BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Wilhelm Worringer

1881 - 1965

 

Abstraktion und Einfühlung

 

Praktischer Teil

 

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V. Kapitel.

Nordische Vorrenaissancekunst.

 

In der spätbyzantinischen Kunst, deren Einfluß bei aller Meinungsverschiedenheit über den Umfang dieser Beeinflussung unbestritten ist, haben wir nur eine Prämisse für die stilgenetische Entwicklung der abendländischen Vorrenaissancekunst. Nachdem wir im vorigen Kapitel dieses byzantinische Kunstwollen, soweit es für unsere Zwecke wichtig ist, charakterisiert haben, müssen wir uns den andern Prämissen zuwenden. Da entsteht zuerst die Frage, wie jene heimische Kunstübung, die unabhängig von antiker und orientalisch-byzantinischer Beeinflussung vorhanden ist, im Hinblick auf unsere Gesichtspunkte betrachtet werden muß. Zwar kann von einer ausgebildeten nordischen Kunst kaum die Rede sein, doch können wir an den vorliegenden Anläufen zu einer Kunstbetätigung, an den Gestaltungen des ersten inneren Bildungstriebes ein ganz bestimmtes und eigenartiges Kunstwollen ablesen. Es handelt sich hier um die nordische keltogermanische Zierkunst, wie sie sich in der Ornamentik des skandinavischen und irischen Nordens, im Völkerwanderungsstil und in der merowingischen Kunst trotz lokaler Verschiedenheit als eine ganz bestimmte Kunstrichtung manifestiert. Alles Kunstwollen dieser Völker befriedigte sich innerhalb dieser Ornamentik und so dürfen wir mit Sophus Müller die Kunst der nordischen Völker mit ihrer Ornamentik identifizieren.

Das Charakteristische dieser Ornamentik, auf die wir schon im dritten Kapitel hindeuteten, ist nun das [102] absolute Vorherrschen der linear geometrischen Form, die alles Organische ausschließt. Der Zusammenhang mit den Uranfängen der griechisch-archaischen und der orientalischen Kunst ist also gegeben. Um so leichter läßt sich die Verschiedenheit analysieren. Dieselbe wurzelt im allgemeinen état d'âme.

Das Verhältnis der nordischen Menschen zur Natur war zweifellos nicht das des Vertrautseins mit ihr, wie wir es bei den Griechen fanden, anderseits zeigte ihr Weltgefühl aber auch nicht die Tiefe wie das der altorientalischen Kulturvölker. Die nordische naive Naturreligion mit ihrer nebelhaften Mystik wußte nichts von dem tiefen Schauen, das wir in der orientalisch-semitischen Transzendenzreligion fühlten. Sie stand vor dem Erkennen, während die Religion des Orientalen über dem Erkennen stand. Jene nordischen Völker empfanden innerhalb einer herben unergiebigen Natur den Widerstand derselben, ihr inneres Getrenntsein von ihr und voller Angst, voller Unruhe und Mißtrauen standen sie den Dingen der Außenwelt und ihrer Erscheinung gegenüber. Kein klarer blauer Himmel überwölbte sie, kein heiteres Klima, kein vegetativer Reichtum umgab sie, um sie zu einem weltfrommen Pantheismus zu führen. Eine abweisende Natur ließ nicht den sicheren sinnlichen Instinkt aufkommen, der nötig ist, um sich der Natur mit Vertrauen hingeben zu können. Eine innere Disharmonie war die Folge und sie war es, die alle religiösen Vorstellungen mit dualistischen Elementen durchtränkte und die den Norden deshalb so wenig widerstandsfähig gegenüber dem Eindringen des Christentums machte.

Denn die nordische Mystik war so wenig in sich gefestigt, war so sehr nur Nebel vor Sonnenaufgang, daß sie vor dem römischen praktischen Rationalismus, der in seinem Kielwasser das Christentum als Staatsreligion mit sich führte, hilflos und wehrlos zurückwich und – immer in gehörigen Respekt vor der fremden Vernunft und der fremden Religion – sich in allerhand Schlupfwinkel verkroch, Im Gegensatz zu der orientalischen [103] Mystik, die mehr war als nur Nebel vor Sonnenaufgang, die tiefstes Bewußtsein vor der Unergründlichkeit der Welt war. Der nordische Mensch fühlte nur einen Schleier zwischen der Natur und sich, einen Schleier, den er einst heben zu können glaubte. Die Problematik alles Erkennens war ihm noch nicht aufgegangen.

