BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

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Zweites Capitel.

 

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Sitten und Character der Deutschen.

 

Nur einige Hauptzüge können der deutschen Nation gemein seyn; denn die Abweichungen dieses Landes sind so groß, daß man nicht weiß, wie man so verschiedenartige Religionen, Regierungsformen, Clima's, ja Völker unter einen und denselben Gesichtspunct bringen soll. Das südliche Deutschland ist, in vieler Hinsicht, von dem nördlichen durchaus verschieden; die Handelsstädte haben nicht die geringste Aehnlichkeit mit denen, welche als Universitäten berühmt sind. Die kleineren Staaten sind von den beiden großen Monarchieen, Preußen und Oestreich, wesentlich abweichend.

Deutschland war ein aristocratischer Bundesstaat. Dem Reiche fehlte es an einem gemeinschaftlichen Mittelpunct der Aufklärung und des Gemeingeistes. Es bildete keine zusammenhängende Nation; dem Bündel fehlte das Band. So nachtheilig diese Verschiedenheit Deutschlands seiner politischen Kraft war, so vortheilhaft war sie den Versuchen aller Gattung, denen sich Genie und Einbildungskraft überlassen mochten. Es herrschte eine Art sanfter friedlicher Anarchie darin, im Fach literarischer und metaphysischer Meinungen, wobei es jedermann frei stand, seine individuelle Ansicht der Dinge ganz nach Gefallen zu entwickeln.

Da es keine Hauptstadt giebt, die der Sammelplatz der guten Gesellschaft von ganz Deutschland ist. so kann der gesellige Geist seine Gewalt nur wenig geltend machen, so fehlt es dem herrschenden Geschmack an Einfluß, und den Waffen [27] des Spotts am Stachel. Der große Theil der Schriftsteller arbeitet in der Einsamkeit, oder in dem engen Kreise kleiner Umgebungen, über die sie die Herrschaft führen. Sie geben sich, jeder besonders, allem hin, was eine ungezügelte Einbildungskraft ihnen eingiebt; und wenn sich in Deutschland eine Spur der Modegewalt blicken läßt, so besteht sie bloß darin, daß sich jeder etwas damit weiß, sich von allen andern zu unterscheiden. In Frankreich ist es gerade das Gegentheil; da strebt alles nach dem Lobe, das Montesquieu Voltairen ertheilt, wenn er sagt: „Er hat mehr als irgend jemand, den Verstand, den jedermann hat.“ 1) Die deutschen Schriftsteller würden sich eher noch entschließen, die Ausländer, als ihre Landsleute nachzuahmen.

In der Literatur, wie in der Politik, haben überhaupt die Deutschen zu viel Achtung für das Ausland, und nicht genug Nationalvorurtheile. Bei Einzelnen ist die Verläugnung seiner selbst und die Achtung des Andern eine Tugend; nicht so beim Patriotismus der Nationen: dieser muß egoistisch seyn. Der Stolz der Engländer trägt zu ihrer politischen Existenz mächtig bei; die gute Meinung der Franzosen von sich hat von jeher ihr Uebergewicht in Europa verstärken helfen; der edle Stolz der Spanier machte sie einst zu Herren eines Theils des Erdkreises. Die Deutschen sind Sachsen, Preußen, Baiern, Oestreicher; aber der germanische Character, welcher die Stärke aller übrigen begründen sollte, ist zerstückelt, wie das Land selbst, was so verschiedene Herren zählt.

