte . . . 

ZWEITER STUDENT
(wie oben):
Die ewigen Realitäten . . . 

KAUFMANN
(lachend):
Meinen Sie mich? Uns Kaufleute? Meinen Sie den Autor? Die Philosophen? . . . 

GENTLEMAN:
Wenigstens sind diese Unterschiede ewig real.

KAUFMANN:
Bravo!

JUNGER DIPLOMAT:
Dieser Stil. Dieser Geschmack. Welche Leichtigkeit und Anmut!

GENTLEMAN:
Würden Sie sagen: Grazie?

JUNGER DIPLOMAT:
Weniger, in der Tat. Dennoch. Eine herbe Grazie. Weder französisch, noch italisch, noch . . . 

GENTLEMAN:
Verstehe . . . Einzigartig . . . 

JUNGER KÜNSTLER:
Dieses Buch macht wahnsinnig . . . Wißt ihr, was es fordert? . . . 

MUSIKER:
Was denn . . . was denn, Bester . . . 

JUNGER KÜNSTLER:
Wenigstens nicht: darüber zu reden. Doch fordert es Taten.

MUSIKER:
Welche?

JUNGER KÜNSTLER:
Sie werden sehen. Sie werden . . . 

ASSISTENT:
Ich bitte Sie, mein Herr, nicht diese Aufregung! Ich kenne Sie, Sie sind ein heißes Blut, Sie sind ein Hitzkopf und zu allem fähig! . . . 

JUNGER KÜNSTLER:
Himmel und Hölle! Ich werde die ganze Sippschaft lehren, dies Buch zu begreifen. Geben Sie nur acht! . . . 

MUSIKER:
Keine Durnmheiten, mein Freund, keine Dummheiten! . . . 

(Der junge Künstler rasch ab durch eine zweiflügelige Tür inmitten der Hinterwand. Mäzen niest stark.)

SCHULMEISTER:
Gesundheit! Haben Sie sich erkältet, Bester? Wie? Ein wenig zugig, das Buch. Nicht wahr? Gesundheit!

MÄZEN:
Danke, danke! Es war nur eine Fliege, die kitzelte . . . 

SCHULMEISTER:
Verstehe. Verstehe.

(Der zweite Student hält mit Wandern inne.)

LIBERALER:
Ich gelte allgemein für liberal; Sie wissen das, meine Herren. Ich sage Ihnen: dieses Buch ist das Äußerste. Es ist furchtbar gefährlich. Es wäre feige oder dumm, das zu leugnen. Es ist gefährlicher als alle Bücher der Aufklärung, selbst die schmutzigsten, selbst die wissenschaftlichsten!

SCHULMEISTER:
Warum gerade?

LIBERALER:
Es hat wieder die Pietät eingefangen. Es preist wieder das Gebet; es kennt Abstände, Ritus, Himmel. Ich sage Ihnen: höchst gefährlich! Es kennt Kulte.

(Draußen fällt ein Schuß.)

STIMMEN:
Um Himmels willen!
Teufel!

(Erster Student sieht aus dem rückliegenden Fenster, indem er das Tuch des Vorhangs etwas zur Seite zwängt, so daß ein schmaler Streif Tageslicht hereinfällt.)

STIMMEN:
Was ist? Wie? Was sehen Sie?

ERSTER STUDENT:
Der Mensch, der vorhin so lärmte und von Taten sprach, hat jemanden niedergeschossen, einen ganz harmlosen Mann.

STIMMEN:
Unerhört!
Entsetzlich!
Nicht möglich!

(Stimmen durcheinander. Man umdrängt die Vorhänge.)

KUNSTGELEHRTER
(am andern Fenster):
Einen Kranken, wie ich sehe.

ASSISTENT
(am Fenster):
Ja. Er saß im Lehnstuhl. Er wurde im Lehnstuhl gefahren. Himmel!

ZWEITER STUDENT
(starr):
Einfach niedergeschossen . . . 

STIMME:
Einen Schwindsüchtigen . . . 

JUNGER DIPLOMAT:
Aha! . . . 

(Großer Lärm.)