Aus diesem état d'âme folgerte, daß das Kunstwollen der nordischen Menschen einerseits ein abstraktes sein mußte, daß es anderseits aber nicht die Intensität und hohe Anspannung des orientalischen haben konnte. Wohl war genug Beunruhigung der Außenwelt gegenüber, genug inneres Getrenntsein von der Natur vorhanden, um jede Vertraulichkeit und damit alles Gefühl für das Organische niederzuhalten. Und so beherrscht das Anorganische, wie es die sogenannte Band- und Tierornamentik zeigt, das Kunstwollen ausschließlich.

Doch all diese linear-geometrische Verschlingungen sind nie auf die einfachste abstrakte Formel gebracht, nie bis zur klaren Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit durchgeführt, vielmehr es ist Ausdruck in ihnen, ein über die abstrakte Ruhe und Ausschließlichkeit hinausgehendes Suchen und Streben. Diese umständliche, unklare und scheinbar willkürliche lineare Verzierungsweise hätte dem Kunstwollen orientalischer Völker nie genügen können. Es ist hier gleichsam nur das Material zur Abstraktion gegeben, nicht aber die Abstraktion selbst. Alles unruhige Suchen und Erkenntnisstreben, alle innere Disharmonie kommt in diesem gesteigerten Ausdruck des Unbelebten zum Vorschein. Das klare Bewußtsein des Nichterkennenkönnens, die absolute passive Resignation, hatte das orientalische Kunstwollen zu jener ausdruckslosen Ruhe und Notwendigkeit des Abstrakten geführt, hier im Norden aber ist alles Andere als Ruhe, hier will ein inneres Ausdrucksbedürfnis trotz aller Disharmonie oder vielmehr durch sie gesteigert sich aussprechen. Wir erinnern an die Ausführungen des dritten Kapitels: [104] „Ein unruhiges Leben ist in diesem Liniengewirr nicht zu erkennen. Aber diese Unruhe, dieses Suchen hat kein organisches Leben, das uns sanft in seine Bewegung mithineinzieht, vielmehr ist dieses Leben ein quälendes, hasterfülltes, das uns dazu zwingt, glücklos seinen Bewegungen zu folgen. Also auf anorganischer Grundlage eine gesteigerte Bewegung. Das ist die entscheidende Formel für den ganzen mittelalterlichen Norden. Das innere Lebens- und Ausdrucksbedürfnis dieser disharmonischen Völker nimmt nicht den nächstliegenden Weg zum Organischen, weil ihnen die ruhige ausgeglichene Bewegung des Organischen nicht genug sagt, weil sich ihre Disharmonie nicht mit den Mitteln des Organischen aussprechen kann, vielmehr brauchten sie die Steigerung eines Widerstandes, sie brauchten jenes unheimliche Pathos, das der Verlebendigung des Anor­ganischen anhaftet.“ Und so kommt es zu jener widerspruchsvollen Zwitterbildung: Abstraktion einerseits und stärkster Ausdruck anderseits.

Es ist dasselbe gesteigerte Pathos, das in aller mechanischen Nachahmung organischer Funktionen, so z. B. in den Marionetten, zum Ausdruck kommt.

Die Verschiedenheit nordischer linearer Bildungen von dem linearen Kunststreben des Ägypters, den im Linearen nur das Ausdruckslose befriedigte, liegt auf der Hand.