Ich werde das südliche Deutschland besonders untersuchen, und das nördliche wieder besonders; [28] für jetzt aber mich mit Bemerkungen begnügen, die der gesammten Nation gemein sind. Die Deutschen sind im Allgemeinen aufrichtig und treu; fast immer ist ihr Wort ihnen heilig, und der Betrug ihnen fremd. Sollte sich je die Falschheit in Deutschland einschleichen, so könnte es nur geschehen, um sich den Ausländern nachzubilden; um zu zeigen, daß sie eben so gewandt seyn können als jene; vor allem, um sich nicht von ihnen hinter's Licht führen zu lassen; bald aber würde der gesunde Verstand und das gute Herz die Deutschen auf die Ueberzeugung zurückbringen, daß man nur durch seine eigene Natur stark sey, und daß die Gewohnheit des Rechtlichen uns ganz und gar unfähig zur Arglist mache, selbst dann, wenn wir sie gebrauchen möchten. Um aus der Immoralität Vortheil zu ziehen, muß man in jeder Hinsicht leicht bewaffnet seyn, nicht aber ein Gewissen im Herzen, und Bedenklichkeiten im Kopfe führen, die uns auf halbem Wege aufhalten, und es uns um so mehr bereuen lassen, vom alten Wege abgewichen zu seyn, da es uns unmöglich wird, in der neuen Straße leicht vorzuschreiten.

Es wäre, dünkt mich, leicht zu beweisen, daß, ohne Moral, alles in der Welt Ohngefähr und Finsterniß ist. Gleichwohl hat man oft bei den Völkern lateinischen Ursprungs eine Politik angetroffen, die mit seltener Gewandtheit die Kunst besaß und ausübte, sich von allen Pflichten loszumachen. Der deutschen Nation hingegen darf man es zum Ruhme nachsagen, daß es ihr beinahe an der Fähigkeit fehlt, die geschmeidig-dreist es versteht, jede Wahrheit jedem Vortheil zu Gunsten zu beugen, und die heiligen Verbindlichkeiten der kalten Berechnung aufzuopfern. Ihre Mängel sowohl, als ihre Eigenschaften, unterwerfen diese [29] Nation der ehrenvollen Notwendigkeit, gerecht zu seyn.

Der Machttrieb zur Arbeit und zum Nachdenken ist ebenfalls ein Unterscheidungszeichen im Character der Deutschen. Die Nation ist von Natur literarisch und philosophisch; nur daß der Unterschied der Klassen, welche in Deutschland hervorstechender als irgendwo ist, weil die Nation hierin die Schatzungen nicht versüßt, in mancher Hinsicht dem, was man eigentlich unter Geist (Esprit) 2) versteht, in den Weg tritt. Der Adel hat zu wenig Ideen, die Gelehrten zu wenig Kenntniß der Geschäfte. Der Geist ist ein Gemisch von der Kenntniß der Dinge und der Menschen; und die Gesellschaft, wo man ohne Zweck, und dabei doch mit Theilnahme handelt, ist gerade das, was die am meisten entgegenstehenden Fähigkeiten am besten entwickelt. Was die Deutschen characterisirt, ist mehr die Einbildungskraft als der Geist. J.P. Richter, einer ihrer ausgezeichnetsten Schriftsteller, sagt irgendwo: „Das Gebiet des Meeres gehört den Engländern; das Gebiet der Erde den Franzosen; das Gebiet der Luft den Deutschen.“ Und in der That thäte es Noth, in Deutschland, Mittelpunct und Gränzen, jener hervorstechenden Denkkraft anzuweisen, die sich in den leeren Raum versteigt und verliert, in die Tiefe eindringt und verschwindet, vor gar zu großer Unparteilichkeit zu Nichts, vor gar zu feiner Analyse zum Chaos wird, mit einem Wort, der es an gewissen Fehlern mangelt, die ihrer Vollkommenheit zum Aussenwerk dienen könnten. [30]

Man hat viel Mühe, wenn man so eben aus Frankreich kam, sich an die Langsamkeit, an den Ruhestand des deutschen Volks zu gewöhnen; es hat nie Eile, findet allenthalben Hindernisse. Das Wort unmöglich hört man hundertmal in Deutschland aussprechen, gegen einmal in Frankreich. Muß gehandelt werden, so weiß der Deutsche nicht, was es heißt, den Hindernissen entgegen streben; und seine Achtung vor der Gewalt rührt mehr davon, daß sie in seinen Augen dem Schicksale gleicht, als von irgend einem eigennützigen Grunde her.