BEAMTER:
Ja, bin ich verrückt, oder . . . Was geht denn nur vor? Können denn ein paar Fetzen Gedrucktes die Welt verkehren und vernünftige Leute . . . 

IRRENARZT
(im Vordergrund; zum Arzt):
Ja . . . ja . . . das Buch, Doktor . . . das Buch!

ARZT:
Dies ist mehr als Suggestion.

IRRENARZT:
Sie wissen, ich nenne nur weniges Wahnsinn. Auch dieses nicht.

ARZT:
Wenn etwas, dann dieses.

IRRENARZT:
Der Mensch ist eitel. Das erklärt alles.

ARZT:
Aber er ist auch ein Schwärmer.

IRRENARZT:
Konträr, mein Bester.

ARZT:
Ist er das?

KAUFMANN
(am vorderen Fenster):
Draußen hat es zwar niemand gesehen, aber der Begleiter, der den Wagen schob, ist entflohen.

IRRENARZT:
Das wird eine schöne Geschichte.

JURIST:
Ja für uns, mein Herr.

IRRENARZT:
Sie sind Jurist?

JURIST:
Ja.

KUNSTGELEHRTER
(am rückliegenden Fenster):
Um Gottes willen, wie fürchterlich!
(Er tritt zurück.)
Dies zu sehen, halte ich nicht aus.

IRRENARZT:
Was ist denn? Was ist? Reden sie doch, mein Herr!

KUNSTGELEHRTER:
Er hielt den Toten mit beiden Armen vorn am Rock gepackt und schüttelte ihn wie toll hin und her . . . es ist unbeschreiblich . . . er sah dabei zum Himmel mit einem Gesicht, das fast barst vor Rausch . . . voller Mysterien . . . voller Seligkeiten . . . und doch . . . voll unerhörter Laster.

IRRENARZT:
Hm . . . 

KUNSTGELEHRTER:
Grauenhaft . . . Grauenhaft!

JUNGER DIPLOMAT
(im Vordergrund rechts):
Es ist unsinnig, einen Krüppel totzuschießen!

DICHTER:
Durchaus nicht, es hat nach diesem Buch Sinn.

JUNGER DIPLOMAT:
Dieses hat nur Sinn, weil es von Gipfeln geschaut ist, aber wir leben im Tale und nah bei den Dingen.

DICHTER:
Welch eine Anschauung! . . . 

JUNGER DIPLOMAT:
Freilich kommt es nur auf Anschauung an, mein Herr, und auf den Standpunkt.

JUNGER KAUFMANN:
Er wußte aus Distanz zu sehen, hatte scharfe Augen und vertrug die Luft der Höhen.

JUNGER DIPLOMAT:
Schön. Und in Nähe verzerrt sich das Bild.

JUNGER KAUFMANN:
Ganz recht. Wird Zerrbild.

JUNGER DIPLOMAT:
Zudem, es ist nicht die Art des Tänzers, über einen alten Siechen in Ekstase zu geraten.

JUNGER KAUFMANN:
Aber diesem Tänzer war Tanz nur das Siegesfest, und er tanzte nach dem großen Morden.

DICHTER:
Gut. Doch befiehlt er nun einzig . . . 

(Der Täter eilt herein. Er wirf den Revolver von sich.)

TÄTER:
Wißt ihr nun, wie Tat ist . . . wißt ihr! . . . 

(Man umdrängt ihn, man ruft durcheinander, man bestürmt ihn mit Vorwürfen, ja Drohungen. Besonnene beruhigen; der Irrenarzt sucht ihn beiseite zu ziehen.)

DICHTER
(zum Täter):
Ich schmähe Sie nicht, aber ich selbst hätte es nie gewagt . . . 

IRRENARZT:
Erlauben Sie, wenige Worte . . . 

(Der Täter macht sich von ihm los.)

KAUFMANN:
Fliehen Sie, denn allzulang bleibt das nicht geheim

TÄTER:
Ich fliehe nicht, ich werde meine Tat verantworten!

(Lärm.)

MÄZEN:
Doch nicht etwa mit dem Buche? . . . 

TÄTER:
Wozu hätte ich sie sonst getan. Gerade. Mit dem Buche. Mit dem Buche.

SCHULMEISTER:
Fliehen Sie!