Man kennt die Art, wie in der nordischen Ornamentik aus Tiermotiven geometrische Muster werden, wie alles Organische in den Ausdruck dieser Linien einbezogen wird. Demselben Schicksal begegnet natürlich auch die Darstellung menschlicher Gestalten, wie sie bei fortgeschrittener Entwicklung z. B. in der Buchmalerei auftritt. Der Unterschied von der ägyptischen linearen Zeichnung tritt klar zu Tage. Man lese, wie Woermann diese nordische Kunstübung beschreibt. „Die Tiermotive vermählen sich den Flechtbandmotiven. Bandartig auseinandergezerrt erscheinen die Vierfüßler, an bandartig langen Hälsen sitzen die Vogelköpfe. Vor [105] allem aber nehmen die Menschenfiguren, verzerrt und verzettelt, an dem allgemeinen kalligraphischen Taumel teil. Selbst wo die heiligen Gestalten als Hauptbilder in der Mitte stehen, sind sie flach und schematisch gehalten. Ihr Bart- und Haupthaar wird in Bänder mit aufgerollten Enden aufgelöst. Ihre Gliedmaßen sind verkümmert. Wie in der Urkunst sind sie entweder ganz von vorn oder ganz im Profil gesehen. Die Gewänder werden zu Bänderrollen, die Gesichtszüge zu geometrischen Linien.“ (Woermann. Gesch. d. Kunst. II. B. 87.)

Dieser Hang zur anorganischen Linie, zur lebensverneinenden Form kam natürlich der abstrakten Tendenz, wie sie einerseits die von den Mönchsklöstern verbreiteten altchristliche Kunst und anderseits die spätbyzantinische Kunst aufwiesen, sehr entgegen. Aus dem Wirrwarr der jahrhundertelangen den verschiedensten Strömungen ausgesetzten Entwicklung tritt uns zuerst als ein relativ klares und ausgeprägtes Ergebnis der romanische Stil entgegen. Die großen Faktoren seiner Zusammensetzung sind folgende: erstens die direkten Überlieferungen der römischen Provinzialkunst, zweitens der von den Klöstern verbreitete altchristliche Kanon, drittens die byzantinische Kunst und viertens das oben analysierte eigne Kunstwollen der nordischen Völker. Schon aus dieser Zusammensetzung ergibt sich der Schluß, daß dem Organischen nur ein geringer Spielraum innerhalb dieses Stiles gelassen ist, zumal die organisch-antike Überlieferung schon in teilweise barbarisierter Vergröberung nur als eine unverstandene Form herübergenommen wurde. Doch hielt man sich, die Überlegenheit römischer Kunst empfindend, äußerlich sehr eng an diesen überlieferten Typus. Ja, zur Karolingerzeit kam es bekanntlich sogar zu einer bewußten Renaissance der Antike.

Der romanische und gotische Stil können nicht absolut getrennt betrachtet werden, wenn das Kunstwollen als alleiniger maßgebender Faktor in Frage steht. Denn [106] der größte Unterschied der beiden Stile, nämlich das noch deutliche Vorherrschen der antiken Überlieferung innerhalb des Romanischen, ist ein Moment, das vom Standpunkte des Kunstwollens aus nur als eine durch äußere Umstände bedingte Hemmung betrachtet werden darf.

Eine Betrachtung der Architektur zeigt uns, daß in der romanischen Baukunst sich die später in der Gotik alleinherrschend gewordenen Tendenzen schon deutlich, wenn auch noch auf der antiken Grundlage, die ja weder in der altchristlichen noch in der byzantinischen Architektur verloren gegangen war, ankünden. Das Antike ist im Romanischen, wie gesagt, nicht als eine in ihrem organischen Wesen klar erfaßte Form, sondern als ein äußeres Gerüst, als ein feststehender Typus beibehalten, mit dem das eigne Kunstwollen sich notgedrungen auseinandersetzen muß. Erst allmählich erstarken die eignen architektonischen Gedanken des nordischen Kunstwollens.

