BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. I. Abtheilung.

 

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Zwei und zwanzigstes Capitel.

 

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Iphigenia in Tauris. Torquato Tasso.

 

Man gab in Deutschland bürgerliche Dramen, Melodramen, eigentliche Schauspiele, d. i. Spectakelstücke mit Pferden und Ritteraufzügen. Göthe nahm sich vor, die Literatur seiner Landsleute auf die Strenge des Alterthums zurückzuführen, und schrieb seine Iphigenia in Tauris, das Meisterwerk der klassischen Poesie in Deutschland. Diese Tragödie erinnert an das Gefühl, das uns beim Anblick griechischer Statuen ergreift; die Handlung ist so ehrwürdig, so ruhig, daß selbst bei veränderter Lage der Personen, eine Beständigkeit der Würde in ihnen zurückbleibt, die jeden Augenblick dauerhaft ins Andenken gräbt.

Der Inhalt der Iphigenia in Tauris war so bekannt, daß es unendlich schwer seyn mußte, ihn auf eine neue Art zu behandeln; Göthen ist es vornehmlich dadurch gelungen, daß er seiner Heldin einen wahrhaft bewundernswürdigen Charakter gegeben. Die Antigone des Sophocles ist eine Heilige, wie sie uns eine neuere Religion als die der Alten aufstellen würde. Goethens Iphigenia hat nicht weniger Ehrfurcht für die Wahrheit als Antigone; sie vereinigt aber die Ruhe des philosophischen Geistes mit der Inbrunst einer Priesterin; [120] der keusche Dienst der Diana und die geweihte Schutzwehr eines Tempels füllen die träumende Existenz aus, die ihr die Sehnsucht nach ihrem fernen Vaterlande übrig läßt. Sie will die Sitten des wilden Landes, das sie aufnahm, milder machen; und obschon ihr Name unbekannt ist, streut sie Wohlthaten um sich aus, wie es sich für die Tochter des Königs der Könige ziemt. Gleichwohl wird sie es nicht müde, sich nach den schönen Gegenden zurück zu sehnen, wo sie ihre Kindheit durchlebte, und ihr Gemüth ist der Sitz einer zugleich sanften und starken Ergebung, die, so zu sagen, zwischen dem Christenthum und dem Stoicismus in der Mitte steht. Iphigenia gleicht einigermaßen der Göttin, deren Priesterin sie ist; die Einbildungskraft glaubt sie von einer Wolke umhüllt zu sehen, die ihr den Anblick ihres Vaterlandes raubt. Konnte wohl die Verbannung, und, was noch mehr ist, die Verbannung aus Griechenland, ihr sonst einen Genuß übrig lassen, als den sie in sich selbst fand? Auch Ovid, gezwungen wie sie, ohnweit Tauris sein Leben zu verhauchen, richtete umsonst seine harmonische Rede an die rauhen Einwohner dieser freudenlosen Gegenden; umsonst suchte er die Künste auf, umsonst einen schönen Himmel, und jene Sympathie der Gedanken, die uns, selbst mit Unbekannten, einen Theil der Seligkeit empfinden läßt, die die Freundschaft gewährt. Sein Genie, von allen zurückgestoßen, kehrte immer in sich heim, und seine aufgehauene Leier athmete nur Klagetöne, im traurigen Einklang mit dem Nordwind.

Kein neueres Werk schildert, dünkt mich besser, als Göthe's Iphigenia, das Schicksal, welches auf Tantalus Geschlecht lastet, und die Würde aller, dieses Geschlecht verfolgenden, und von einem unüberwindlichen [121] Fatum herbeigeführten Leiden. Eine religiöse Furcht faßt den Zeugen bei dieser ganzen Geschichte, und die Personen selbst, die in demselben auftreten, scheinen eine prophetische Sprache zu führen, und nur von der allmächtigen Hand der Götter geleitet, zu handeln.

