BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. II. Abtheilung.

 

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Fünf und zwanzigstes Capitel.

 

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Einzelne Werke der Teutschen und Dänischen Bühne.

 

Kotzebues dramatische Werke sind in mehrere Sprachen übersetzt; folglich würde es überflüssig [187] seyn, das Ausland mit ihnen bekannt machen zu wollen. Ich begnüge mich mit der Erklärung, daß kein unparteiischer Richter ihrem Verfasser die vollkommenste Kenntniß der theatralischen Wirkung absprechen kann. Die Versöhnung, Menschenhaß und Reue, die Hussiten, die Kreuzfahrer, Hugo Grotius, Johanna von Montfaucon, Rolla's Tod etc. erregen das lebhafteste und allgemeinste Interesse, so oft sie aufgeführt werden. Gleichwohl ist auch nicht zu leugnen, daß Kotzebue seinen Personen weder die Farbe des Jahrhunderts, in welchem sie lebten, noch den Charakter giebt, den die Geschichte ihnen beilegt. Seine Personen, aus noch so entlegenen Ländern und Zeiten, zeigen sich als Zeit- und Volksgenossen, sprechen und handeln einer wie der andre, entfalten dieselben philosophischen Meinungen, dieselben modernen Sitten; und sei es ein Mädchen von heute oder eine Sonnenjungfrau, die Herr von Kotzebue auftreten läßt, so stellt er in beiden immer ein und dasselbe natürliche und pathetische Gemälde der gegenwärtigen Zeit auf. Könnte sein theatralisches Talent, welches in Teutschland einzig in seiner Art ist, sich mit der Gabe vereinigen lassen, Charaktere zu malen, wie die Geschichte sie aufstellt; könnte seine poetische Sprache sich bis zur Höhe der Situationen erheben, deren sinnreicher Erfinder er ist, so würden seine Stücke sich eines ebenso dauerhaften Erfolgs zu erfreuen haben, als sie sich jetzt eines glänzenden Beifalls erfreuen.

Uebrigens ist nichts so selten, als in demselben Dichter beide Eigenschaften, die den großen Dramatiker ausmachen, beisammen zu treffen, nehmlich die Kunstfertigkeit, wenn ich sie so nennen darf, und den allgemeinen Ueberblick des Genies. Dieses [188] Problem aufzulösen ist die große Schwierigkeit der menschlichen Natur überhaupt, und man kann beinahe immer bestimmt und richtig auffinden und angeben, in wem das Talent der Erfindung oder das Talent der Ausführung überwiegend ist; wer mit allen Zeiten in Verbindung lebt, oder sein Zeitalter vollkommen inne hat: gleichwohl können nur aus dem Zusammentreffen so entgegenstehender Eigenschaften, Phänomene aller Art hervor leuchten.

Die mehrsten Kotzebueschen Stücke enthalten überaus schöne Situationen. In seinen Hussiten belagert Procop, Zyska's Nachfolger, die Stadt Naumburg, und hat sie aufs äußerste gebracht. Der Magistrat beschließt endlich, die gesammten Kinder der Stadt ins feindliche Lager zu schicken, beim Feinde um Erbarmen zu flehen. Die armen Kinder sollen allein den wilden Kriegern entgegen, den Wüthrichen, die weder das Geschlecht, noch das Alter zu schonen gewohnt sind. Der Bürgermeister erbietet sich zuerst, seine vier Söhne zu schicken, deren ältester zwölf Jahre zählt, um den übrigen Muth zu machen. Die Mutter wünscht wenigstens einen zurück zu behalten; der Vater stellt sich, als füge er sich in ihr Verlangen. Nun zählt er aber hintereinander die Fehler jedes seiner Kinder auf, damit die Mutter entscheide, von wem sie sich am leichtesten trennen könne; doch sobald er eines seiner Kinder in Schatten zu stellen scheint, wird dieses der Mutter das liebste; zuletzt muß die Unglückliche eingestehn, die Wahl falle ihr unmöglich; und daß es besser sey, daß alle das allgemeine Schicksal theilen.