KAUFMANN:
Zunächst wollen wir doch den Leichnam fortschaffen.

TÄTER:
Niemals ! Das dulde ich nicht! Alle Welt soll meine Tat sehen! Der Leichnam bleibt liegen!

ERSTER STUDENT:
Dem ist nicht zu helfen.

KUNSTGELEHRTER:
Ich bitte Sie . . . 

TÄTER:
Der Leichnam bleibt liegen! . . . 

IRRENARZT:
Aber so nehmen Sie doch Vernunft an! . . . 

TÄTER
(schreiend):
Der Leichnam bleibt liegen, sage ich!

GENTLEMAN
(zum Irrenarzt):
Lassen Sie ihn doch! Er ist schließlich für sich verantwortlich.

IRRENARZT
(zum Täter):
Und Sie . . . Was wollen . . . ?

TÄTER:
Ich bleibe hier und erwarte die Häscher.

JUNGER KAUFMANN:
Trotz allem, er imponiert.

ARZT:
Was soll man tun?
(Zum Irrenarzt):
Halten Sie ihn noch immer nicht für toll?

IRRENARZT:
 . . . Bester Doktor . . . 

(Beide verlieren sich in der Menge. Täter geht nach dem Hintergrund, lebhaft umringt. Im Vordergrund):

BEAMTER:
Dieses ist eine Fratze, und der Schreiber wirft mit Kot.

THEOLOGE:
Mehr noch . . . mehr . . . es ist eine Abortgrube, er selbst eine Schmeißfliege, die entzückt über dem Dunste summt und noch entzückter hier und dort nascht.

GENTLEMAN
(im Vorübergehen):
Geschmack! Geschmack, mein Herr! . . . 

THEOLOGE:
Gestank, Gestank, mein Herr! . . . 

JURIST:
Mäßigen Sie sich! Bitte!

THEOLOGE:
Ich will nicht länger von Mist reden, dazu bin ich zu gut . . . 

STIMME:
Nein, Bester, Mist ist für Sie zu gut!

THEOLOGE:
Frechheit!

MÄZEN:
Kinder . . . Kinder . . . ihr versteht nicht zu lachen. Die Franzosen machen nicht nur aus Milch Schlagsahne, sondern auch aus Dreck. Ich weiß nicht, was ich zu euch sagen soll. Wenigstens seid ihr rechte Deutsche und plump wie Elefanten.

DICHTER
(drängt sich an den jungen Kaufmann):
Vernehmen Sie . . . 

(Der junge Kaufmann sucht ihm zu entkommen.)

KUNSTGELEHRTER
(zum Greis):
Übrigens: ich vermisse in dieser Gesellschaft den Gentleman, der dies Buch
durch einige leichte Worte mehr adelt als andere in ihren Räuschen . . . 

GREIS:
Sie tun der Gesellschaft unrecht; ich vernahm vorhin solche Worte . . . 

JUNGER KAUFMANN
(zum Mäzen):
Da sie von Deutschen sprachen, mein Herr: diese Leute waren stets Trinker, aber ihre Trunkenheit ist ohne Tanz.

KUNSTGELEHRTER
(lachend zum jungen Kaufmann):
Keine Verschwörung, ich bitte! Schon aus Geschmack nicht.

DICHTER
(zum jungen Kaufmann):
Vernehmen Sie, wozu mich der Autor veranlaßte. Ich werde meine Geliebte
verlassen, denn sie kettet, und die Augenblicke der Lust, die sie mir schafft, muß ich am Ende mit meinem Leben büßen.

JUNGER KAUFMANN:
Verschonen Sie mich, bitte!

ASSISTENT
(kommt mit dem Arzt nach vorn):
Es fragt sich, Doktor, ob der Autor etwa Selbstbefleckung getrieben, denn in der Tat gibt eine Stelle zu denken.

ARZT:
Es ist eine Anmaßung aller Großen und dieses insbesondere, seine sexuelle Veranlagung anderen mit emphatischen Worten zu Gebot zu machen.

(Gehen vorüber.)