Göthe hat Thoas zum Wohlthäter Iphigeniens gemacht. Ein wilder König, wie viele Schriftsteller ihn schildern, würde nicht zur Farbe des übrigen Stücks gepaßt, würde die Harmonie des Ganzen gestört haben. In den meisten Tragödien, wird ein Tyrann wie ein Hebel aufgestellt, der das ganze Werk in Bewegung setzt; ein Denker wie Göthe, würde nie eine Person haben aufführen können, ohne zugleich seinen Charakter zu entwickeln. Nun aber ist ein bösartiges Gemüth ein so zusammengesetztes Wesen, daß es in einem einfachen Stoff, wie Iphigenia, nicht Platz finden konnte. Thoas liebt Iphigenien; er kann sich nicht entschließen, sie mit ihrem Bruder Orest nach Griechenland ziehen zu lassen. Iphigenia hätte heimlich abreisen können; sie prüft mit ihrem Bruder und mit sich selbst, ob sie sich diesen Betrug erlauben darf, und hierin liegt der Knoten der zweiten Hälfte des Stücks. Endlich gesteht sie Thoas die Wahrheit, bekämpft seinen Widerstand, besiegt ihn in so weit, daß sie von ihm das Wort Lebtwohl! erhält, worauf der Vorhang fällt.

Der Plan dieses Stücks kann nicht gediegener und edler seyn, und es wäre zu wünschen, daß man es so weit brächte, die Zuschauer bloß durch die Darstellung einer zarten Bedenklichkeit zu rühren; allein, von der Bühne läßt sich dieses schwerlich erwarten, und daher kommt es, daß man das Stück lieber lieset als aufführen sieht. In dieser Tragödie ist die Bewunderung, nicht der Affect die [122] Triebfeder; man glaubt einen Gesang aus einem epischen Gedichte zu hören; die Ruhe, die im Ganzen vorwaltet, ist so ansteckend, daß sie beinahe auf Orestes Gemüth wirkt. Die Erkennungsscene zwischen Bruder und Schwester ist vielleicht nicht so lebhaft, aber gewiß poetischer als jede ähnliche. Die Schicksale der Familie Agamemnons sind auf eine bewundernswürdige Weise aufgestellt, und man glaubt, eine Reihe von Gemälden vor Augen zu haben, womit Geschichte und Fabel das Alterthum bereicherten. Ein neues Interesse entspringt aus der schönen Sprache und den hohen Gesinnungen, die im Stücke walten. Eine so erhabene Poesie wiegt die Seele in eine edle Anschauung, und macht ihr die Bewegung und die Abwechselungen des dramatischen Lebens beinahe entbehrlich.

Unter den vielen schönen, merkwürdigen Stellen, die man in der Iphigenia antrift, befindet sich eine, die einzige in ihrer Art. In ihrem Schmerze ruft Iphigenia einen alten Gesang in ihr Gedächtniß zurück, der in ihrer Familie bekannt war, und ihr von der Amme schon bei der Wiege vorgesungen worden; es ist das Lied, das die Parzen dem Tantalus in dem Hades singen. Sie erinnern ihn an die vergangene[n] Zeiten, als ihm die Ehre zu Theil ward, an der goldnen Tafel der Götter als Gast zu sitzen. Sie malen den entsetzlichen Augenblick, wo er vom Throne gestürzt, die ewige Strafe, die ihm auferlegt wurde, die Ruhe der unsterblichen Gebieter der Welt, deren Gemüth die Qualen der Hölle nicht erreichen; die drohenden Parzen verkünden Tantalus Nachkommen, daß sich die Götter von ihnen abwenden werden, weil ihre Züge den Zügen ihres Ahnherrn gleichen. Der alte Tantalus hört den Gesang in der ewigen Nacht, denkt an seine Kinder, und senkt sein strafbares [123] Haupt. Die treffendsten Bilder, der mit jedem Gefühl zusammenstimmende Rythmus, alles giebt dieser Dichtung die Farbe eines Nationalgesangs. Darin besteht die größte Kraftäußerung des Talents, daß man sich mit dem Alterthum so vertraut machen könne, daß man zugleich alles auffange und festhalte, was bei den Griechen volksthümlich war, und nach einem so großen Zwischenraum von Jahrhunderten, einen so feierlichen Eindruck hervorbringt.

Die Bewunderung, die man der Iphigenia von Tauris unmöglich versagen kann, steht keinesweges im Widerspruch mit dem, was ich von dem lebhaftern Interesse, von der innigeren Rührung gesagt habe, die man bei neuern Stoffen und Darstellungen empfinden kann. Die Sitten und Religionen, deren Spur Jahrhunderte verwischt haben, stellen den Menschen als ein Ideal auf, welches die Erde, auf welcher es sich bewegt, kaum berührt; aber in Zeitabschnitten und historischen Begebenheiten, deren Einfluß sich bis zu uns erstreckt, fühlen wir die Wärme unserer eigenen Existenz, und verlangen eben die Affecte von außen, die wir in uns empfinden.