Im zweiten Akt sieht man das Hussitenlager. Die Krieger mit drohenden Zügen, und einer so rauhen und eisernen Außenseite, ruhen unter ihren Zelten. Ein fernes Geräusch stört ihre Ruhe; sie [189] lauschen; sie entdecken in der Ebene einen langen Zug von Kindern, deren jedes einen Eichenzweig in der Hand hält; sie begreifen nicht, was dieses bedeute, fassen ihre Speere und stellen sich an den Eingang des Lagers, um einen Ueberfall zu verhindern. Die Kinder gehen ohne Furcht auf den Lanzenwald zu, und die Hussiten treten allmählig und unwillkürlich zurück, so wie jene sich nähern, unmuthig über ihre Menschlichkeit, und einer ungewohnten Empfindung sich bewußt und sich schämend. Procop tritt aus dem Zelte, läßt sich den Bürgermeister vorführen, der von ferne den Kindern gefolgt war, und befiehlt ihm, seine Söhne zu nennen. Der Bürgermeister weigert sich; die Soldaten müssen ihn, auf Befehl des Feldherrn, ergreifen, und in diesem Augenblick stürzen die vier Knaben hervor und umklammern den Vater. «Jetzt kennst Du sie alle,» spricht der Bürgermeister zu Procop; «sie selber haben sich genannt.» Das Stück schließt glücklich; der dritte Akt ist ein großes Freuden- und Erlösungsfest; aber der zweite ist von großer Wirkung auf dem Theater.

Romanenscenen machen das ganze Verdienst der Kreuzfahrer aus. Ein junges Mädchen, in der Meinung, ihr Liebhaber sei im Kriege geblieben, ist nach Jerusalem in ein Kloster gegangen, worin Kranke und Verwundete gepflegt werden. Man bringt einen Ritter ins Kloster; er ist schwer verwundet. Die Nonne tritt verschleiert ins Krankenzimmer, kniet, ohne die Augen aufzuheben, nieder, und fängt an, die Wunde zu verbinden. Zufälligerweise, und mitten im Schmerze, spricht der Ritter halblaut den Namen seiner Geliebten aus; diese Geliebte ist sie; sie erkennt ihn. Er will sie entführen; die Aebtissin erfährt das Geheimniß, erfährt, daß die Nonne einverstanden sei, spricht ihr [190] in der Wuth das Urtheil, lebendig begraben zu werden. Der unglückliche Ritter schleicht vergebens um die Klostermauern, hört schon in der Kirche die Orgel und die Todtenfeier für die noch Lebende und ihn Liebende. Die Lage ist herzzerreißend; aber alles löset sich glücklich auf. Türken, vom jungen Ritter angeführt, stürmen das Kloster, befreien die Schöne. Ein Kloster in Asien wird im dreizehnten Jahrhundert gerade so behandelt, wie die Nonnen in den Victimes cloîtrées von Monvel, zur Zeit der Revolution; so wenig Unterschied weiß Kotzebue zwischen Kloster und Kloster, Jahrhundert und Jahrhundert zu machen; einige humane, und ziemlich lockere Sentenzen führen das Stück zum Schluß, und alles geht fröhlich und befriedigt nach Hause.

Kotzebue hat ebenfalls aus der Anekdote der Verhaftung des Hugo Grotius, auf Befehl des Prinzen von Oranien, und aus seiner Befreiung mit Hülfe einiger Freunde, die ihn in einem Bücherkasten aus dem Gefängniß schaffen, ein Schauspiel gemacht. Er dichtet in diesem Stücke überaus interessante Situationen; unter andern erfährt ein junger Officier, Liebhaber der Tochter des Grotius, von ihr selbst die Absicht, dem Vater zur Freiheit zu verhelfen, verspricht sogar, ihr in der Ausführung behülflich zu seyn; der Commandant, sein Freund, vertraut ihm auf vierundzwanzig Stunden die Festungsschlüssel, weil er sie so lange verlassen muß. Todesstrafe war auf den gesetzt, der den Gefangenen entweichen lassen würde, sollte es der Commandant selbst seyn. Der junge Lieutenant, der sich für seines Freundes Leben verantwortlich gemacht, so lange er dessen Stelle vertritt, verhindert den Rettungsplan des Vaters seiner Geliebten, und bringt ihn im Augenblick, wo er in den Kahn treten wollte, ins Gefängniß zurück. Er erträgt mit [191] Heldenmuth die Vorwürfe, den ganzen Unwillen des jungen Mädchens, die ihn für meineidig hält; itzt kömmt der Commandant zurück, nimmt seine Stelle wieder ein; Grotius Rettung wird ein zweitesmal versucht, gelingt, und der junge Krieger weiß durch eine edle Lüge von den Schuldigen die Todesstrafe auf sich zu lenken. Seine Freude, als der über ihn ausgesprochene Tod seiner Geliebten die Augen öffnet, ihr die Achtung für ihn abzwingt, ist von großer theatralischer Wirkung; zuletzt zeigt sich aber so viel Edelmuth nicht nur in Grotius, der freiwillig ins Gefängniß zurückkehrt; im Mädchen, im Prinzen von Oranien, im Verfasser selbst, daß man zuletzt nur Amen zu allem zu sagen braucht. Die Situationen des Stücks sind aus einem französischen Drama entlehnt; nur sind in diesem Drama die Personen erdichtet und unbedeutend; weder Grotius, noch der Prinz von Oranien erscheinen unter ihrem Namen; und das mit Recht, denn im deutschen Stück liegt nichts, was in den Charakter dieser beiden geschichtlichen Personen einschlüge.

