BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. I. Abtheilung.

 

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Zweiter Theil.

 

I. Abtheilung.

 

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Literatur und Kunst

(Fortsetzung.)

 

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Fünfzehntes Capitel.

 

Dramatische Kunst.

 

Das Theater übt eine große Herrschaft über die Menschen aus. Ein Trauerspiel, das die Seele erhebt, ein Lustspiel, das Sitten und Charactere schildert, wirkt auf das Gemüth des Volks fast eben so stark als eine wirkliche Begebenheit; aber um für die Bühne mit großem Erfolge schreiben zu können, muß man das Publikum studirt haben, für das man arbeitet, und die Motive aller Art kennen, auf welche es seine Meinung stützt. Die Menschenkenntniß ist dem dramatischen Schriftsteller eben so unentbehrlich als die Einbildungskraft; ohne die besondern Verhältnisse aus den Augen zu lassen, welche in die Zuschauer eingreifen, muß er sich zu Gefühlen von allgemeinem Interesse erheben. Ein Theaterstück ist die handelnd [2] aufgestellte Literatur: und das dazu erforderliche Genie nur deswegen so selten, weil es aus dem Auffassen der Umstände und der poetischen Begeisterung wunderbar zusammengesetzt seyn muß. Nichts wäre folglich ungereimter, als allen Nationen hier dasselbe System zur Bedingung machen zu wollen; wenn es darauf ankommt, die allgemeine Kunst dem Nationalgeschmack, die unsterbliche Kunst den Sitten der Zeit anzupassen, so sind wesentliche Nebenbestimmungen und Abweichungen unvermeidlich: daher die vielen verschiedenen Meinungen über das Wesen des dramatischen Talents; in allen übrigen Zweigen der Literatur herrscht weit mehr Uebereinstimmung im Geschmack.

Es läßt sich, dünkt mich, nicht leugnen, daß, unter allen Nationen, die Französische die meiste Gewandtheit in der Zusammenstellung der theatralischen Effecte besitze; ihr gebührt ebenfalls vor allen andern, der Vorzug der Würde in den Situationen und der Haltung im tragischen Stil. Aber, selbst wenn wir ihr diesen doppelten Vorzug einräumen, fühlen wir, daß minder vollkommen geordnete dramatische Werke tiefer erschüttern können; der Grundriß fremder Stücke ist nicht selten auffallender, kühner; spricht mächtiger, inniger zum Herzen, und tritt den Gefühlen näher, die uns oft persönlich ergriffen haben.

Den Franzosen macht alles leicht Langeweile, daher suchen sie in allem das langgesponnene zu vermeiden. Wenn der Deutsche das Schauspiel besucht, so geschieht es mehrentheils auf Kosten der Stunden, die er beim Spieltische würde durchgähnt haben, wo die Einförmigkeit der immer wiederkehrenden Glücksfälle bald ermüdet. Er ist froh, sich in seine Loge still hinsetzen zu können, und läßt dem Verfasser des Stücks gern [3] alle Zeit, die dieser braucht, die Ereignisse vorzubereiten, und die Charactere zu entwickeln: die französische Ungeduld würde solche Langsamkeit nicht gestatten.

Die deutschen Stücke gleichen gewöhnlich Gemälden alter Maler; die Physiognomien sind schön, ausdrucksvoll, in sich gekehrt; aber alle Figuren stehen auf demselben Grunde, bisweilen bunt durcheinander, bisweilen ruhig neben einander, wie auf den erhobenen Bildwerken der Alten, ohne für den Zuschauer in Gruppen vereinigt zu seyn. Die Franzosen sind, mit Recht, der Meinung, die Bühne, wie die Malerei, müsse den Gesetzen der Perspective unterworfen seyn. Besäßen die Deutschen in der dramatischen Kunst ein gewisses Geschick, sie würden es auch in allem übrigen haben; aber in keiner Gattung sind sie eines, selbst unschuldigen, Kunstgriffes fähig; ihr Verstand macht sich in gerader Linie Bahn; das absolut Schöne gehört in ihr Reich; aber die relativen Schönheiten, diejenigen, welche in der Kenntniß der Verhältnisse, in der Schnelligkeit der Mittel liegen, sind nicht immer im Bereich ihrer Geistesfähigkeit.