Es scheint mir aus diesem Grunde, als hätte Göthe in seinem Torquato Tasso, nicht eben die Einfalt der Handlung, nicht eben die Ruhe der Rede annehmen sollen, die sich für seine Iphigenia schickte. In einem so modernen Stoff könnte diese Einfalt und Ruhe leicht für Kälte und Mangel an Natürlichkeit gelten; denn daß der persönliche Charakter des Tasso, und das Leben am Hofe zu Ferrara nicht in jeder Hinsicht zur neuen Geschichte gehören, wird man mir nicht einwenden wollen.

Göthe wollte in seinem Tasso den zwischen dem poetischen und dem geselligen Leben bestehenden [124] Gegensatz malen; er wollte einen Poeten und einen Weltmann gegeneinander aufstellen. Er hat den Nachtheil dargethan, der aus dem Schutz eines Fürsten für die zarte Einbildungskraft eines Dichters entsteht, selbst wenn dieser Fürst sich überzeugt hält, er liebe Wissenschaft und Kunst, oder wenigstens seinen Stolz darin setzt, für ihren Liebhaber und Bewunderer zu gelten. Die freifliegende, von der Poesie ausgebildete Natur, im Gegensatz mit der von der Politik abgekühlten und gezügelten, ist eine Mutteridee, aus welcher tausend Töchterideen entspringen.

Ein schöner Geist, ein Genie, an den Hof berufen, muß sich anfangs glücklich schätzen und an seinen Platz dünken; muß aber, mit der Länge der Zeit, nothwendig manche der Widerwärtigkeiten empfinden, die Tasso's Leben so ungemein verbitterten. Ein Talent, welches sich durch das Hofleben bändigen und einschnüren ließe, würde aufhören, Talent zu seyn. Gleichwohl ist es äußerst selten, daß Fürsten die Rechte der Phantasie anerkennen, und sich zugleich darauf verstehen, diese Geistesgabe zu achten und schonend mit ihr umzugehen. Man konnte keinen glücklichern Gegenstand wählen als Torquato Tasso in Ferrara, um zugleich die verschiedenen Charaktere eines Dichters, eines Hofmanns, einer Prinzessin, eines Prinzen aufzustellen, und sie in einen engen Kreis zu bannen, wo sich jeder von ihnen mit eben der zähen Eigenliebe herumtummelt, womit andere suchen würden, die Welt aus den Angeln zu heben. Tasso's kränkelnde Empfindlichkeit ist bekannt, eben so bekannt wie die rauhe abstoßende Höflichkeit seines Gönners Antonio, der bei allen Betheurungen der hohen Bewunderung, die er für seine Schriften habe, ihn dennoch ins Irrhaus sperren [125] ließ; als wenn das Genie, das aus der Seele stammt, wie ein mechanisches Talent behandelt werden könnte, woraus man Nutzen schöpft, und das man schätzen kann, ohne den Besitzer zu achten.

Leonore von Este, des Herzogs von Ferrara Schwester, die der Dichter heimlich liebt, wird von Göthe als ein Weib geschildert, das ihre Wünsche ins Land des Enthusiasmus versetzen, das aber durch ihre Schwäche in das der Klugheit zurückgerufen wird. Auch hat Göthe einen Hofmann eingeführt, der die Weisheit der Welt besitzt, und Tasso'n mit jener vornehmen Hoheit begegnet, die der Geschäftsgeist sich über das poetische Genie anmaßt, ihn durch seine berechnete Kälte und durch die Geschicklichkeit reizt, womit er ihm wehe thut, ohne ihn eigentlich beleidiget zu haben. Dieser kaltblütige Mann bleibt dadurch im Vortheil, daß er seinem Feinde mit trockenen feierlich-höflichen Reden entgegen kommt, die ihn unsichtbar und auf eine Weise verletzen, worüber er nicht Beschwerde führen darf. Eben dieses sind die empfindlichen Streiche, die eine gewisse Weltkunst zu versetzen versteht; in diesem Sinne ist zwischen der Redekunst und der Kunst zu reden ein großer Unterschied; um beredt zu seyn, muß man die Wahrheit von allen ihren Fesseln befreien, und bis in das innerste Gemüth dringen, wo die Ueberzeugung ihren Sitz hat; die Redegeschicklichkeit hingegen besteht in der Kunst auszuweichen, in dem Talent, mit Hülfe einiger Sätze dem, was man nicht hören will, gehörig aus dem Wege zu gehen; in der Fertigkeit, sich derselben Waffen zu bedienen, um alles anzudeuten, ohne daß man uns jemals beweisen könne, wir haben dieses oder jenes gesagt.