JUNGER KAUFMANN
(zum Gelehrten):
Jünglinge mögen darüber verzweifeln. Sehen Sie den. Dem widerfährt jetzt etwas Furchtbares, . . . sehen Sie nur: diese Züge und dies Versunkensein! Seine Natur wird vergewaltigt.

KUNSTGELEHRTER:
Welches starke Buch vergewaltigte nicht die Jugend, mein Bester?  . . . 

JUNGER KAUFMANN:
Ganz recht; wird vergewaltigt, sage ich und jahrelang schleppt er sich unter dem Druck. Seine Instinkte vermögen unter ihm nicht aufzukommen. Sind sie zu schwach, werden sie verkümmern, andernfalls mag er schon mit 20 Jahren ein Weiser sein.

GREIS
(zum Musiker):
Mein Lieber, ich bin zu alt, um nicht auch dieses mit anzuhören; aber diese Sprache kann mich nicht laufen und hüpfen machen. Mich ängstigt meine Umgebung.

MUSIKER:
Dennoch, Sie bewundern.

GREIS:
Gewiß, ich bewundere die Kühnheit, ich bewundere den Geschmack - wahrlich ein erlesener Geschmack - und ein wahrlich unerhörtes Reinlichkeitsempfinden.

KUNSTGELEHRTER:
Es freut mich, daß sie dieses Empfindens gedenken, mein Herr. Er nahm jeden Morgen ein kaltes Bad selbst im Winter, und ich muß gestehen, daß ich diese Handlung stets spüre, wenn sein Stil mir erklingt und daß diese Handlung für seinen Stil mehr besagt als tausend andere Dinge.

GREIS:
Ich freue mich, Sie übereinstimmend mit meinen Ideen zu finden. Ich schätze einen der größten Dichter unserer Zeit ungeheuer, aber als ich kürzlich hörte, daß er ungekämmt gehe, verstand ich eine Seite seiner Kunst tiefer.

MUSIKER:
Diesem Menschen müßte eine Musik geboren werden.

GREIS:
Daran mußte ich gleichfalls denken, mein Lieber, und es wäre wohl darüber unerschöpflich zu sagen. Übrigens spricht der Autor in einer anderen Schrift irgendwo selber davon.

MUSIKER:
Er wünscht seiner Philosophie Musik?

GREIS:
Die ihr geeignete. Ganz recht.

GENTLEMAN
(zum Gelehrten):
Um Verzeihung, da Sie vorhin einige gute Worte über Geschmack sagten: Dieser Autor war mehr als ein anderer Franzose.

KUNSTGELEHRTER:
Ich stimme Ihnen zu, aber jetzt geben Sie acht!

BEAMTER
(zum Gentleman):
Mein Herr, dieses Ausschlachten der Nationalität in Dichtung und aller Kunst überhaupt ist mir widerlich und auch durchaus geschmacklos!

GENTLEMAN:
Mein Herr, mit diesem verraten Sie nur, daß Sie nur Deutscher sind und durchaus in Nationalität gebannt. Übrigens bin ich selbst von Herzen Deutscher.

DICHTER
(zum jungen Diplomaten):
Es hilft nichts, ich sehe Konflikte über Konflikte . . . Meine Geliebte . . . 

DIPLOMAT:
Sie sind Dichter, und wenn Sie schlau sind, werten Sie diese Konflikte je nach Art Ihrer Begabung zur Dichtung um.

DICHTER:
Haha! . . . 

DIPLOMAT:
Im Ernst, im Ernst mein Herr, glauben Sie mir! Sehen Sie sich in der heutigen Kunst um. Erotische Konflikte stehen da hoch im Preis. Aber das ist unser Jahrhundert. Aber das ist Pöbeltum, Salon und Schlafzimmer stehen jedermann offen. Man birgt sich nicht mehr. Voilà. Blicken Sie doch zum Adel! Dort kennt man noch Verschwiegenheit: diese Königin, die unter Krämern nicht ihre Stätte hat. Dort herrscht noch Abstand von Menschen und Dingen. Ah! Dort lebt noch Großheit.

KUNSTGELEHRTER:
Ihre Ansichten sind einseitig, sind übertrieben, aber dennoch prachtvoll.

DIPLOMAT:
Wie wären sie es ohne Einseitigkeit und Übertreibung?