Es muß auffallen, daß unter diesen beiden Nationen es eben die Französische ist, welche im Ton der Tragödie den gehaltensten Ernst zur Hauptbedingung macht. Dieses erklärt sich aber grade durch die Lustigkeit der Franzosen; sie ist ihnen so natürlich, daß sie alles sorgfältig vermeiden, was im Trauerspiel dahin führen möchte: nicht so der unwandelbar ernste Deutsche; dieser beurtheilt ein Schauspiel immer nur im Ganzen, und wartet das Ende ab, um es zu loben oder zu tadeln. Die Eindrücke der Franzosen sind schneller; vergebens würde man sie vorher damit bekannt machen wollen, daß eine komische Scene eine tragische [4] Situation vorbereiten und heben soll; sie würden über die erste lachen, ohne die Wirkung der zweiten abzuwarten; jedes Einzelne muß für sie so interessant seyn, wie das Ganze; sie geben dem Vergnügen, das sie von den schönen Künsten erwarten, keinen Augenblick Credit.

Die Verschiedenheit der französischen und der deutschen Bühne läßt sich zwar durch die Verschiedenheit im Character beider Nationen erklären; aber an diese natürliche Eigenschaft schließen sich noch systematische Scheidewände, deren Grund wir aufsuchen müssen. Was ich schon oben von der classischen und romantischen Poesie gesagt habe, läßt sich auch auf die dramatische anwenden. Die aus der Fabel geschöpften Tragödien sind ganz anderer Natur, als die historischen; die mythischen Gegenstände waren so bekannt, von so allgemeinem Interesse, daß man sie nur angeben durfte, um die Einbildungskraft im Voraus in Anspruch zu nehmen. Das ausgezeichnet poetische in den griechischen Trauerspielen, die Dazwischenkunft der Götter, die Einwirkung des Fatums, macht ihren Gang weit leichter; das Detail der Motive, die Entwickelung der Charactere, die Verschiedenheit der Thatsachen ist weniger nothwendig, wo das Ereigniß sich durch eine übernatürliche Macht erklärt; ein Wunder kürzt alles ab. Eben deswegen ist auch die tragische Handlung bei den Griechen bewundernswürdig einfach; die darin vorkommenden Begebenheiten werden mehrentheils in der ersten Scene vorausgesehen, ja vorher verkündigt; eine griechische Tragödie ist eine religiöse Ceremonie. Das Schauspiel wurde den Göttern zu Ehren gegeben; Hymnen, vom Dialog und von Erzählungen unterbrochen, stellten die Götter bald [5] gnädig bald strafend, und das Schicksal beständig über das Leben der Menschen waltend auf.

Als aber diese Mythen auf die französische Bühne gebracht wurden, gaben unsre großen Dichter ihnen mehr Mannigfaltigkeit, vermehrten die Zwischenfälle, bereiteten die Ueberraschungen vor, schürzten den Knoten fester. Freilich mußte auf irgend eine Weise das religiöse Nationalinteresse ersetzt werden, welches die Griechen an ihre Stücke fesselte, und wir mit ihnen nicht theilen konnten. Hierin gingen wir aber zu weit; damit nicht zufrieden, die griechischen Stücke lebendiger zu machen, liehen wir den Personen des Alterthums unsre Sitten, unsre Gefühle, die neuere Politik, die neuere Liebeskunst. Eben deswegen können so viel Ausländer keinen Sinn für die Bewunderung haben, die wir unsern tragischen Meisterwerken zollen. Und in der That, sobald man sie in einer fremden Sprache wiederholen hört, sobald sie von der magischen Schönheit des Stils entblößt sind, muß man sich über die wenige Rührung, die sie hervorbringen, und über so manchen Uebelstand wundern, der in ihnen liegt; denn was sich weder mit den Sitten der laufenden Zeit, noch mit den Nationalsitten derer, die man darstellt, verträgt, gehört doch wohl zu den Uebelständen? oder ist nur das lächerlich, was den Franzosen nicht ähnlich ist?