Dergleichen Fechterstreiche sind jedem lebhaften, [126] wahrhaften Gemüthe äußerst empfindlich. Derjenige, der sie anbringt, scheint uns überlegen zu seyn, weil er uns in Bewegung setzt, während er selbst ruhig bleibt; man lasse sich aber nicht durch diese negative Kraft irre machen. Nur diejenige Ruhe ist schön, welche aus der Kraftfülle entsteht, die uns unsre eigne Leiden ertragen hilft; entsteht sie aber aus der Gleichgültigkeit gegen fremde Leiden, so wird sie zur vornehmen Persönlichkeit, die alles andre verachtet, herabgewürdigt. Es bedarf nur eines einjährigen Aufenthalts an einem Hofe, in einer Hauptstadt, um es mit leichter Mühe so weit zu bringen, daß man in de[n] Egoismus, Gewandtheit, und sogar Anmuth und Grazie lege; um sich aber einer tiefen Hochachtung wahrhaft würdig zu machen, müßte man in sich, wie in einem schönen Werke, entgegengesetzte Eigenschaften vereinigen, nämlich die Kenntniß der Geschäfte und die Liebe des Schönen; die Weisheit, die wir zu unsern Verhältnissen mit den Menschen bedürfen, und den Aufflug, den das Gefühl für die Künste vorzeichnet. Freilich würde ein solches einzelnes Wesen zwei Wesen enthalten; und Göthe selbst sagt in seinem Tasso: die beiden Personen, die er contrastiren lasse, der Politiker und der Dichter, seien die beiden Hälften des Menschen. Nur kann zwischen diesen beiden Hälften keine Sympathie bestehen, weil Tasso's Character ohne Klugheit, so wie Antonio's, ohne Empfindung ist.

Die kranke Empfindlichkeit, der gereizte Argwohn der Schriftsteller und Dichter hat sich in Rousseau, im Tasso gezeigt, und zeigt sich noch häufiger in der deutschen Gelehrtenrepublik. Die französischen Autoren sind weniger empfänglich. Wer viel mit sich selbst und in der Einsamkeit lebt, verträgt die äußere Weltluft nicht gut. Die [127] Gesellschaft hat, wie die Luft, manches rauhe für den, der ihrer nicht von Jugend auf gewohnt ist; Ironie und der Spott der Welt sind für den talentvollen Mann verderblicher als für jeden andern; der Geistvolle allein weiß sich derselben zu erwehren. Göthe hätte Rousseau's Leben zum Text oder Muster jenes Kampfes wählen können, zwischen der Gesellschaft wie sie ist, und der Gesellschaft, wie ein poetischer Kopf sie sucht oder wünscht; aber Rousseau's Lage hätte seiner Einbildungskraft weit weniger Stoff dargeboten, als Tasso's Geschichte. Rousseau hat sich mit einem großen Genie durch niedere Verhältnisse bewegen und schleppen müssen. Tasso hingegen, brav wie seine Ritter, verliebt, geliebt, verfolgt, gekrönt, und noch jung am Vorabend seines Triumphs dahinsterbend, Tasso ist ein Beispiel des größten Glanzes und des größten Mißgeschicks, das dem Genie zu Theil werden kann.

Wie mich dünkt, sind die Farben des Süden in Torquato Tasso nicht ausgesprochen genug; vielleicht ist es schwer, mit deutschen Worten italienisch zu sprechen und italienische Gefühle auszudrücken. Gleichwohl sind es noch mehr die Charaktere, worin sich die deutsche Natur mehr als die italienische entwickelt, Leonore von Este ist hier eine deutsche Fürstin. Die Entwickelung und Untersuchung ihres Charakters und ihrer Gefühle, womit sie sich unaufhörlich beschäftigt, ist nicht im Geiste des Süden. Im Süden zieht sich die Einbildungskraft nicht auf sich selbst zurück: sie schreitet beständig vor, ohne rückwärts zu schauen; sie forscht der Quelle eines Ereignisses nicht nach; sie widersteht dem Geschehenen oder überläßt sich ihm, ohne den Grund davon aufzusuchen.