Johanna von Montfaucon ist eine Rittergeschichte von Kotzebue's eigner Erfindung. Er hat seinen Stoff behandeln und ausmalen können, wie ihm beliebt hat. Eine reizende Schauspielerin, Madame Unzelmann, gab die Johanna; die Art, wie sie ihr Herz und ihr Schloß gegen einen unritterlichen Krieger vertheidigte, gefiel ungemein auf der Bühne. Abwechselnd kriegerisch und in Verzweiflung; bald von ihrem Helm, bald durch das flatternde Haupthaar verschönert, war sie immer reizend und interessant. Doch dergleichen Situationen sind mehr für die Pantomime als für die Rede geeignet; die Worte dienen den Bewegungen zur musikalischen Begleitung. [192]

Rolla's Tod ist von höherm Werth. Der berühmte Sheridan hat seinen Pizarro darnach gebildet, der in England so viel Glück gemacht. Ein Wort am Ende des Stücks ist von wunderbarer Wirkung. Rolla, das Haupt der Peruvianer, hat den Spaniern den Sieg lange streitig gemacht; er liebte Cora, die Sonnenjungfrau, opferte ihr aber seine Liebe auf, weil sie ihm Alonzo vorzieht, und räumte alle Hindernisse auf die Seite, die ihrer Verbindung mit diesem Spanier im Wege standen. Ein Jahr nach dieser Verbindung rauben die Spanier das nur wenig Wochen alte Kind der Cora. Rolla eilt durch tausend Gefahren, findet das Kind, bringt es mit Blut bedeckt in der Wiege zurück, bemerkt das Entsetzen der Mutter beim Anblick des Bluts, hat kaum die Kraft, die Worte auszustoßen: «Zittre nicht, es ist mein Blut!» und stirbt.

Mehrere deutsche Schriftsteller und Kunstrichter, haben, dünkt mich, Kotzebue's dramatischen Talenten nicht volle Gerechtigkeit widerfahren lassen; ihre Gründe dazu sind aber achtbar; Kotzebue hat nicht immer in seinen Stücken gegen die strenge Tugend, gegen die positive Religion die gehörige Ehrfurcht gezeigt; nicht aus System, wie mir scheint, sondern um durch seine Paradoxien mehr Wirkung auf der Bühne hervorzubringen. Dadurch hat er sich allerdings den Tadel der strengen Kunstrichter mit Recht zugezogen. Er scheint seit einigen Jahren festere Grundsätze angenommen zu haben; und, was noch mehr sagen will, sein Talent gewinnt dabei. Die Höhe und Festigkeit in den Gedanken hängt immer durch geheime Bande mit der Reinheit der Moral zusammen.

Kotzebue und die meisten deutschen Dramatiker hatten Lessingen die Meinung abgeborgt, man [193] müsse in ungebundener Rede für das Theater schreiben und die Tragödie dem Drama so nahe rücken als möglich. Göthe und Schiller in ihren letzten Werken und die Schriftsteller der neuern Schule, haben diesen Grundsatz umgestoßen. Man konnte vielleicht einigen unter ihnen einen entgegengesetzten Fehler zum Vorwurf machen; sie haben sich einer exaltirten Sprache bedient, vermöge welcher die Einbildungskraft von der theatralischen Wirkung abgezogen wird. In den dramatischen Dichtern, die wie Kotzebue Lessings Grundsätze befolgt haben, finden wir fast immer schöne Einfalt und lebhaftes Interesse. Agnes Bernauerin, Julius von Tarent, Diego und Leonore haben bei der Aufführung beständig Beifall gefunden und diesen Beifall verdient. Sie stehen in Friedels Sammlung der Uebersetzungen aus dem Teutschen; daher erwähne ich sie nicht weiter. Diego und Leonore würde, mit einigen Abänderungen, auf der französischen Bühne gefallen; nur müßte man das rührende Gemälde jener tiefen trübsinnigen Liebe beibehalten, die das Unglück ahnet, noch ehe es durch Vorboten des Unglücks angekündigt wird; die Schottländer nennen diese Ahnungen des Herzens den zweiten Blick des Menschen; sie haben Unrecht, sie den zweiten zu nennen; sie sind der erste, und vielleicht der einzig wahre Blick seines innern Sinnes.