Die Trauerspiele griechischen Ursprungs verlieren nichts dabei, daß man sie der Strenge der französischen Regeln unterwerfe; wollten wir aber in Frankreich, wie in England, ein historisches Theater haben; wollten wir an unsern Erinnerungen Interesse, in unsrer Religion Rührung finden, wie wäre es dann noch möglich, sich, einerseits, streng an die drei Einheiten zu binden, und andererseits, [6] dem Prunke anzuhängen, den man sich in unsern Tragödien zum Gesetze gemacht hat?

Die Frage der drei Einheiten ist so abgenutzt, daß man kaum noch ein Wort darüber verlieren darf; gleichwohl ist, von diesen drei Einheiten, nur die eine wesentlich; die der Handlung: die beiden andern sind ihr untergeordnet. Wenn aber die Wahrheit der Handlung unter der kindischen Nothwendigkeit leidet, sich an den Ort und an die Zeit von vierundzwanzig Stunden zu binden, so heißt, diese Nothwendigkeit auferlegen, nichts mehr und nichts weniger, als dem dramatischen Genie einen Zwang auflegen, demjenigen gleich, der den Dichter verdammen würde, alles in Acrostichen zu schreiben: ein Zwang, der in beiden Gattungen das Wesen der Kunst der Form aufopfert.

Von unsern großen tragischen Dichtern, ist Voltaire derjenige, der am öftersten moderne Gegenstände bearbeitet hat. Um den Zuschauer zu rühren, nahm er seinen Stoff aus der Geschichte des Christenthums und der Ritterzeit, und will man ehrlich seyn, so wird man zugeben müssen, daß bei den Vorstellungen von Alzire, Tancred, Zaire mehr geweint wird, als bei allen griechischen und römischen Meisterstücken unsrer Bühne. Mit einem sehr untergeordneten Talent, ist es Dübelloy [Pierre Laurent Buirette de Belloy?] gleichwohl gelungen, auf der französischen Bühne französische Erinnerungen zu wecken, und obschon ihm die Kunst des Stils fehlt, findet man doch in seinen Trauerspielen ein Interesse, dem gleich, welches die Griechen empfinden mußten, wenn sie die großen Züge aus ihrer Geschichte dargestellt hatten. Welchen Vortheil könnte das Genie aus einer solchen Stimmung ziehen? Gleichwohl giebt es in den letzten Zeitaltern unsrer Geschichte, kaum eine einzige Begebenheit, deren Handlung an einem [7] Tage, oder an einem Orte vor sich gehen konnte; die Verwickelung der bürgerlichen Ordnung der Dinge bringt weit mehr Verschiedenheit in die Ereignisse; eine zartere Religion flößt weit zartere Gefühle ein; Gemälde, die unsrer Zeit näher stehen, müssen weit mehr Wahrheit in der Sittenschilderung beobachten: dieses alles zusammengenommen zwingt uns, zu unsern dramatischen Arbeiten einen größern Maaßstab anzunehmen.

Wir finden in den neuesten Zeiten ein Beispiel, wie schwer es hält, in Gegenständen aus der neuern Geschichte der dramatischen Orthodoxie treu zu bleiben. Die Templer des Herrn Raynouard sind ohne Zweifel eines der lobenswürdigsten Werke, die seit lange erschienen: ist es aber dabei nicht immer befremdend und seltsam, daß der Verfasser sich in der Nothwendigkeit befand, den Orden der Templer binnen vierundzwanzig Stunden, anklagen, richten, verdammen und verbrennen lassen zu müssen? Die Revolutionstribunale wußten sich zu fördern: aber bei allem ihren schrecklich-guten Willen hätten sie doch mit keinem französischen Trauerspiele Schritt halten können. Es würde mir ein leichtes seyn, die Unschicklichkeiten zu zeigen, die aus der Beobachtung der Einheit der Zeit für die meisten unserer Tragödien aus der neuern Geschichte erwachsen sind; aber dies eine Beispiel, vorzugsweise ausgesucht, reicht hin, meinen Satz zu beweisen.