JUNGER KAUFMANN
(tritt heran):
Diese Leute dort bersten vor Lachen, aber ihr Spott ist nicht der befreiende, sondern Unrat.

MÄZEN:
Kinder, ich möchte einen Walzer wagen.

JOURNALIST
(kommt mit Musiker nach vorn):
Aussichten für die Presse.

MUSIKER:
Sie hören doch, daß er auf die Presse schimpft, sie bitter höhnt und ausrotten will.

JOURNALIST:
Darum. Welche Aussichten! Die Presse ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, aber sie ist umzuwerten. Welche Zukünfte da . . . 

MUSIKER:
Ach was! Sie sind ein unklarer Kopf! . . . 

ZWEITER STUDENT
(tritt heran):
Vorhin sagte jemand, alles beruhe auf Distanz; er hat recht, und in dem Kapitel über die Presse zeigt sich, daß dessen Distanz allzusehr verkürzt ist. Sie entwertet die Nähe, aber die Nähe ist nicht aus der Welt zu schaffen. Hier steckt die Gefahr dieses Buches.

JOURNALIST
(zum Musiker):
Ich wünsche, daß Sie Ihren Äußerungen Mäßigung antun!

MUSIKER:
Was meinen Sie? Ich vergaß, was ich sagte.

JOURNALIST:
Sie nannten mich einen unklaren Kopf.

MUSIKER:
Ich kann in diesen Worten weder Unverschämtheit noch Übertreibung finden.

JOURNALIST:
Sie sind unverschämt, mein Herr!

MUSIKER:
Bitte, gehen Sie doch noch einmal in die Kinderstube!

JOURNALIST:
Ihre Karte . . . Ich bitte! . . . 

MUSIKER:
Mit Vergnügen. Alle nähere . . . 

MÄZEN:
Kinder, ihr seid verrückt! Seid ihr etwa Studenten?

JUNGER KAUFMANN
(höhnt):
Meine Herren, die Ehre . . . 

BEAMTER:
Die Ehre? Meine Herren, nichts über die Ehre!

DIPLOMAT:
Ein schwieriges Thema, meine Herren, und für jeden anders zu fassen.

GENTLEMAN:
Langweilig!

DICHTER
(zum Gelehrten):
Übrigens: diese Sprache hat einen eigentümlich leichten Schwung, sie ist sehr dehnbar, und ich glaube, es ist leicht, an ihr zu arbeiten

GENTLEMAN:
Glauben Sie, daß diese Sprache Zukunft hat?

KUNSTGELEHRTER:
Nein, mein Herr, wohl kaum, sie konnte wohl nur einmal gesprochen werden . . . 

JUNGER DIPLOMAT
(zum Gentleman):
Verzeihen Sie, ein paar Worte!

(Zieht ihn beiseite.)

KUNSTGELEHRTER
(wendet sich zum Greis):
Sehr Verehrter, scheint Ihnen nicht eines: dieser Tänzer tanzt hinreißend, tanzt und schlägt dazu das Tamburin, weiß Gott, oder ein ähnliches Instrument. Tönt Ihnen nicht der Klang um ein Weniges zu laut? Wie? Um ein Weniges?

GREIS:
Ich bewundere Ihre Feinhörigkeit.

KUNSTGELEHRTER:
Meine Worte sind einem solchen Werk gegenüber sehr gewagt. Ich gestehe das ohne weiteres. Ich mag auch überfeinhörig sein - verzeihen Sie bitte das rasche Wort!

ZWEITER STUDENT
(tritt heran):
Darf ich Ihnen sagen, warum ich glaube, daß Sie recht haben? Ich teile Ihre Ansicht.

KUNSTGELEHRTER:
Ich bitte Sie sehr!

ZWEITER STUDENT:
Vorhin sagte man treffende Worte über Distanz und betonte, dieses Werk zeige die Gedankenmöglichkeit, die Weitblick bietet. Wiederum, entgegen dieser Fernsicht, sieht der Autor die Idee, die er angreift, ganz nahe vor sich; bedenken Sie doch, er hat sie ja zum Teil noch lebend bei sich getragen. Wie könnte er sie sonst auch angreifen. Er steht gleichsam wie ein Wanderer am Fuße eines Domturmes.