Unter den prosaischen Tragödien, die sich im Teutschen über die Gattung des Drama erheben, muß man einige Versuche des Herrn von Gerstenberg rechnen. Er hat unter andern Ugolino als Trauerspiel bearbeitet; die Einheit des Orts ist hier gezwungen beobachtet, denn das Stück fängt an und hört auf in dem Thurme wo Ugolino, eingemauert, mit seinen drei Söhnen Hungers [194] stirbt; mit der Einheit der Zeit darf man's nicht so genau nehmen, es gehören mehr als vierundzwanzig Stunden zum Hungertode; übrigens ist der Vorgang immer derselbe von Anfang zu Ende; nur daß das immer wachsende Entsetzen eine Art von Fortschreiten in der Handlung andeutet., Es giebt nichts Erhabeneres als die Beschreibung des unglücklichen Vaters im Dante, der seine drei Söhne vor sich hinsterben sah, und jetzt in der Hölle die Zähne in den Schädel des grausamen Feindes einschlägt, der ihn in Pisa seiner Wuth opferte; aber diese Episode im Dante ist keinesweges der Stoff zu einem Trauerspiele. Eine Catastrophe allein macht noch keine Tragödie. Gerstenbergs Ugolino enthält kraftvolle Schönheiten; der Augenblick, wo man die Thüre zum Thurme zumauern hört, erregt den tiefsten Eindruck, dessen ein menschliches Gefühl fähig ist; es ist der lebendige Tod; aber die Verzweiflung läßt sich nicht durch fünf Akte hinhalten; der Zuschauer muß in der Zwischenzeit sterben oder sich trösten; und es ließe sich auf diese Tragödie anwenden, was ein geistvoller Amerikaner, Herr H. Morris, von den Franzosen im Jahr 1792 gesagt hat: «sie sind über die Freiheit hinausgegangen». Ueber das Pathetische hinausgehen, d. h. über die Gemüthsbewegungen hinausgehn, denen die Seelenkräfte gewachsen sind, heißt die Wirkung verfehlen, die sie hervorbringen sollen.

Klinger, durch mehrere fein- und tiefgedachten Schriften bekannt, hat ein Trauerspiel geschrieben, die Zwillinge, worin viel Interesse liegt. Die Wuth des jüngern Bruders, eben weil er für den jüngern gelten muß; seine Empörung gegen das Recht der Erstgeburt, das in seinen Augen nur das Werk eines Augenblicks ist; beides [195] wird im Stücke auf eine bewundernswerthe Weise ausgedrückt. Einige Schriftsteller sind der Meinung, die Geschichte des berühmten Mannes mit der eisernen Maske treffe mit einem nämlichen Umstande zusammen; wie dem auch sey, so fließt schon aus der Natur der Dinge, wie viel größer der Bruderneid über die Erstgeburt bei Zwillingsbrüdern seyn muß. Beide Brüder reiten aus; man erwartet sie zurück; der Tag verstreicht; Abends sieht man das Pferd des älteren Bruders zurückkommen. Ein so einfacher Umstand dürfte in einem französischen Trauerspiele nicht erzählt werden; gleichwohl ist er tief erschütternd; der entrüstete Vater rächt den Tod seines Erstgebornen an dem noch bleibenden Sohne. Dieses Trauerspiel, voller Wärme und Beredsamkeit, würde, wie mich dünkt, von großer Wirkung seyn, wenn von bedeutenden Namen die Rede wäre; aber man gewöhnt sich nicht an so heftige Leidenschaften, wo ein kleines Schloß an der Tiber der Gegenstand des Bruderzwistes ist. Wir können es nicht oft genug wiederholen, im Trauerspiele müssen historische Stoffe oder religiöse Lagen aufgestellt, und durch sie große Erinnerungen im Gemüth der Zuschauer rege gemacht werden; denn in den Dichtungen, wie im Leben, läßt die Einbildungskraft ihr Recht auf die Vergangenheit nicht fahren, so sehr sie auch nach der Zukunft lüstert.