Die Person des Tasso ist ebenfalls die Person [128] eines deutschen Dichters. Jene Unmöglichkeit, die ihm Göthe beigelegt hat, sich in den gewöhnlichsten Umständen des gemeinen Lebens aus dem Handel zu ziehen, ist ein Charakterzug der Schriftsteller des Norden[s], und ihrer ein- und zurückgezogenen Lebensweise. Den südlichen Dichtern klebt diese Unbeholfenheit gewöhnlich nicht an; sie haben mehr außer dem Hause, und so zu sagen, auf öffentlichen Plätzen gelebt; sie sind mit den Sachen und noch mehr mit den Menschen vertrauter.

Tasso's Sprache ist, bei Göthe, oft zu metaphysisch. Seine Schwermuth hatte keinesweges im Mißbrauch philosophischer Betrachtungen, oder im tiefen Nachforschen über das, was in seinem Herzen vorging, ihren Sitz; sie war nur eine Folge des zu lebhaften Eindrucks der äußern Gegenstände, des Rausches der Liebe und des Eigendünkels; er bediente sich der Sprache bloß als eines harmonischen Gesanges. Das Geheimniß seines Gemüths lag nicht in seinen Reden, nicht in seinen Schriften; er hatte sich nie selbst beobachtet; wie hätte er sich Andern offenbaren können? Ueberdieß war die Poesie in seinen Augen eine glänzende Kunst, nicht ein leises Zulispeln der Empfindungen des Herzens. Es scheint mir aus seiner italienischen Natur, aus seinem Leben, aus seinen Briefen, aus den Gedichten selbst, die er während seiner Verhaftung schrieb, einleuchtend, daß die Heftigkeit seiner Leidenschaften, nicht der Tiefe seiner Gedanken, seine[r] Schwermuth zuzuschreiben sey. In seinem Charakter lag nicht, wie in dem der deutschen Dichter, jenes gewohnte Gemisch von Nachdenken und Thätigkeit, von Nachforschung und Enthusiasmus, wodurch die Existenz so stark angegriffen wird.

Die Eleganz und Würde des poetischen Styls [129] sind in Torquato Tasso über alles Lob erhaben; Göthe hat sich in diesem Stücke als Deutschlands Racine gezeigt. Hat man aber Racine den Mangel an Interesse in Berenice'n zum Vorwurf gemacht, so könnte man mit größerm Fug Göthe'n die dramatische Kälte seines Tasso vorwerfen. Die Absicht des Verfassers war, die Charaktere tief zu begründen, und die Lagen, worin er sie versetzt hat, nur leicht zu entwerfen; ist dieses aber möglich? Die langen sinnreichen Reden, voller Einbildungskraft, die er seine Personen abwechselnd halten läßt, sind sie aus der Natur geschöpft, und aus welcher? Wer spricht so über sich selbst und über alles? Wer erschöpft bis auf diesen Punkt, was sich sagen läßt, ohne daß sich etwas thun lasse? Sobald sich das Stück nur einigermaßen bewegt, wird einem ganz leicht; man erholt sich von der beständigen Spannung, mit welcher man die Ideen verfolgen mußte. Die Duellscene zwischen dem Dichter und dem Hofmann interessirt lebhaft; des einen Aufwallung, des andern kalte Gewandtheit entwickeln das Verhältniß beider mit großer Lebendigkeit. Von den Lesern oder Zuschauern verlangen, daß sie dem Interesse der Handlung entsagen, um sich bloß an die Gemälde und an die Ideen zu hängen, hieße zu viel fordern. Dann brauchte es nicht mehr der Namen, der Auftritte, der Eintheilung in Acte, eines Anfangs, einer Entwickelung, kurz dann braucht es nichts von dem, was eine Handlung zur Handlung macht. Die Anschauung kann nur im Stande der Ruhe gefallen; beim Gehen ist der langsame Gang immer der ermüdendste.

