BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Moris Rozenfeld

1862 - 1923

 

autobiografye

 

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kval:

Morris Rosenfeld,

Lieder des Ghetto,

Berlin/Wien 1902

 

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Ich bin geboren am 25. September 1862 in dem kleinen Städtchen Boschka in Russisch-Polen. Mein Großvater, mein Vater, alle, die zu unserer Familie gehörten, waren Fischersleute. Die kleine Stadt liegt in einer lieblichen Gegend zwischen Wald und See. Ich war noch ein Kind, als meine Eltern nach Warschau ziehen mußten. Man schickte mich zum «Cheder», und ich lernte dort Talmud und ein wenig Polnisch und Deutsch. Mit 18 Jahren heiratete ich und ging nach Holland, wo ich durch 6 Monate die Diamantschleiferei lernte und betrieb. Von dort zog ich nach England. Hier arbeitete ich durch drei Jahre in den Sweat-Shops *) von London. Ich fuhr dann nach Amerika, wo ich bis zum heutigen Tage verblieb. In den dumpfen, finsteren Sweat-Shops von Neuyork war es, wo ich singen lernte von Unterdrückung, Leid und Elend. Bei Tage arbeitete ich, nachts schrieb ich meine Gedichte. Die Werkstatt zerrüttete meine Gesundheit, und ich mußte die Arbeit an der Maschine aufgeben. Ich wandte mich der Journalistik zu und war durch einige Jahre Mitarbeiter der bedeutendsten amerikanisch-jüdischen Blätter. Es ging mir erst besser, als die Sammlung meiner Lieder «Songs from the Ghetto» **) herauskam. In der Zeit meines literarischen Schaffens veröffentlichte ich (auf eigene Kosten) zwei kleine Bändchen meiner Gedichte: «Die Blumenkette» und «Das Lieder-Buch». Aber ich war auch töricht genug, noch als Anfänger 13 Jahre vorher ein kleines Buch: «Die Glocke» herauszugeben. Dieses Buch war ein literarischer Fehlgriff. Ich arbeitete zu jener Zeit im Sweat-Shop und hatte keine Zeit, die Gedichte durchzusehen. So wurden sie mit einer Menge von Fehlern gedruckt. Ich habe nachher viele Exemplare des Buches aufgekauft und sie verbrannt. . . . Damit ist in den wichtigsten Linien mein Leben gezeichnet.

 

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*) Werkstätten, in denen nach dem berüchtigten Schwitzsystem die Arbeitskraft für einen Hungerlohn bis zur äußersten Grenze ausgebeutet wird. 

**) «Songs from the Ghetto» erschien 1898, 2. Aufl. 1899, herausgegeben von Leo Wiener, Professor an der Harvard-Universität zu Cambridge. Es ist der Verdienst Prof. Wieners, der auch sonst viel für die historisch-kritisch Behandlung der «Jargon»-Literatur geleistet hat, Morris Rosenfeld «entdeckt» und beim amerikanisch-englischen Publikum eingeführt zu haben.