In seiner inneren Konstitution gibt sich der romanische Stil doch schon als ein nordisches Gebilde, sobald man über sein antikes Wesenselement, das ihm wie etwas Äußerliches anhaftet, hinwegsieht. Seine Gesamthaltung ist eine abstrakte und zu der Gotik steht er etwa in dem Verhältnis wie der dorische zu den anderen griechischen Baustilen. Wie der dorische, so weist er auch jeden Einfühlungstrieb noch zurück. Wir haben ein etwas gedrungenes ruhiges ernstes Baugebilde vor uns, in dessen Einzelheiten sich aber schon die künftige Entwicklung verrät. Im Strebebogensystem, im Rippengewölbe und im Pfeilerbündel sind schon die lebendigen Tendenzen enthalten. Was sich hier auf einer fremden Grundlage durchsetzen will, wird später zum alleinigen und maßgebenden Faktor. Was lag näher, als daß diese Tendenzen bei allmählicher Erstarkung die antike Konvenienz abwarfen und aus sich heraus ein neues ihrem eigensten Kunstwollen entsprechendes System schufen. So entstand der gotische Stil, wie er allmählich das ganze nordwestliche Europa eroberte. [107]

Wir sagten schon, daß im gotischen Baugedanken jenes heimische Kunstwollen, wie wir es an der Ornamentik konstatiert haben, und für das wir als kürzeste Formel fanden: gesteigerter Ausdruck auf anorganischer Grundlage, zur Erfüllung und zur Apotheose komme. Angesichts eines gotischen Domes wird uns die Frage, ob die innere Konstitution desselben eine organisch-lebendige oder eine abstrakte sei, in Verwirrung setzen. – Unter innerer Konstitution verstehen wir das, was man als die Seele eines Baues, als die geheimnisvolle innere Kraft seines Wesens bezeichnen kann. – Als Erstes werden wir nun bei der gotischen Kathedrale zweifellos einen sehr starken Appell an unser Einfühlungsvermögen empfinden und doch werden wir zögern, die innere Konstitution derselben eine organische zu nennen. Dieses Zögern wird verstärkt werden, wenn wir an die organische Konstitution eines klassischen griechischen Bauwerkes denken. Hier bei dem klassischen Bauwerk decken sich die Begriffe Organisch und Einfühlung vollständig; hier ist der Materie ein organisches Leben substituiert; sie gehorcht nicht nur ihren eigenen mechanischen Gesetzen, sondern sie ordnet sich mit diesen ihren Gesetzen einem vom Gefühl für organisches Leben erfüllten Kunstwollen unter. Beim gotischen Dom dagegen lebt die Materie nur von ihren eignen mechanischen Gesetzen; diese Gesetze aber sind trotz ihres abstrakten Grundcharakters lebendig geworden, d. h. sie haben einen Ausdruck bekommen. Der Mensch hat sein Einfühlungsvermögen auf mechanische Werte übertragen. Die sind ihm nun keine tote Abstraktion mehr, sondern eine lebendige Kräftebewegung. Und nur in dieser gesteigerten Kräftebewegung, die in der Intensität des Ausdrucks über alle organische Bewegung hinausgeht, vermag der nordische Mensch sein durch innere Disharmonie ins Pathetische gesteigertes Ausdrucksbedürfnis zu befriedigen. Ergriffen vom Taumel dieser aus allen Enden hervordringenden, [108] in mächtigem Crescendo gegen Himmel strebenden Orchestermusik mechanischer Kräfte fühlt er in seligem Schwindel sich krampfhaft emporgerissen, sich hoch über sich selbst hinaus ins Unendliche gesteigert. Wie fern steht er dem harmonischen Griechen, dem alles Glück nur von der Versenkung in die ausgeglichene aller Exstase fremden Ruhe der sanften organischen Bewegung kommt. 1)

Gottfried Semper fühlte das Unheimliche dieser lebendigen Mechanik sehr wohl heraus und nannte deshalb den gotischen Stil eine steinerne Scholastik. Denn die Scholastik ist ähnlich ein Höhepunkt des Bestrebens, mit abstrakt-schematischen Begriffen ein inneres lebendiges religiöses Fühlen auszudrücken, so wie die Gotik die Apotheose der vom Einfühlungsvermögen in ihrem Ausdruck gesteigerten mechanisch-konstruktiven Gesetze ist. Man wird verstehen, daß diese höchste Ausbeutung konstruktiver Möglichkeiten zu keinem anderen Zweck, als eine über organisches Leben hinausgehende, mit sich fortreißende Intensität der Bewegung zu erreichen, andern Völkern, die infolge ihrer temperature d'âme dem antiken Ideal näher standen, als eine Absurdität, als eine unheimliche barbarische Extravaganz erschien.

