BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

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Achtzehntes Capitel.

 

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Die deutschen Universitäten.

 

Das ganze nördliche Deutschland ist mit den gelehrtesten Universitäten Europa's übersäet. In keinem Lande, selbst in England nicht, giebt es so viel Mittel zum Unterricht, und zur Vervollkommnung seiner Geistesfähigkeiten. Woran liegt es denn, daß es der Nation an Vollkraft fehlt, und daß sie im Allgemeinen für schwerfällig und beschränkt gilt, ohngeachtet sich in ihr eine kleine Anzahl von Männern befindet, die vielleicht die geistreichsten in ganz Europa sind? Nicht der Erziehung, [132] sondern der Natur der Regierungen ist dieser seltsame Contrast zuzuschreiben. Die intellectuelle Erziehung ist in Deutschland vortrefflich; aber sie wird in der Theorie vollendet. Die practische Erziehung hängt lediglich von der Geschäftsführung ab; nur durch das Handeln gewinnt der Character die nöthige Festigkeit, um sich in dem Lebenswandel zu leiten. Der Character ist ein Instinkt; aber obwohl er mehr der Natur als dem Geiste verwandt ist, so geben doch nur die Umstände dem Menschen Gelegenheit, ihn zu entwickeln. Die Regierungen sind die eigentlichen Erzieher der Völker; und die öffentliche Erziehung selbst, wie gut sie auch seyn möge, bildet wissenschaftliche Menschen, aber nicht Bürger, Krieger und Staatsmänner.

In Deutschland reicht der philosophische Geist viel weiter, als in irgend einem andern Lande; nichts hält ihn auf, und selbst die Abwesenheit einer politischen Laufbahn, wie nachtheilig sie auch der Masse ist, giebt den Denkern um so mehr Freiheit. Aber eine unermeßliche Kluft trennt die Geister der ersten und der zweiten Ordnung, weil für Menschen, die sich nicht zur Höhe der umfassendsten Conceptionen erheben, weder ein Interesse, noch ein Gegenstand der Thätigkeit vorhanden ist. Wer sich in Deutschland nicht mit dem Universum befaßt, hat nichts zu thun.

Die deutschen Universitäten haben einen alten Ruf, der um mehrere Jahrhunderte über die Reformation hinausreicht. Seit dieser Epoche verdienen die protestantischen Universitäten den Vorzug vor den katholischen, und aller literärischer Ruhm hängt in Deutschland mit diesen Institutionen zusammen. 1) Die englischen Universitäten haben [133] auf eine ausgezeichnete Weise dazu beigetragen, jene Kenntniß der alten Sprachen und Literaturen zu verbreiten, welche den Rednern und Staatsmännern in England eine so liberale und glänzende Unterweisung giebt. Es gehört zum guten Geschmack, noch etwas mehr zu kennen als Geschäfte, wenn man diese einmal kennt; und außerdem schließt die Beredtsamkeit freier Nationen sich an die Geschichte der Griechen und Römer, als an die Geschichte alter Landsleute, an. Aber die deutschen Universitäten, obgleich in mancher Hinsicht den englischen sehr ähnlich, unterscheiden sich von diesen in vieler Hinsicht. Die Menge der Studirenden, die sich zu Göttingen, Halle, Jena, u. s. w. vereinigten, bildeten beinahe einen freien Körper im Staate; die Reichen und Armen unter ihnen unterschieden sich von einander nur durch ihr persönliches Verdienst, und die Fremden, welche aus allen Winkeln der Welt herbeiströmten, unterwarfen sich mit Freuden einer Gleichheit, welche nur durch die natürliche Ueberlegenheit gestört werden konnte.

Es gab in Deutschland unter den Studirenden Unabhängigkeits-Sinn und selbst militärischen Geist; und wenn sie sich, nach dem Austritt aus dem Universitäts-Leben, den öffentlichen Angelegenheiten hätten widmen können, so würde ihre Erziehung der Energie des Charakters sehr vortheilhaft gewesen seyn. Aber sie traten zurück in die eintönigen [134] und häuslichen Gewohnheiten, welche in Deutschland vorherrschen, und verloren allmählig den Schwung und die Entschlossenheit, die das Universitäts-Leben ihnen eingeflößt hatte, und nichts blieb übrig, als eine ausgebreitete Gelehrsamkeit.