Der gemeine Mann hat in Deutschland eine ziemlich rauhe Aussenseite, zumal wenn man seiner gewöhnlichen Art zu seyn in den Weg tritt; dies hat zur natürlichen Folge, daß er länger als der Adel jene heilige Antipathie gegen die Sitten, Gebräuche und Sprachen des Auslandes beibehalten möchte, welche in allen Ländern das Nationalband schließt. Bietet man ihm Geld an, so bringt dies in seiner Handlungsweise keine Veränderung hervor; die Furcht führt ihn nicht von seinem Wege ab; er hat, mit einem Worte, jene Beharrlichkeit in allen Dingen, welche ein herrlicher Vorschritt zur Moralität ist; denn der Mensch, den die Furcht, und noch mehr die Hoffnung, in beständiger Bewegung erhält, geht leicht von einer Meinung zur andern über, wenn es sein Vortheil befiehlt.

Sobald man sich nur etwas über die letzte Volksklasse in Deutschland erhoben hat, bemerkt man bald das innere Leben, die Seelenpoesie, die den Deutschen bezeichnet. Die Bewohner der Städte und Dörfer, Soldaten und Landleute, verstehen fast alle Musik. Es ist mir sehr oft begegnet, in kleine vom Tabaksdampf durchräucherte Hütten zu treten, [31] und nicht allein die Hausfrau, sondern auch ihren Mann, auf dem Klavier phantasiren zu hören, wie man in Italien improvisirt. Allenthalben ist die Einrichtung getroffen, daß an Markttagen auf dem Altan des Rathhauses mitten auf dem Platze Spielleute mit blasenden Instrumenten sich versammeln; so daß die Bauern der benachbarten Dörfer ihren freudigen Antheil an der ersten aller Künste nehmen können. Sonntags singen Chorschüler auf den Straßen geistliche Lieder. Wie man erzählt, war Luther, in seiner Jugend, ein solcher Chorknabe. Ich befand mich einst zu Eisenach, einem Städtchen im Herzogthum Sachsen-Weimar, an einem überaus kalten Wintertage; es lag auf den Straßen tiefer Schnee. Ich sah einen langen Zug von jungen Leuten in schwarzen Mänteln durch die Stadt ziehen, und hörte sie mit lauter Stimme Lieder zum Lobe Gottes anstimmen. Außer ihnen befand sich Niemand auf der Straße, so streng war die Kälte; und diese Stimmen, beinahe so harmonisch wie die südlichen, rührten um desto mehr, da sie mitten aus der erstarrten Natur hervortönten. Bei der bittern Kälte durften die Einwohner ihre Fenster nicht öffnen; doch erblickte man hinter den Scheiben traurige und heitere Gesichter, alte und junge, welche mit Freuden die Tröstungen der Religion auffaßten, die ihnen der sanfte Gesang zuhauchte.

Die armen Zigeuner auf ihren Reisen mit Weib und Kind, tragen alte Harfen mit sich auf dem Rücken umher; sie sind von schlechtem Holze, aber ihr Ton ist harmonisch. Sie spielen darauf, wenn sie unter einem Baume auf der Landstraße ausruhen, oder vor den Posthäusern durch das wandernde Familienconcert die Milde der Reisenden rege machen wollen. In Oestreich [32] spielen die Hirten auf einfachen aber wohlklingenden Instrumenten, angenehme Weisen. Diese Weisen und Lieder stimmen vollkommen mit dem sanften träumerischen Eindruck zusammen, den das Feld hervorbringt.

Die Instrumentalmusik ist in Deutschland eben so allgemein eingeführt, als die Vocalmusik in Italien. Die Natur hat freilich in dieser Hinsicht, wie in so mancher andern, mehr für Italien als für Deutschland gethan. Es kostet Mühe und Anstrengung, um es in der Instrumentalmusik etwas weit zu bringen, während der südliche Himmel allein hinreicht, schöne Stimmen zu bilden; gleichwohl würden nie Männer aus den arbeitenden Classen auf die Erlernung der Musik die nothwendige Zeit verwenden können, wenn sie nicht natürliche Anlage dazu hätten. Die von Natur musikalischen Völker erhalten durch die Harmonie Gefühle und Ideen, zu welchen ihre beschränkte Lage und ihre alltäglichen Beschäftigungen ihnen nicht verstatten würden, auf andere Art zu gelangen.