In Raynouards schönem Trauerspiel findet man übrigens eines der erhabensten Worte, welche je auf der Bühne erschallten. Im letzten Auftritte des Stücks wird erzählt: die Templer hätten auf dem Scheiterhaufen Psalmen gesungen: ein Bote vom Könige gesandt, sey herbeigeeilt, ihnen Gnade anzukündigen: aber [8]

 

Es war zu spät: verstummt war der Gesang.

 

Mit dieser Wendung sagt uns der Dichter, daß die edlen Märtyrer schon in den Flammen umgekommen waren. In welcher heidnischen Tragödie ließe sich ein ähnliches Gefühl auf solche Weise ausdrücken? und warum sollten die Franzosen auf der Bühne alles, was mit ihnen, ihren Vorfahren, ihrem Glauben in so enger Verbindung, in so wahrhafter Harmonie steht, entbehren müssen?

Die Franzosen halten die Einheit des Orts und der Zeit für ein unerläßliches Bedingniß der theatralischen Täuschung: die übrigen Nationen setzen diese Täuschung in die Schilderung der Charactere, in die Wahrheit der Sprache, in die genaue Beobachtung der Sitten, der Zeit und des Landes, die sie darzustellen haben. Man muß sich vor allen Dingen über das, was man Täuschung in den Künsten nennt, einverstehen lernen; und da wir gefällig genug sind zu glauben, daß Schauspieler auf erhöheten Brettern, in einer Entfernung von einigen Ruthen, griechische Helden sind, die vor dreitausend Jahren lebten und starben, so ist wohl klar, daß man unter Täuschung sich nicht denken darf, was man sehe sey wirklich da; eine Tragödie kann nur durch die Rührung, die sie in uns hervorbringt, Wahrheit erlangen. Wenn nun als Folge der dargestellten Umstände, die Rührung durch die Veränderung des Orts, durch die Verlängerung der Zeiten gewinnt, so gewinnt ja auch die Täuschung an Stärke.

Man findet es unrecht, daß Voltaire's schönste Trauerspiele, Zaire und Tancred, auf bloßen Mißverständnissen beruhen; wie ist es aber möglich, seine Zuflucht nicht zu Behelfen der Intrigue zu nehmen, wenn der zur Entwickelung gegebene Raum so beengt [9] ist? Der dramatische Künstler wird dadurch zum Tausendkünstler herabgewürdigt, und um sich mit den größten Ereignissen durch alle diese kleinen Zwangsgesetze durchzuwinden, bedarf es einer Taschenspieler-Gewandtheit, mit deren Hülfe allein man den Zuschauern die Gegenstände unter den Augen wegstiehlt.

Die historischen Stoffe fügen sich noch weniger als die reinen Dichtungen, in das Gesetz der drei Einheiten; die tragische Etikette, die auf unsrer Bühne so tyrannisch herrscht, widersetzt sich den Schönheiten, die sich in die Bearbeitung von Stücken aus der neuern Geschichte legen ließen.

Es giebt in den Rittersitten eine Einfalt der Sprache, eine Naivheit der Gefühle von unendlichem Reiz; aber weder dieser Reiz, noch das Pathetische, welches aus dem Contrast gewöhnlicher Lebens-Begebenheiten und starker Eindrücke entspringt, darf in unsern Tragödien Platz finden: hier muß alles, wie die tragische Muse, königlich seyn; und gleichwohl hänqt das malerische Interesse des Mittelalters mit jenen bunten Scenen und Characteren zusammen, aus welchem unsre Troubadours in ihren Romanen so rührende Gemählde zusammengesetzt haben.