Auf jeder deutschen Universität concurrirten mehrere Professoren für jeden Zweig des Unterrichts. Auf diese Weise waren die Lehrer selbst von Wetteifer entzündet, und suchten einer dem andern den Rang durch Anziehung einer größeren Zahl von Zuhörern abzulaufen. Die, welche sich für die eine oder die andere Laufbahn besonders bestimmten, es sey die Medizin, das Recht, oder was es sonst wollte, fühlten den natürlichen Beruf, sich über andere Gegenstände zu unterrichten; und daher rührt die Universalität der Kenntnisse, die man beinahe in allen gebildeten Männern Deutschlands antrifft. Wie die Geistlichkeit, so hatten auch die Universitäten ihre eigenthümliche Ausstattung; sie hatten sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit, und es ist eine schöne Idee unserer Väter, daß sie die Erziehungs-Anstalten ganz unabhängig gemacht haben. Das reifere Alter mag sich den Umständen unterwerfen; aber beim Eintritt in das Leben soll der Jüngling seine Ideen aus einer ungetrübten Quelle schöpfen.

Das Sprachstudium, welches die Grundlage des Unterrichts in Deutschland ausmacht, ist in der Jugend der Entwicklung aller Fähigkeiten bei weitem günstiger, als das Studium der mathematischen und physischen Wissenschaften. Pascal, dieser große Geometer, dessen Gedanke über der Wissenschaft, womit er sich beschäftigte, wie über den übrigen allen, schwebte – Pascal selbst hat die Mängel anerkannt, die von den Geistern, welche sich ausschließlich durch das Studium der Mathematik [135] bilden, unzertrennlich sind; denn dies Studium übt in einem früheren Alter nur den Mechanismus des Verstandes, und Kinder, welche man allzu früh an das Rechnen bringt, verlieren nur den Saft der Imagination, der in diesem Alter so schön und so fruchtbar ist, und erwerben dafür eine unmäßige Richtigkeit des Geistes, indem Arithmetik und Algebra sich darauf beschränken, uns auf tausend Manieren dieselben Sätze zu lehren. Die Probleme des Lebens sind verwickelter; keins ist positiv, keins abgeschlossen; man muß errathen, wählen, und zwar mit Hülfe von Ansichten und Voraussetzungen, die mit dem untrüglichen Gange der Berechnung nichts gemein haben.

Die erwiesenen Wahrheiten führen nicht zu den Wahrscheinlichkeiten, welche in Geschäften, wie in den Künsten und in dem Umgange, uns allein zu Führern dienen. Es giebt unstreitig einen Punkt, wo auch die Mathematik jene strahlende Macht der Erfindung fordert, ohne welche sie nicht in die Geheimnisse der Natur eindringen kann; auf dem Gipfel des Gedankens scheinen sich Homers und Newtons Imagination zu vereinigen. Aber wie viele Kinder ohne Genie für die Mathematik widmen derselben ihr ganzes Leben! Man übt in ihnen nur Eine Fähigkeit, während man das ganze moralische Wesen in einer Epoche entwickeln sollte, wo man Seele und Körper durch die übermäßige Stärkung eines einzeln Theils so leicht verdirbt.

Nichts ist weniger anwendbar auf das Leben, als ein mathematisches Raisonnement. Ein Satz in Zahlen ist entweder entschieden falsch oder wahr; in allen übrigen Beziehungen vermischt sich das Wahre mit dem Falschen auf eine so wunderbare Weise, daß nur der Instinkt uns zwischen verschiedenen Beweggründen, die auf beiden Seiten bisweilen [136] gleich mächtig sind, zur Entscheidung führen kann. Indem das Studium der Mathematik zur Gewißheit gewöhnt, nimmt es uns gegen alle, der eigenen entgegenstehenden Meinungen ein; und doch ist die Hauptsache im Leben, Andere kennen zu lernen, d. h. alles aufzufassen, was sie bestimmt, anders zu denken und zu empfinden, wie wir. Die Mathematik verleitet uns, nur auf das Erweisbare einen Werth zu legen, indeß die ursprünglichen Wahrheiten, die, welche das Gefühl und das Genie fassen, keiner Demonstration empfänglich sind.