Durch einen seltsamen Umsprung im Geschmack, hatten die Deutschen es unsern dramatischen Dichtern anfangs zum Verbrechen gemacht, daß sie alle [130] ihre Helden französirten; sie haben, und das mit Recht, die historische Wahrheit zum Hauptbedürfniß gemacht, wodurch den Farben Leben, und der Poesie Seele gegeben werden kann; und jetzt, ihrer eigenen Erfolge satt, sind sie plötzlich mit abstracten Stücken aufgetreten, wenn man sie so nennen darf, worin die Verhältnisse der Menschen zu den Menschen allgemein angedeutet sind, ohne Zeit, Ort und Person für etwas gelten zu lassen. So nennt zum Beispiel Göthe, in einem seiner Stücke, der natürlichen Tochter, seine Personen: der Herzog, der Vater, die Tochter etc. ohne weitere Bezeichnung; der Zeitraum, wo die Handlung vorgeht, der Ort, die handelnden Personen, sind ihm weiter nichts als ein prosaischer Hausstand, mit dem sich die Poesie nicht befassen darf.

Eine solche Tragödie ist eigentlich gemacht, in Odins Pallast aufgeführt zu werden, wo die Todten ihre Lebensbeschäftigungen fortsetzen; wo der Schatten des Jägers den Schatten des Hirsches verfolgt, und die sich Schattenbilder von Kriegern auf Wolkengebilden herumschlagen. Es scheint, als fühle Göthe seit einiger Zeit vor allem Interesse in Schauspielen einen Widerwillen. Weil man sich für schlechte Stücke interessirte, hat er gute ohne Interesse aufstellen wollen. Gleichwohl thut ein höherer Geist unrecht, wenn er das verachtet, was allgemein gefällt; er darf seine Aehnlichkeit mit der Natur Aller nicht verläugnen, wenn er seine Vorzüge vor Andern geltend machen will. Der Stützpunkt, den Archimedes verlangt, um die Erde fortrücken zu können, ist derjenige, wodurch ein außerordentliches Genie sich den gemeinen Naturen nähert. Dieser Berührungspunkt dient ihm. sich über alle übrigen zu erheben; er muß von dem ausgehen, was wir alle empfinden, um das empfinden [131] zu lassen, was er allein bemerkt hatte. Ueberdieß, wenn es wahr ist, daß der Despotismus des Schicklichen den schönsten französischen Tragödien einen Anstrich von Künstlichkeit giebt, so ist es nicht minder wahr, daß in den seltsamen Theorien des systematischen Geistes eben so wenig Wirklichkeit anzutreffen ist. Das Uebertriebene ist eine Manier; aber eine gewisse Ruhe und Kälte ist es nicht weniger. Durch diese Ruhe maßt man sich ein Vorrecht über die Erschütterung des Gemüths an, welche zwar in der Philosophie eingeräumt werden kann, nicht aber im Gebiet der dramatischen Kunst statt finden darf.

Es muß ohne Bedenken erlaubt seyn, mit critischen Anmerkungen gegen Göthe aufzutreten, da bekanntlich Göthe fast alle seine Schriften nach verschiedenen Systemen ausgearbeitet hat; bald überläßt er sich der Leidenschaft, wie in Werther und Egmont; ein andermal erschüttert er alle Saiten der Einbildungskraft durch seine vermischte Gedichte; dann ist er einfach wie die Alten, in Hermann und Dorothea; endlich stürzt er sich mit Faust in den Strudel des Lebens; und nun wieder, in Torquato Tasso, in der natürlichen Tochter, sogar in Iphigenia, betrachtet er die dramatische Kunst als ein Denkmahl, bei Gräbern errichtet. Hier haben dann seine Werke die schönen Umrisse, den Glanz und die Glätte des Marmors, aber auch dessen kalte Unbeweglichkeit. Man kann über Göthe nicht urtheilen, als über einen Schriftsteller, der in einer Gattung Gutes, in der andern Schlechtes geliefert hat. Man könnte ihn eher mit der Natur vergleichen, welche Alles und von Allem etwas hervorbrachte; es mag erlaubt seyn, sein südliches Clima dem nördlichen vorzuziehen, ohne deswegen in ihm die Talente zu verkennen, die mit [132] diesen Regionen des Gemüths im Einklang stehen.