Wir müssen auf den Vergleich mit der griechischen Baukunst noch einmal zurückkommen. Wir haben in ihr zweifellos auch ein rein konstruktives Gebilde vor uns, d. h. all ihre Bildungen gehen klar nach konstruktiven Gesetzen vor sich. Die Tektonik der Griechen besteht nun in einer Beseelung des Steins, d. h. dem Stein wird ein organisches Leben substituiert. Das Konstruktiv-Bedingte wird einem höheren organischen Gedanken unterworfen, der von [109] innen heraus sich des Ganzen bemächtigt und die Gesetze der Materie im Sinne des Organischen klärt. Wir erinnern daran, daß sich diese Bewegung schon im dorischen Tempelbau ankündigte, dessen innere Konstitution im Übrigen noch eine rein abstrakte ist. Im jonischen Tempel und der ihm folgenden Bauentwicklung wurde nun das rein konstruktive Skelett, das einzig auf den Gesetzen der Materie, also auf dem Verhältnis zwischen Last und Tragkraft u. s. w. basiert, in das freundlichere und gefälligere Leben des Organischen hinübergeleitet und rein mechanische Funktionen wurden in der Wirkung zu organischen. Das Kriterium des Organischen ist immer das Harmonische, das Ausgeglichene, das in sich selbst Beruhigte, in dessen Bewegung und Rhythmus wir mühelos mit den Vitalgefühlen unseres eignen Organismus einfließen können. Im absoluten Gegensatz zum griechischen Baugedanken steht nun anderseits die ägyptische Pyramide, die unserem Einfühlungstrieb Halt gebietet und sich uns als ein rein kristallinisches abstraktes Gebilde darbietet. Als dritte Möglichkeit steht nun die gotische Kathedrale vor uns, die zwar nur mit abstrakten Werten arbeitet, aber dennoch einen äußerst starken und nachdrücklichen Appell an unser Einfühlungsvermögen richtet. Hier aber sind nun nicht konstruktive Verhältnisse von einem Gefühl für das Organische geklärt wie es der Prozeß beim griechischen Tempelbau ist, sondern rein mechanische Kräfteverhältnisse sind für sich zur Anschauung gebracht, und zudem sind diese Kräfteverhältnisse von einem auf das Abstrakte ausgedehnten Einfühlungsvermögen in ihrer Bewegungstendenz und in ihrem Inhalt bis aufs Höchste gesteigert worden. Nicht das Leben eines Organismus tritt uns entgegen, sondern das eines Mechanismus. Keine organische Harmonie umfängt das weltfromme Gefühl, sondern ein immer wachsendes und sich selbst steigerndes unruhiges Streben ohne Erlösung reißt die in sich disharmonische Psyche zu einer ausschweifenden Ekstase, zu einem brünstigen Exzelsior [110] mit sich fort. War nicht die Gotik mit ihrer kranken Differenziertheit, mit ihren Extremen und mit ihrer Unruhe die Pubertätszeit des europäischen Menschen?

Ehe wir die Architektur verlassen, möchten wir zwei bezeichnende Zitate gegenüberstellen, das eine aus Langiers 1753 erscheinenden berühmten „Essai sur l'architecture“ über die Gotik und ein Wort Goethes über die Antike.

Langier sagt: „La barbarie des siècles postérieures fit naître un nouveau système d'architecture, où les proportions ignorées, les ornaments bizarrement configurés et puerilement entassés, n'offraient que des pierres en découpure, de l'informe, du grotesque, de l'excessiv.“

Und als Gegensatz Goethes Wort über die Antike: „Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.“

Daß in dem fortgeschrittenen Mittelalter die Architektur zur Alleinherrscherin wurde und allen anderen Kunstarten eine sekundäre Stellung zuwies, kann nicht Wunder nehmen, denn in ihr konnte sich das oben gekennzeichnete Kunstwollen am ungehindertsten aussprechen. Der Tendenz, das Abstrakte expressiv zu machen, kamen die natürlichen konstruktiven Bedingungen der Architektur entgegen und kein organisches Naturvorbild stand hier einem solchen Wollen entgegen.