Die Bäuerinnen und Dienstmägde, die nicht Geld genug zu einem vollständigen Sonntagsstaat haben, schmücken gleichwohl Kopf und Arme mit Blumen aus. damit doch wenigstens die Einbildungskraft bei ihrem Anzuge ihr Spiel treiben möge; andere, die es weiter bringen können, tragen an Sonn- und Festtagen eine Mütze von Goldstoff, ziemlich geschmacklos, und gegen den übrigen schlichten Anzug sonderbar abstechend, auf dem Kopfe; aber diese Mütze, die schon ihre Mütter trugen, erinnert an die alten Sitten; und der feierliche Staat, mit welchem die Frauen aus der niedrigen Volksklasse den Sonntag ehren, hat etwas Ernstes, und spricht für sie.

Man sollte den Deutschen ebenfalls für ihren [33] guten Willen Dank wissen, anstatt sie zu belächeln, wenn sie uns durch ihre ehrerbietige Verneigungen und ihre förmliche Höflichkeit zu ehren gedenken. Sie hätten ja so leicht durch Gleichgültigkeit und Kälte jene Artigkeit und Grazie ersetzen können, die zu erreichen wir Ausländer sie für unfähig halten. Durch Verachtung gebietet man jederzeit dem Spotte Stillschweigen, denn dieser läßt sich meistentheils nur da aus, wo ihm zwecklose Anstrengungen, ihn zu entwaffnen, auffallen; aber wohlwollende Gemüther geben sich lieber dem Lachen preis, als daß sie es durch ein hohes, kaltes Wesen, welches man so leicht annehmen kann, zurückstießen.

In Deutschland ist nichts so auffallend, als der Gegensatz zwischen den Empfindungen und den Gewohnheiten, zwischen den Talenten und dem Geschmack. Ausbildung und Natur scheinen hier noch nicht gehörig zusammengeschmolzen zu seyn. Wahrheitliebende Männer erscheinen nicht selten im Ausdruck und im Anstande gezwungen, als hätten, sie etwas zu verbergen; nicht minder oft zeigt sich die sanfte Seele unter einer rauhen Aussenseite; ja man geht noch weiter, und die Schwäche des Characters blickt hinter harten Worten und harten Formen hervor. Mit dem Enthusiasmus für Dichtkunst und schöne Künste, verbinden sich vielfältig gemeine gesellschaftliche Sitten und Gewohnheiten. Es giebt kein Land, wo die Gelehrten oder junge Studierende auf hohen Schulen es weiter in den alten Sprachen und in der Kenntniß des Alterthums gebracht hätten; und von einer andern Seite kein Land, wo altväterische Sitten und Gebräuche einheimischer wären, als in Deutschland. Die Erinnerungen aus Griechenland, der Geschmack an der Kunst, scheinen durch Correspondenz dahin gelangt zu seyn; indes die Feudaleinrichtungen, [34] die alten germanischen Gebräuche, noch immer in großen Ehren stehen, obschon sie, zum Nachtheil der militärischen Landesgewalt, viel von ihrer vorigen Kraft verloren.

Es giebt kein wunderlicheres Gemisch, als die militärische Ansicht von Deutschland; hier Soldaten, auf welche man mit jedem Schritte stößt; dort das eingezogene Leben, das geführt wird. Man scheuet sich vor den Beschwerden, vor der rauhen Luft, als bestände die Nation blos aus Handelsleuten und Gelehrten; während alle Anstalten dahin abzielen und abzielen sollen, der Nation militärische Gewohnheiten mitzutheilen. Die Völker des Nordens, die der Strenge ihres Clima Trotz bieten, gelangen zu einer vorzüglichen Abhärtung gegen alle Gattungen physischer Uebel, wie dies der russische Soldat beweiset; wo aber das Clima nur halbstreng ist, wo es noch möglich wird, sich der herben Luft durch häusliche Vorkehrungen zu entziehen, da machen eben diese Vorkehrungen die Menschen desto empfindlicher gegen die physischen Leiden des Krieges.