Der hohe Gang der Alexandriner steht noch mehr, als der Schlendrian des guten Geschmacks, jeder Veränderung im Wesen und in der Form der französischen Trauerspiele im Wege. In Alexandrinern läßt sich das Gemeine nicht auf die gemeine Weise sagen: trete ich ein oder ab, will ich schlafen oder aufwachen, so muß ich eine poetische Wendung suchen; und so geschah es, daß eine Menge Gefühle und Wirkungen aus unsern Trauerspielen verbannt wurden, nicht, weil die Regeln des Trauerspiels, sondern weil die Erfordernisse [10] des Versbaues sie ausschlossen. Racine ist der einzige französische Dichter, der im Auftritte Athalia's mit Joas, sich über diese Schranken hinweggesetzt, und der Sprache eines Kindes eine eben so edle als natürliche Einfalt gegeben hat; aber das einzelne bewundernswürdige Anstreben eines Genies ohne Gleichen reicht nicht zu, die vielen Schwierigkeiten der Kunst wegzuräumen, die nur zu oft den glücklichsten Dichtungen im Wege stehen.

In einer mit Grund allgemein bewunderten Vorrede zu seinem Trauerspiel Wallenstein, bemerkt Herr Benj. Constant, daß die Deutschen in ihren Stücken die Charactere, die Franzosen hingegen die Leidenschaften schildern. Um Charactere zu zeichnen, muß man nothwendig von dem majestätischen Tone abweichen, der in der französischen Tragödie allein gehört werden darf; denn es ist, unmöglich, die Fehler und Eigenschaften eines Mannes anders aufzustellen, als wenn man ihn selbst in verschiedenen Verhältnissen auftreten läßt; das Gemeine in der Natur fließt oft mit dem Erhabenen zusammen, hebt bisweilen sogar die Wirkung des Erhabenen heraus; und überdies erfordert die Entwickelung eines Characters einen etwas längeren Zeitraum; in vierundzwanzig Stunden läßt sich eigentlich nichts als eine Catastrophe erwarten. Man wird mir vielleicht einwenden, die Bühne sey mehr für die Catastrophen als für nüanzirte Gemählde geeignet; freilich gefällt eine durch lebhafte Leidenschaften erregte Bewegung dem größern Theile der Zuschauer mehr, als die Aufmerksamkeit, die das Studium des menschlichen Herzens erfordert. Hier kann bei der Mehrheit der dramatischen Systeme, der Nationalgeschmack allein entscheiden: so viel aber muß man zugeben, daß, wenn andre Nationen die dramatische Kunst unter [11] einen andern Gesichtspunkt fassen, als wir, es keinesweges eine Folge der Unwissenheit, der Barbarei, sondern das Resultat tiefer Beobachtungen ist, welche allerdings beherzigt zu werden verdienen.

Shakespear, den wir so gern einen Wilden schelten möchten, hat vielleicht einen zu philosophischen Geist, einen zu spitzfindigen Scharfsinn in die Ansicht der Bühne gebracht; er beurtheilt die Charactere mit der Unparteilichkeit einer höhern Intelligenz, stellt sie bisweilen mit einer fast machiavellischen Ironie auf; in seinen Zusammensetzungen liegt eine solche Tiefe, daß durch das schnelle Treiben der theatralischen Handlung ein großer Theil der in ihnen enthaltenen Ideen verloren gehen muß. In dieser Hinsicht, ist es besser seine Stücke zu lesen, als sie aufführen zu sehen. Bei seiner Ueberfülle an Witz, läßt Shakespear nicht selten das Feuer der Handlung erkalten. Die Franzosen verstehen sich besser darauf, die Personen, wie die Decorationen, mit großen Pinselstrichen zu malen, die aus der Ferne [w]irken. – Was? wird man sagen, wie könnte man Shakespear Schuld geben, er male zu fein, er, der sich so schauderhafte Situationen erlaubt hat? Aber Shakespear vereinigt oft in sich entgegengesetzte Eigenschaften und selbst entgegengesetzte Fehler, steht bald diesseits, bald jenseits der Gränzlinie der Kunst, kennt aber das menschliche Herz noch mehr als die Bühne.