In der Plastik mußte dieses Kunstwollen einen natürlichen Widerstand finden. Indem es aber angesichts dieses natürlichen Widerstandes nicht darauf verzichtete, sich trotzdem durchzusetzen, entstanden jene eigenartigen und befremdlichen Bildungen der romanischen und gotischen Plastik. In der romanischen Plastik finden wir dieselben Verhältnisse wie in der romanischen Architektur vor. Das eigene Kunstwollen experimentiert hier noch auf einer ihm eigentlichen fremden Grundlage, in diesem Falle auf der Überlieferung des griechisch-römischen [111] rundmodellierten Skulpturstiles. Aber innerhalb dieses Rahmens macht sich schon allenthalben die Neigung zum Flachreliefstil und die Neigung, der Linie ein Eigenleben zu geben, bemerkbar, um mit der Zeit immer stärker zu werden. Der überlieferte Schwung der antiken Gewänder wird immer starrer und immer mehr zu einem Ornament von linearer Abstraktion in der Art der oben geschilderten Zwitterbildung von Abstraktion und Ausdruck. Schon wird das Gewand langsam nur ein Substrat für diese linearen Phantasien, schon gewinnt es leise ein Sonderdasein gegenüber dem Körper. 2) Aber trotz aller dieser Einzelmomente steht uns die antike Konvention in diesen gedrungenen etwas plattgedrückten Figuren z. B. des südfranzösischen romanischen Stiles noch klar vor Augen. Die Tendenzen, die sich hier noch leise und auf einer fremden Grundlage äußern, setzen sich von aller Konvenienz frei und uneingeschränkt in jener Entwicklung der Monumentalstatuarik durch, an deren Schwelle die Chartrerer Skulpturen stehen. Die relativ ruhigen Proportionen zwischen der Vertikalen und der Horizontalen, wie sie in der von der Antike noch geleiteten romanischen Architektur und Plastik herrschen, sind hier ganz bewußt aufgegeben und die menschliche Figur wird ebenso wie in der Ornamentik und in der Buchillustration einbezogen in das System einer anorganischen gesteigerten Bewegung. Es ist zu wenig gesagt, wenn man den Stil dieser unnatürlich lang gestreckten schmalen Figuren mit architektonischer Gebundenheit [112] bezeichnet, denn damit ist der Tatbestand nicht klar genug aufgedeckt. Vielmehr ist zu sagen, daß sich in der Skulptur wie in der Architektur das gleiche Kunstwollen manifestierte; daß diesem Kunstwollen die einfache plastische Realität nicht genügte, weil der Ausdruck derselben nicht pathetisch, nicht mitreißend genug war, weshalb es auch die Wiedergabe der kubischen Wirklichkeit in den stärkeren Ausdruck einer expressiven Abstraktion hineinzusteigern suchte. Und dieses Bestreben konnte es nicht glänzender befriedigen als dadurch, daß es die Darstellung des Figürlichen mit aufgehen ließ in den großen Taumel jener vom Einfühlungsvermögen in ihrer Bewegung gesteigerten mechanischen Kräfte, wie sie sich in der Architektur auslebten. So tragen denn diese Säulenheiligen einen Ausdruck und appellieren mit ihm an unsere Einfühlungsfähigkeit. Dieser Ausdruck liegt aber nicht in dem persönlichen Ausdruckswert der Einzelfigur, sondern in der expressiven Abstraktion, die die ganze Architektonik beherrscht und von der auch die ihr untergeordneten Statuen gänzlich abhängig sind. An für sich sind sie leblos, erst wenn sie ins Ganze eingefügt sind, nehmen sie an jenem gesteigerten über alles Organische hinausgehenden Leben teil.