Die neue literarische Schule in Deutschland liebt mehr, wie jede andre, das Grandiose in der Art die schönen Künste auszufassen. Ihre Erzeugungen, sie mögen nun auf der Bühne gelingen oder nicht, sind das Resultat und das Gebäude von Reflexionen und Gedanken, deren Zergliederung interessant ist; allein das Theaterpublikum zergliedert nicht; man mag noch so siegreich [196] darthun, ein Stück müsse gefallen, bleibt der Zuschauer kalt, so ist die dramatische Schlacht verloren; der Erfolg ist, bis auf wenige Ausnahmen, der beste Beweis des Talents in den Künsten; das Publikum ist fast immer ein scharfsinniger und gültiger Richter, wohlverstanden, wenn keine vorübergehende Umstände in sein Urtheil eingreifen.

Viel teutsche Tragödien unter denen, die von den Verfassern nicht für die Bühne geschrieben wurden, sind schätzenswerthe Dichtungen. Eine der bemerkungswürdigsten, darunter ist Tie[c]ks Genoveva. Die alte Legende, die diese Heilige zehn Jahre lang in der Wüste von Kräuter und Früchten leben, und ihres Kindes Leben mit der Milch einer getreuen Hirschkuh fristen läßt, wird in diesem dialogirten Roman unvergleichlich benutzt. Genoveva's fromme Ergebenheit ist mit den schönen Farben der heiligen Poesie ausgemalt; der Charakter des Mannes, der ihr Ankläger wird, nachdem er von der Hoffnung abstehen muß, ihr Verführer zu werden, ist von der Hand eines Meisters gezeichnet. Dieser Bösewicht weiß bei allen seinen Verbrechen, eine Art poetischer Einbildungskraft zu bewahren, die seinen Handlungen, und den Vorwürfen seines Gewissens einen originellen bedeutenden Anstrich giebt. Im Eingang des Stücks tritt der heilige Bonifaz auf; er erzählt den Inhalt, und hebt mit den Worten an:

 

«Ich bin der wackere Bonifazius etc.»

 

Der Verfasser hat diesen Eingang nicht absichtslos gewählt; er zeigt zu viel Tiefe und Feinheit in seine[n] übrigen Schriften, und vor allen in seiner Genoveva, um diesen Vorwurf zu verdienen; er hat diese Form gewählt, so viel ist klar; er hat als ein Zeitgenosse seiner Heiligen, einfältig und naiv seyn wollen. Nur, wenn man zu sehr [197] bedacht wäre, die alte Zeit wieder herbeizuschaffen, würde dieses zu einem Marktschreierton von Einfalt führen, der ins Lächerliche fiele, und Lachen erregen müßte, so ernsthaft und gerührt man auch sonst wäre. Allerdings muß man sich in das Jahrhundert versetzen, das man zu schildern hat, nur darf man das seinige darüber nicht ganz vergessen. Die Perspective der Gemälde, sie mögen darstellen, was sie wollen, muß immer von dem Standpunkte der Zuschauer ausgehen.

Unter denen, welche der Nachahmung der Alten treu geblieben, nimmt Collin die erste Stelle ein. Wien ist stolz auf diesen Dichter, Teutschland schätzt ihn allgemein. Er ist seit langer Zeit so zu sagen, der einzige in Oestreich. Seine Tragödie Regulus, würde in Frankreich mit Beifall aufgenommen werden. In Collins Schreib- und Dichtart liegt ein Gemisch von Erhabenheit und Empfindung, von Römischer Strenge und religiöser Sanftmuth; in ihm schmiltzt der Geschmack der Alten mit dem der Neueren zusammen. In seinem Trauerspiel Polyxena ist der Auftritt, wo Calchas den Neoptolemus auffordert, Priams Tochter auf Achilles Grabmal zu opfern, einer der schönsten, den wir haben. Der Aufruf der stygischen Götter, die zur Versöhnung der Todten ein Schlachtopfer verlangen, wird mit einer solchen Kraft der Finsterniß, einem solchen Schauder der Unterwelt vorgetragen, daß sich unter den Füßen Abgründe zu eröffnen scheinen. Immer wird man von der Bewunderung zu den Vorgängen des Alterthums hingerissen; bis jetzt ist alles Bestreben der Neuern, aus ihren eignen Mitteln Stoffe zu wählen, die denen der Griechen gleich kommen, gescheitert, doch soll man diesem edeln Ruhm nachstreben; denn nicht allein die Nachahmung lässt sich erschöpfen, sondern der Zeitgeist scheint immer in unserer Behandlungsart [198] des Alterthums, und seiner Thatsachen durch. Collin selbst fällt in diesen Fehler. Er führt den ersten Akt seiner Polyxena mit alt-edler Einfalt durch; am Ende verwickelt er den Gang durch eine Menge von Zwischenfällen. Die Franzosen haben das Jahrhundert Ludwigs XIV. und die damalige Galanterie in alttragische Stoffe eingemischt; die Italiener behandeln in ihren Tragödien das Alte mit einer Art von hochtrabendem Bombast; die Engländer verläugnen sich nie, und haben daher auf ihre Bühne nur römische Geschichten gebracht, weil sie mehr Berührungspunkte mit den Römern haben. Die Deutschen überziehen ihre den Griechischen nachgebildete Trauerspiele mit dem Firniß der metaphysischen Philosophie, oder bemalen sie mit bunten Romanbegebenheiten. Nie wird es einem Dichter unsrer Zeit gelingen, alte Poesie hervorzubringen. Daher würden wir besser thun, uns aus unserer Religion und unseren Sitten eine moderne Poesie zu schaffen, die, wie die der Alten, wirkliche Naturschönheiten unsres Bodens enthielte.