Die Oefen, das Bier, der Tabaksrauch umgeben den gemeinen Mann in Deutschland mit einer Art von schweren heißen Atmosphäre, aus welcher er nicht gern hervorgeht. Dieser Dunstkreis ist der Thätigkeit nachtheilig, die dem Krieger mindestens eben so nothwendig ist, als der Muth; Entschlüsse reifen dabei nur langsam; Muthlosigkeit tritt ein, weil eine für die meisten ziemlich dürftige Existenz eben nicht geschickt ist, Zutrauen auf das Glück einzuflößen; die Gewohnheit einer ruhigen, friedlichen Lebensart ist nicht die beste Vorbereitung auf die mannigfaltigen Zufälligkeiten des Lebens, so daß man sich lieber dem Tode unterwirft, der auf der geraden Straße uns entgegenkommt, als den Schicksalen eines Abenteurers. [35]

Die Abscheidung der Classen, in Deutschland weit schärfer gezeichnet, als sie es in Frankreich war, mußte den Soldatengeist im Bürger ersticken. Diese Abscheidung hat, an sich, nichts Beleidigendes; denn, ich wiederhole es, die Gutmüthigkeit scheint überall in Deutschland, selbst in dem Aristokratenstolz, durch, und die Verschiedenheit der Stände beschränkt sich auf einigen Vorrang bei Hofe, auf einige geschlossene Zirkel, welche zu wenig Vergnügen gewähren, um in denen, die sie entbehren müssen, Neid zu erregen; denn nichts ist empfindlich, in welcher Hinsicht es sey, wo die Gesellschaft und durch sie die Waffe des Lächerlichen, nur wenig Gewalt hat. Die Menschen können dem Gemüth nur durch Falschheit oder Spott wehe thun; und in einem Lande voller Ernst und Wahrheit giebt es immer Gerechtigkeit und Glück. Aber die Scheidewand, die in Deutschland den Adel von dem Bürgerstand trennte, hatte zur nothwendigen Folge, daß die Nation im Ganzen minder kriegerisch ward.

Die Einbildungskraft, des kunstübenden und literarischen Deutschlands herrschende Eigenschaft, flößt Furcht vor der Gefahr ein, wenn man diese natürliche Bewegung nicht mit Hülfe der überwiegenden Meinung und des exaltierten Ehrgefühls bekämpft. In Frankreich war, schon ehedem, der Geschmack am Kriege allgemein; der gemeine Mann wagte gern sein Leben, um nur ein Mittel zu haben, es in Bewegung zu setzen, und an der Last desselben minder schwer zu tragen. Es ist eine große Frage, ob häusliche Neigungen, die Gewohnheit des Nachdenkens, ja die Sanftmuth des Gemüths selbst, nicht dahin führen, den Tod zu fürchten; wenn aber, wie in Deutschland, die ganze Kraft eines Staats auf seinem militärischen [36] Geiste beruht, so wird die Untersuchung der Ursachen wichtig, die in der deutschen Nation diesen Geist geschwächt haben mögen.

Gewöhnlich führen drei Hauptbeweggründe die Menschen in den Krieg: Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit, Ruhmbegierde und religiöser Fanatismus. Es giebt keine große Vaterlandsliebe in einem seit mehreren Jahrhunderten getheilten Reiche, wo Deutsche gegen Deutsche zu Felde zogen, mehrentheils um einem Antriebe von aussen Folge zu leisten; der Ruhmbegierde mangelt es an Lebhaftigkeit, wo es an einem Mittelpunkt, an einer Hauptstadt, an Geselligkeit fehlt. Die Art von Unparteilichkeit, die ich den Luxus der Gerechtigkeit nennen möchte, und die den Deutschen characterisirt, macht ihn weit fähiger, sich für abstracte Ideen, als für das Interesse des Lebens zu entflammen. Ein deutscher General, der eine Schlacht verliert, ist sicherer, Nachsicht zu erhalten, als einer, der sie gewinnt, glänzendes Lob einzuernten; überhaupt ist, bei einem solchen Volke, zwischen glücklichen und unglücklichen Erfolgen der Unterschied nicht groß genug, um den Ehrgeiz lebhaft anzuspornen.