Endlich unterwirft die Mathematik alles dem Calcul, und flößt uns dadurch zu viel Respekt für die Gewalt ein; und jene erhabene Energie, welche den Hindernissen trotzt und sich in Aufopferungen gefällt, vereinbart sich schwer mit der Gattung von Vernunft, welche algebraische Combinationen entwickeln.

Es kommt mir also vor, als müsse man, sowohl zum Besten des Herzens, als des Geistes, das Studium der Mathematik in seine Zeit verlegen, und zwar nur als einen Theil des Gesammt-Unterrichts, nicht als Grundlage der Erziehung, und folglich nicht als bestimmendes Princip des Charakters und der Seele.

Unter den Erziehungs-Systemen giebt es auch solche, die den Unterricht mit den Naturwissenschaften anzufangen rathen. Sie sind in der Kindheit ein bloßer Zeitvertreib; es sind gelehrte Spielereien, welche bewirken, daß man sich methodisch belustigt und oberflächlich studirt. Man hat sich eingebildet, daß man, so viel als immer möglich, den Kindern alle Anstrengung ersparen, alle Studien in Erholungen verwandeln und ihnen recht früh naturhistorische Sammlungen zu Spielwerken, und physikalische [137] Experimente zu Schauspielen geben müsse. Auch dies scheint mir ein irriges System zu seyn. Wäre es auch möglich, daß ein Kind spielend etwas Wichtiges lernen könnte, so würde ich noch immer die unterbliebene Entwickelung einer Fähigkeit bedauern, nehmlich der Aufmerksamkeit; eine Fähigkeit, welche ungleich wesentlicher ist, als eine Kenntniß mehr. Ich weiß, man wird mir sagen, die Mathematik schärfe vor allem die Aufmerksamkeit; aber sie gewöhnt nicht zum Sammlen, zum Würdigen, zum Concentriren. Die Aufmerksamkeit, die sie verlangt, ist so zu sagen, geradlinigt. In Dingen der Mathematik ist der menschliche Geist thätig, wie eine Springfeder, die ewig dieselbe Richtung nimmt.

Die Erziehung, welche spielend geschieht, zerstreut den Gedanken. Die Mühe in jeder Art ist eins von den großen Geheimnissen der Natur, und der Geist des Kindes muß sich zu den Anstrengungen des Studiums eben so gewöhnen, wie unser Herz zum Leiden. Die Vervollkommnung der Jugend steht zu der Arbeit in eben dem Verhältniß, wie die Vervollkommnung des reiferen Alters zu dem Schmerz. Es ist unstreitig zu wünschen, daß Eltern und Schicksal dieses doppelte Geheimniß nicht allzu sehr mißbrauchen; aber in allen Fächern des Lebens ist nur das von Wichtigkeit, was auf den Mittelpunkt der Existenz selbst hinwirkt, und man betrachtet das moralische Wesen zu sehr in Einzelnheiten. Ihr werdet mit Bildern, mit Charten euer Kind eine Menge Dinge lehren, nicht aber die Kunst zu lernen, und die Gewohnheit der Zerstreuung, die ihr auf die Wissenschaften hinleitet, wird bald einen anderen Lauf nehmen, wenn euer Kind nicht länger von euch abhängig ist. [138]