In den Dramen, den komischen Opern, den Lustspielen, entwickeln die Franzosen einen Scharfsinn, eine Grazie, die sich, in diesem Grade, nur in ihnen findet; von einem Ende Europa's bis zum andern, werden diese Stücke allgemein übersetzt und gespielt: nicht so, ihre Tragödien. Die strengen Regeln, denen man sie unterwirft, zeichnen [12] ihnen mehr oder weniger einen so engen Kreis vor, daß sie der Vollkommenheit des Stils schlechterdings bedürfen, um bewundert werden zu können. Wollte man in Frankreich, in einem Trauerspiele, irgend eine Neuerung wagen, so würde es gleich von allen Seiten heißen: es ist keine Tragödie, es ist ein Melodram. Wäre es aber nicht der Mühe werth, zu untersuchen, weswegen die Melodramen so vielen Leuten gefallen? In England finden alle Classen Vergnügen an Shakespears Stücken. Unsre schönsten Tragödien hingegen haben kein Interesse für den gemeinen Mann; unter dem Vorwande eines zu reinen Geschmacks, einer zu zarten Empfindung, um sich gewissen Erschütterungen hingeben zu können, theilt man bei uns die Kunst in zwei Theile; die schlechten Stücke enthalten rührende Situationen, in nachläßigen Reimen vorgetragen; die schönen Stücke liefern in bewundernswürdigen Versen, würdevolle, aber eben deswegen oft kalte, steife Situationen. Wir besitzen nur eine überaus kleine Anzahl von Tragödien, welche die Einbildungskraft aller Menschen, aus allen Classen, zugleich erschütterten.

Die Bemerkungen, die ich mir hier erlaube, haben keineswegs zur Absicht, gegen unsre großen Meister den geringsten Tadel zu äußern. Mögen immerhin in den Stücken der Ausländer einzelne Auftritte lebhaftere Wirkungen hervorbringen; dennoch läßt sich mit dem bedeutsam auftretenden, in einander greifenden Ganzen unsrer dramatischen Meisterwerke nichts in Vergleichung bringen; die Frage ist bloß, ob, wenn man sich, wie bisher geschah, auf ihre Nachahmung beschränkt, jemals neue Meisterstück hervorgehen werden? Im Leben darf nichts stillständig seyn; die Kunst wird zu Stein, sobald sie nicht in Bewegung bleibt. Eine [13] zwanzigjährige Revolution hat der Einbildungskraft andre Bedürfnisse mitgetheilt, als die sie zur Zeit Crebillons und seiner Romanenschilderungen der Liebe und der Gesellschaft kannte. Die griechischen Stoffe sind erschöpft; einem einzigen Dichter, Lemercier, ist es gelungen, in einem antiken Felde neue Lorbeern einzuernten, und den Agamemnon zu schreiben; aber des Jahrhunderts natürliche Ten[d]enz ist das historische Trauerspiel.

In den Begebenheiten, welche Nationen interessiren, ist alles Trauerspiel; und das unermeßliche Drama, welches seit sechstausend Jahren vom Menschengeschlecht aufgeführt wird, würde dem Theater unzählig reichhaltige Stoffe liefern, sobald der dramatischen Kunst mehr Freiheit verstattet wäre. Die Regeln sind der bloße Wegweiser des Genies; sie sagen ihm bloß: hier sind Corneille, Racine, Voltaire durchgekommen. Wozu aber, wenn man nur das Ziel erreicht, über die Wege klügeln und meistern? und ist dieses Ziel nicht die Rührung des Gemüths durch Veredlung?