Die Religion hat, in Deutschland, ihren Sitz im Innersten des Herzens; zugleich aber trägt sie gegenwärtig ein Gepräge der Träumerei und der Unabhängigkeit, welches ausschließlichen Empfindungen nicht den gehörigen Nachdruck beilegt. Dieses Einzelnstehen von Meinungen, Individuen und Staaten, der Macht des deutschen Reichs so überaus nachtheilig, findet sich auch in der Religion wieder; eine große Anzahl verschiedener Secten theilt sich in Deutschland, und die katholische Religion selbst, die durch ihre innere Beschaffenheit einförmige strenge Zucht hält, wird [37] von den Deutschen, nach eines jeden Weise und Gutdünken, erklärt. Das politische und gesellschaftliche Gut der Völker, eine gleiche Regierung, ein gleicher Gottesdienst, gleiche Gesetze, gleiches Interesse, eine classische Literatur, eine vorherrschende Meinung; nichts von allem diesem findet sich bei den Deutschen. Dadurch wird freilich jeder einzelne Staat unabhängiger, jede Wissenschaft besser angebaut; aber die Nation im Ganzen zerfällt in solche Unterabtheilungen, daß man nicht weiß, welchem Theile des Reichs man den Namen Nation beilegen soll.

Die Freiheitsliebe ist bei den Deutschen nicht entwickelt; sie haben weder durch Genuß, noch durch Entbehrung, den Werth kennen gelernt, den man in diesem höchsten Gute finden kann. Es giebt mehrere Beispiele von Föderativ-Staaten, die dem Gemeingeist eben so viel Kraft als Einheit in der Regierung zutheilen; aber jene Staaten sind einander gleich, jene Bürger sind frei. Der deutsche Bund bestand aus Starken und Schwachen, aus Bürgern und Knechten, aus Nebenbuhlern und sogar aus Feinden; aus alten Elementen, durch die Umstände zusammentreffend, und von den Menschen in Würde gehalten.

Die deutsche Nation ist ausharrend und gerecht; ihr Gefühl für Billigkeit und Rechtlichkeit verhindert, daß eine, sogar fehlerhafte, Einrichtung zum Bösen führen könne. Als Ludwig der Baier in den Krieg zog, überließ er die Verwaltung seiner Staaten Friedrich dem Schönen, seinem Gefangenen; und dieses Vertrauen, welches damals für Niemand befremdend war, betrog ihn nicht. Mit solchen Tugenden hatte man von den Mängeln der Schwachheit, oder von der Verwickelung [38] der Gesetze nichts zu befürchten; die Rechtschaffenheit der Menschen ersetzte alles.

Die Unabhängigkeit selbst, die man beinahe in jeder Hinsicht in Deutschland genoß, machte die Deutschen gleichgültig gegen die Freiheit: die Unabhängigkeit ist ein Gut, die Freiheit eine Bürgschaft; und eben weil niemand in Deutschland weder in seinen Rechten, noch in seinen Genüssen gekränkt wurde, fühlte man nicht das Bedürfniß einer Ordnung der Dinge, durch die dieses Gut behauptet würde. Die Reichsgerichtshöfe verschaften eine sichere, obschon langsame Gerechtigkeit gegen jede Handlung der Willkühr; die Mäßigung der Fürsten und die Weisheit der Völker gaben fast niemals Anlaß zu Vorstellungen; man glaubte, keines constitutionellen Bollwerkes zu bedürfen, weil man keinen Eingriff vor sich sah.