Also, gar nicht ohne Grund ist das Studium der alten und neueren Sprachen die Grundlage aller Erziehungsanstalten, welche die fähigsten Männer Europa's gebildet haben. Der Sinn einer Redensart in einer fremden Sprache ist zugleich ein grammatikalisches und intellectuelles Problem; und dieses Problem ist der Fassungskraft des Kindes ganz angemessen. Anfangs vernimmt es nur Wörter, dann erhebt es sich bis zum Verständniß der Redensart, und bald darauf macht sich dem übersetzenden Kinde der ganze Zauber des Ausdrucks – seine Stärke, seine Harmonie, kurz alles was sich in der Sprache der Menschen findet – allmählig fühlbar. Es versucht sich ganz allein mit den Schwierigkeiten, welche ihm zwei Sprachen zugleich darbieten; es führt sich allmählich in die Ideen ein, vergleicht und verbindet mehrere Arten von Analogien und Wahrscheinlichkeiten; und die freiwillige Thätigkeit des Geistes, sie, die die Fähigkeit zu denken allein wahrhaft entwickelt, wird durch dies Studium lebhaft gefördert. Die Zahl der Fähigkeiten, die es zu gleicher Zeit in Bewegung setzt, giebt ihm den Vorzug vor jeder anderen Arbeit, und man ist nur allzu glücklich, das biegsame Gedächtniß des Kindes zu Einsammlung von einer Art von Kenntnissen zu gebrauchen, ohne welche es sein ganzes Leben hindurch auf den Zirkel seiner eigenen Nation beschränkt seyn würde, der, wie alles Ausschließende, immer zu eng ist.

Das Studium der Grammatik erfordert dieselbe Folge, dieselbe Stärke der Aufmerksamkeit, wie die Mathematik; aber es ist dem Denken bei weitem näher verwandt. Die Grammatik verbindet die Ideen mit einander, wie der Calcul die [139] Zahlen in einander kettet; die grammatikalische Logik ist wohl eben so genau, wie die der Algebra, und doch findet sie ihre Anwendung auf alles, was in unserem Geiste lebendig ist; die Wörter sind zu gleicher Zeit Ziffern und Bilder; sie sind Sklaven und Freie, der Disciplin der Syntax unterworfen, und vermöge ihrer natürlichen Bedeutung allmächtig. Man findet also in der Metaphysik der Grammatik die Strenge des Raisonnements und die Unabhängigkeit des Gedankens mit einander vereinigt; alles ist durch Wörter gegangen und alles findet sich darin wieder, wenn man sie zu untersuchen versteht: die Sprachen sind unerschöpflich für das Kind, wie für den Mann, und Jeder kann daraus ziehen, was er braucht.

Die dem Geiste der Deutschen so natürliche Unpartheilichkeit bestimmt ihn zum Studium ausländischer Literaturen, und unter den Personen, die sich über die gemeine Classe erheben, findet man in Deutschland nur wenige, denen nicht mehrere Sprachen geläufig wären. Beim Austritt aus den Schulen weiß man gemeiniglich schon Latein, Griechisch sogar. „Die Erziehung der deutschen Universitäten, sagt ein französischer Schriftsteller, beginnt da, wo die Erziehung mehrerer Nationen von Europa aufhört.“ Nicht bloß sind die Professoren Männer von erstaunlicher Gelehrsamkeit, sondern, was sie vorzüglich auszeichnet, ist ein sehr gewissenhafter Unterricht. In Deutschland betreibt man alles gewissenhaft; und wahrlich, so muß es seyn. Wenn man den Lauf des menschlichen Schicksals untersucht, so wird man finden, daß der Leichtsinn zu allem Bösen von der Welt führen kann. Nur in der Jugend schließt der Leichtsinn einen Zauber in sich; es scheint, als ob der Schöpfer das Kind noch an der Hand halte, und es [140] über die Wolken des Lebens sanft hinführe; aber wenn die Zeit den Menschen sich selbst überliefert, so findet er nur noch im Ernste seiner Seele Gedanken, Gefühle und Tugenden.

 

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1) Einen Abriß davon kann man in dem Werke finden, das Herr Villers über diesen Gegenstand bekannt gemacht hat. Man findet Herrn Villers immer an der Spitze edler und großherziger Ideen, und er scheint durch die Anmuth seines Geistes und die Tiefe seiner Studien berufen, Frankreich in Deutschland, und Deutschland in Frankreich zu repräsentiren.