Die Neugier ist eines der großen Triebräder der Bühne; gleichwohl bleibt das Interesse, das die Tiefe des Affects hervorbringt, das einzig unerschöpfliche. Man gewinnt Sinn für die Poesie, die den Menschen dem Menschen offenbart; man sieht mit Theilnahme, wie das Geschöpf nach unserm Bilde gegen das Leiden ankämpft, unterliegt, den Sieg davon trägt, unter der Gewalt des Schicksals dahinsinkt und wieder emporsteigt. In einigen unserer Trauerspiele stößt man auf eben so gewaltsame Lagen als in englischen oder deutschen; nur sind diese Lagen nicht in ihrer ganzen Stärke dargestellt; oft hat man mit Bedacht, aus Affectation, die Wirkung einer Situation gemildert oder besser zu sagen, vermischt. Höchst selten tritt man [14] aus einer conventionellen Natur heraus, die das Recht zu haben glaubt, die Sitten der Alten, wie die Sitten der Neuern, mit denselben Farben auszumalen, das Verbrechen wie die Tugend, den Mord wie die Galanterie zu behandeln. Diese Natur ist schön und mit Auswahl geschmückt; wird aber am Ende zur Last; und das Bedürfniß, sich in tiefere Geheimnisse zu stürzen, muß das Genie unwiderstehlich ergreifen.

Es wäre daher sehr zu wünschen, man könnte den Umkreis durchbrechen, den Abschnitt und Reim um die Kunst gezogen haben; es wird nöthig, mehr Freiheit zu gestatten, mehr Kenntniß der Geschichte zu fordern; denn wollte man sich fortdauernd und ausschließlich an immer matter werdende Nachbildungen einiger Meisterwerke halten, so würde man zuletzt nur Heldenschaupuppen auf der Bühne sehen, die der Pflicht die Liebe aufopfern, der Sclaverei den Tod vorziehen, in ihren Handlungen, wie in ihren Reden, von der Antithesenwuth ergriffen werden, aber mit dem wundernswürdigen Geschöpfe, das man den Menschen nennt, eben so wenig gemein haben, als sie mit dem furchtbaren Schicksal, das dieses Wesen abwechselnd mit sich fortreißt und verfolgt, in Verbindung stehen.

Die Fehler der deutschen Schaubühne sind leicht bemerkbar; denn in den Künsten wie in der Gesellschaft, fällt alles, was mit dem Mangel an Weltgebrauch im Zusammenhange steht, selbst oberflächlichen Gemüthern in die Augen; da es im Gegentheil nothwendig ist, um die Schönheiten zu fühlen, die aus der Seele entspringen, bei der Abschätzung der Werke, die uns vorgelegt werden, mit einer Art von Gutmüthigkeit zu Werke zu gehen, die mit einer höhern Uebersicht vollkommen vereinbar [15] ist. Das Spotturtheil ist nicht selten ein gemeines Gefühl, das sich die Stirn der Unverschämthett giebt. Die Fähigkeit hinter allen Falten und Geschmacksfehlern in der Literatur, wie hinter allen Absprüngen im Leben, die wahre Größe eines Kunstwerks und eines Menschen herauszufinden; – diese Fähigkeit ist die einzige, die dem kritischen Richter Ehre macht.

Indem ich hier ein Theater bekannter mache, dessen Grundsätze von den unsrigen so gar abweichen, bin ich fern, behaupten zu wollen, diese Grundsätze seyen die bessern, und noch weniger, man müsse sie in Frankreich befolgen; nur so viel ist ausgemacht: fremde Combinationen können zu neuen Ideen Anlaß geben; und wenn man sieht, von welcher Dürre unsre Literatur bedroht wird, ist der Wunsch ziemlich natürlich, daß es unsern Literatoren gefallen möge, die Gränzen ihrer Laufbahn etwas weiter abzustecken, und auch ihrerseits in dem Gebiete der Einbildungskraft Eroberungen zu machen. Sollte es den Franzosen schwer dünken, einem Rathe, wie diesem, Gehör zu geben?