Bei Betrachtung und Würdigung der mittelalterlichen Plastik ist ein unseren Gesichtspunkten fernstehender Faktor mitzuberücksichtigen, nämlich der aller cisalpinen Kunst gemeinsame Naturalismus oder Realismus, der sich im Charakteristischen ausspricht. Dieser Realismus steht jenseits des absoluten Kunstwollens, das immer nur auf den ästhetischen Elementargefühlen basiert und sich deshalb nur formal ausdrücken kann. Er gehört vielmehr einer erweiterten Ästhetik an, die mit den uferlosen Möglichkeiten der ästhetischen Komplikationsgefühle rechnet. Diese Komplikationsgefühle appellieren über das ästhetische Erleben hinaus an die verschiedensten Sphären seelischen Erlebens; sie vermögen sich deshalb nicht innerhalb der Grenzen des Formalen auszudrücken [113] und sind infolgedessen, wie schon im zweiten Kapitel betont, der eigentlichen Ästhetik nicht mehr zugänglich. Sie sind individuell bedingt und nur individuell auffaßbar, tragen also nicht den Charakter der Notwendigkeit, mit dem allein eine wissenschaftliche Ästhetik rechnen kann.

Das Charakteristische entwickelt sich dann zum Inhaltlichen im weitesten Sinne, dessen Wirkungssphäre auf ganz anderen Gebieten liegt als auf dem des rein ästhetischen Erlebens.

Dieser Realismus hatte sich nun in der romanischen und gotischen Kunst mit dem rein formal-abstrakten Kunstwollen auseinander­zusetzen. Das führte zu einer eigenartigen Zwitterbildung. Der charakterisierende Nachbildungstrieb warf sich auf die Köpfe der Figuren als dem Sitz des seelischen Ausdrucks; das jede Körperlichkeit unterdrückende Gewand blieb aber die Domäne des abstrakten Kunstdranges.

Jener Nachbildungstrieb war auch insofern von großer Bedeutung, weil er eine Brücke zu dem Organischen hinüber schlug. Wenn er auch vorläufig nur auf das Charakteristische und auf die Erfassung der Lebenswahrheit ausging, ohne das Gefühl für die Schönheit des Organischen zu wecken, so war doch damit eine faktische Grundlage geschaffen, auf der dann später in der Zeit des antiken und italienischen Einflusses das Gefühl für den ästhetisch-formalen Wert des Organischen sich ausbilden konnte. 3)

Vorläufig liegt alles noch unvermittelt nebeneinander; die realistische Bildung der Köpfe steht unvermittelt neben der ganz abstrakten und unorganischen Haltung des Übrigen. Es bedürfte einer eigenen Darstellung, die [114] Entwicklung der gotischen Plastik von diesen Gesichtspunkten aus zu verfolgen. Denn bei keinem Stil liegen die Extreme und Widersprüche so nebeneinander. Die Auseinander­setzung zweier prinzipiell gänzlich verschiedener Tendenzen auf so engem Boden mußte zu einer so eigenartigen und eindrucksvollen Kunst führen, wie sie uns in der gotischen Plastik entgegentritt. Wie aber vollzieht sich nun die Auflösung dieses Stiles im Sinne der Renaissance? Dieser Prozeß kann natürlich im Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet werden.