Es muß Wunder nehmen, daß das Feudalrecht beinahe ohne alle Abänderung unter so aufgeklärten Menschen fortgedauert habe; da aber in der Ausübung dieser an sich mangelhaften Gesetze nie Ungerechtigkeiten vorfielen, so tröstete die Gleichheit in der Anwendung über die Ungleichheit in dem Grundsatz. Die alten Urkunden, die alten Privilegien der Städte, jene große Familiengeschichte, die das Glück und den Ruhm der kleinen Staaten ausmacht, war den Deutschen über alles theuer; sie vernachlässigten darüber die große Nationalmacht, die es vor allen Dingen wichtig war, mitten unter den europäischen Colossen zu begründen.

Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird. Alles beunruhigt ihn, macht ihn verlegen; er bedarf eben so sehr der Methode im Handeln, als der Unabhängigkeit im Denken. Der Franzose hingegen betrachtet [39] die Handlungen mit der Freiheit der Kunst, und die Ideen mit der Knechtschaft der Gewohnheit. Die Deutschen, die sich dem Joche der Regeln in der Literatur nicht unterwerfen können, möchten, daß im Leben ihnen alles vorgezeichnet würde. Sie verstehen sich nicht darauf, mit den Menschen zu verhandeln, und je weniger man ihnen Gelegenheit giebt, sich bei sich selbst Raths zu erholen, desto mehr ist man ihnen willkommen.

Politische Einsetzungen können allein den Charakter einer Nation begründen. Nun stand die Natur der Regierung in Deutschland mit der philosophischen Aufklärung der Deutschen beinahe im Gegensatz; daher kommt es, daß sie die größte Kühnheit im Denken mit dem folgsamsten Charakter verbinden. Der Vorzug, den der Soldatenstand hat, und die Verschiedenheit der Stände überhaupt haben sie in allen Verhältnissen des geselligen Lebens an die genaueste Unterwürfigkeit gewöhnt; der Gehorsam ist bei ihnen nicht Knechtschaft, er ist Regelmäßigkeit; sie sind in Erfüllung der an sie ergehenden Befehle eben so pünktlich, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre.

Die aufgeklärten Köpfe in Deutschland streiten lebhaft mit einander um die Herrschaft im Gebiet der Speculation; hier leiden sie keinen Widerspruch; überlassen übrigens gern den Mächtigen der Erden alles Reelle im Leben. „Gleichwohl findet das von ihnen verschmähte Reelle seine Abnehmer, welche nachher Verwirrung und Zwang selbst in den Reiz der Einbildungskraft übertragen.“ 3)

Der Geist der Deutschen scheint mit ihrem [40] Charakter in keiner Verbindung zu stehen; jener leidet keine Schranken, dieser unterwirft sich jedem Joche; jener ist unternehmend, dieser blöde; die Aufklärung des ersten giebt selten dem zweiten Kraft: und dieses erklärt sich gar leicht. Die Vermehrung unserer Kenntnisse in neueren Zeiten dient nur dazu, den Charakter zu schwächen, wenn er nicht durch die Gewohnheit der Geschäfte und die Ausübung des Willens gestärkt wird. Alles einsehen und begreifen, ist ein erheblicher Grund zur Ungewißheit; die Kraft zu handeln entwickelt sich nur in freien und mächtigen Gegenden, wo patriotische Empfindungen ihren Sitz in der Seele haben, wie das Blut in den Adern, und nur zugleich mit dem Leben erkalten 4).

 

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1) Mutterwitz. 

2) So oft Geist gesperrt [hier: kursiv] seyn wird, soll es das französische Wort esprit, im französischen Sinn, bedeuten. 

3) Von den Censoren gestrichen. 

4) Ich darf nicht erst dem Leser sagen, daß ich hier England im Sinne hatte; wenn aber nur die Namen nicht ausgeschrieben sind, macht sichs der größte Theil der Censoren, der aus aufgeklärten Männern besteht, zum Vergnügen, nicht zu verstehen. Nicht so die Polizei: sie besitzt eine wirklich auffallende Art von feindlichem Instinkt gegen alle liberale Ideen, unter welcher Form sie ihr aufstoßen mögen; in diesem Felde stöbert sie, wie die abgerichteten Spürhunde, alles auf, was in dem Gemüth der Franzosen ihre alte Liebe zur Aufklärung und zur Freiheit wieder rege machen könnte.