KUNSTGELEHRTER:
Ich verstehe.

ZWEITER STUDENT:
Er sieht an der Idee in die Höhe und mißt sie ungeheuer.

KUNSTGELEHRTER:
Ah, die allzugroße Nähe! Daher diese Spur zu viel . . . 

ZWEITER STUDENT:
Ja.

KUNSTGELEHRTER:
Vorzüglich.

ZWEITER STUDENT:
Aber das war nicht anders möglich. Sehen Sie, wollte er seine Fernsichten, so mußte er sich an den Fuß des Turmes stellen, ihn riesig messen, ihn Stein für Stein erklimmen und dann auf der Zinne seine Blicke schweifen lassen, sein Lied singen . . . 

SCHULMEISTER
(am rückliegenden Fenster, ruft laut):
Himmel, der Dichter!

STIMMEN:
Was ist? . . . Welcher Dichter?

SCHULMEISTER:
Der Autor selber. Ich sehe ihn. Er kommt hierher.

(Lärm und Rufe. Man drängt an die Fenster.)

ERSTER STUDENT
(am vorderen Fenster):
Wo denn? Wo? Ich sehe nur Volk, das den Leichnam umsteht.

BEAMTER:
Ja . . . ja . . . dort kommt er.

ERSTER STUDENT:
Wahrhaftig! Da ist er. Er schlägt mit seinem Stock unter die Menge und treibt sie in alle Winde.

KUNSTGELEHRTER:
Prachtvoll!

DICHTER:
Heilig!

SCHULMEISTER:
Ja zum Teufel, was tut er denn nur?

BEAMTER:
Ist er verrückt?


ERSTER STUDENT:
Donner . . . 

STIMMEN:
Was denn? Was denn? So reden Sie doch! Was ist denn nur los?


ERSTER STUDENT:
Er lädt den Leichnam auf die Schultern . . . 

STIMME:
Wie?

MEHRERE
(an den Fenstern):
Er kommt hierher. Er kommt herauf.

(Tritte draußen. Stimmengewirr, aus dem man nur mühsam das Folgende vernimmt.)

STIMME:
Wir werden ihn sehen.

THEOLOGE:
O Himmel!

ARZT:
Das wird interessant.

BEAMTER:
Na, das fehlte noch gerade.

IRRENARZT:
Sehr interessant.

GREIS:
Da - ist - er.

(Tiefe Stille. Der Autor kommt herein, den Leichnam des Schwindsüchtigen auf dem Rücken. Er wirft ihn vor sich schräg auf das Pult nieder, so, daß Kopf und ein Arm über die Kante ragen und herabhängen. Unterdrückte Schreie. DerAutor besteigt den Tritt des Pultes.)

AUTOR:
Diesen mordete jemand, der das Buch gelesen hatte. Wo ist er?

JUNGER KÜNSTLER
(nahe dem rückliegenden Fenster):
Ich tat es.

AUTOR:
Du hast töricht getan, Fremder, aber warum nicht auch gut? Siehe selbst zu!

(Er packt den Leichnam und schleudert ihn dem Angeredeten hin. Schreie.)

AUTOR:
Ich hörte viel Stimmen, Lärm und Geschwätz, als ich heraufkam. Ihr last alle das Buch. Was wollt ihr von mir? Einer ward getötet. Fliegen ihr.

(Er reißt den Scheinwerfer hinter dem Pult hervor, schwingt ihn hoch, so daß man sein Antlitz für Augenblicke strahlend sieht, dann wirft er das Licht unter die Menge. Schreie. Klirren. Das Licht erlischt. Dunkelheit.)

AUTOR:
Ich sticke an euch! Ihr könnt mich nicht kennen. Sollt mich nicht lesen. Meine Freunde können mich auch im Dunkel lesen.

(Er geht ab. Stille.)

STIMME DES ARZTES:
Ist jemand getroffen?

STIMME:
Die Lampe traf den Leichnam.

STIMME:
Ist dieser wahnsinnig?

STIMME DES IRRENARZTES:
Noch nicht.

Vorhang. Sehr rasch.

Ende.

 
 
 
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