Als ersten Faktor nannten wir schon die aus der Nachbildung des Lebenswahren resultierende Disposition für die über die Alpen herüberkommenden organisch-formalen Tendenzen. Damit ist aber nur ein halber Schritt getan. Die weitere Entwicklung ging in einem interessanten Prozeß vor sich. Wir konstatierten schon, daß sich die abstrakten Tendenzen des nordischen Kunstwollens im Gewandstil zu einer Apotheose dieser Tendenzen steigerten. Das Gewand mit der Phraseologie seiner kunstvoll geleiteten Falten führte ein Sonderdasein dem Körper gegenüber, wurde zu einem Organismus für sich. Und innerhalb dieser gotischen Phraseologie ging nun auch die Änderung vor sich. Der wichtige Prozeß der Klärung des Anorganischen im Sinne des Organischen spielte sich nun auf dem Gewande ab. Wie aus dem krausen, eckigen, brüchigen Gewandstil der frühen Zeit sich leise jene rhythmische Dominante herausarbeitete, die wir die gotische Linie nennen, die eigentlich nur für die Ponderation des Ganzen entscheidend ist, aber in ihrem Rhythmus und in dem Vertikalismus ihrer Proportionen sich anfänglich noch an das gesteigerte und überlaute Leben der vorangegangenen Zeit hielt; wie diese gotische Linie sich dann langsam im Sinne des Organischen beruhigte und einen immer rhythmischeren Schwung annahm, bis sie zum vollständigen Gleichgewicht zwischen horizontalen und vertikalen Tendenzen gelangte; wie dieser Rhythmus sich in langsamer Entwicklung das ganze Faltendurcheinander [115] assimilierte: das alles kann nur an der Hand von Abbildungen im Einzelnen verfolgt werden. Der Prozeß komplizierte sich, indem nun gleichzeitig unter dem Eindruck der italienischen Renaissance auch der Körper organisiert und rhythmisiert wurde, so daß am Ende Körper und Gewand wie zwei getrennte Orchester sich zu übertönen suchten, obwohl sie in derselben Tonart spielten. In jener Entwicklungsphase der Gotik, die wir das gotische Barock nennen und derer Vertreter wir hauptsächlich in Süddeutschland finden, raffte sich die Musik des Gewandes zu einer letzten volltönenden Symphonie zusammen. Hier schwelgte sie noch einmal in den wundervollsten Akkorden, welche den bescheideneren und zurückhaltenderen Rhythmus des Körpers laut übertönten, aber mit dieser letzten Anstrengung brach sie zusammen und der Körper drang immer klarer und selbstherrlicher durch. Das fortgeschrittene Erfassen der Renaissance beseitigte dann schließlich jede Doppelwirkung zwischen Körper und Gewand. Der Körper wurde zur Dominante, das Gewand zu einer Nebenerscheinung, die sich fügsam der Dominante unterordnete. Der gotische Gewandstil hatte ausgeklungen und mit ihm war die letzte Erinnerung an den Ausgangspunkt des nordischen Kunstschaffens, an jenes System abstrakten und gleichzeitig expressiven Lineamentes erloschen. Nachdem es sich glücklich und auf vielen Umwegen zu organischer Klarheit durchgearbeitet hatte, verlor es seine Existenzberechtigung und wurde aus der Entwicklung ausgeschaltet.

Damit endet die lange Entwicklung, die von den Anfängen der Linearornamentik zur üppigen Bauschigkeit der Spätgotik führt. Die Renaissance, die große Natürlichkeit, die große Bürgerlichkeit beginnt. Alle Unnatürlichkeit – das Kennzeichnende alles vom Abstraktions­drang bedingten Kunstschaffens – schwindet. Mit der Gotik sinkt der letzte „Stil“ dahin. Wer annähernd empfunden hat, was Alles in dieser Unnatürlichkeit liegt, der wird bei aller Freude über die neuen [116] Glücksmöglichkeiten, die die Renaissance schuf, sich mit großer Trauer dessen bewußt bleiben, was mit diesem Sieg des Organischen, des Natürlichen an großen durch eine ungeheuere Tradition geweihten Werten auf immer verloren ging.

 

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1) Vergleiche Wölfflin über die Gotik: „Was an Phantastik und ausschweifend übertriebenen Wesen in der Zeit lag, fand in der Architektur seinen Ausdruck. Hier entstand Großartiges. Aber es ist ein Großartiges, das jenseits des Lebens liegt, nicht das großempfundene Leben selbst.“ Die Kunst Albrecht Dürers, Seite 20. 

2) Man hat den brüchigen, eckigen Faltenstil dieser Zeit als eine Übernahme von der Holzskulptur bezeichnet, wo er durch den Charakter des Materials bedingt gewesen sei.

Wir bezweifeln schon, daß der Materialcharakter des Holzes dafür ausreiche, um eine so eigenwillige und selbständige Erscheinung zu erklären, noch viel mehr aber wenden wir uns gegen die ebenso einfache wie psychologisch unmögliche und platte Deutung, daß man eine derartige materielle Hemmungserscheinung ohne jedes Verständnis auf die Steinplastik und auf die Malerei übertragen habe. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß die Wurzeln dieser Erscheinung tiefer liegen. 

3) Man vergleiche dazu Wölfflin, der gerade an dem Einzelfall Dürer den Vorgang nachweist, „wie sich an den italienischen Mustern das schlummernde Lebensgefühl des Nordens zum wachen Bewußtsein emporbildete.“