Oehlenschläger, ein Däne, hat selbst seine Schauspiele ins Deutsche übersetzt. Die Analogie zwischen beiden Sprachen gestattet in beiden gleich gut zu schreiben, und der Däne Baggesen hat es bewiesen, daß man in einem fremden Idiom ein großes Dichtertalent ausdrücken kann. In Oehlenschlägers Tragödien findet man eine schöne dramatische Einbildungskraft. Sie sollen großen Beifall auf der Copenhagner Bühne finden; beim Lesen gefallen sie in doppelter Hinsicht; erstlich, weil der Verfasser mit der französischen Regelmäßigkeit die Mannichfaltigkeit und Bewegung, die bei den Deutschen so viel gelten, zu vereinen gewußt; zweitens, weil er die Geschichte und die Mythen der [199] alten Scandinavier mit großer und dabei poetischer Wahrheit und Treue aufgestellt hat.

Der Norden, der an die äußersten Gränzen der bewohnten Erde stößt, ist uns kaum bekannt; die langen Nächte der borealischen Gegenden, wo der Wiederschein des Schnees allein statt des Tageslichts dient; die Finsterniß, die den fernen Horizont selbst dann umlagert, wenn der Himmel mit Sternen besäet ist; alles scheint das Bild eines unbekannten Raums, einer nächtlichen Welt zu erwecken, die unsern Erdball umgürtet. Eine so kalte Luft, daß sie den Hauch zu Eis härtet, treibt die Wärme in die Seele zurück, und die Natur scheint in diesem Clima nur dazu gemacht, den Menschen in sich zu bannen. Die Helden haben in den Dichtungen der nordischen Poesie etwas riesenhaftes. In ihrem Charakter verbindet sich der Aberglaube mit der Kraft, während er, in allen andern Gegenden, das Erbtheil der Schwäche ist. Bilder, ihrer strengen Natur entnommen, bezeichnen die Poesie der Scandinavier; bei ihnen heißen die Geyer die Wölfe der Luft; die siedenden Seen, aus feuerspeienden Bergen entstanden, bergen im Winter die Vögel, die sich in die umgebende warme Atmosphäre retten: alles trägt in diesen neblichten Strichen den Stempel der Größe und der Traurigkeit.

Die Scandinavischen Völker hatten eine Art von physischer Thatkraft, die der kalten Ueberlegung keinen Raum gestattete, und den Willen vor sich hin stieß, wie einen Felsen, der von Gebirgen herabrollt. Deutschlands eiserne Männer reichen nicht hin, uns von jenen Erdbewohnern der Welt einen deutlichen Begriff zu machen; sie vereinigen die Reizbarkeit des Zorns mit der ausharrenden Kälte des Entschlusses. Die Natur selbst [200] hat sie gewürdigt, ein poetisches Bild von ihnen aufzustellen; sie hat in Island den Vulkan aufgethürmt, der, mit ewigem Schnee bedeckt, Feuerströme ausspeit.

Oehlenschläger hat sich eine neue Bahn gebrochen. Er hat die Heldensagen seines Vaterlands zum Inhalt seiner Stücke gewählt. Wird dieses Beispiel befolgt, so kann die Literatur des Norden einst eben so berühmt werden als Teutschland.

Ich schließe hier den Ueberblick, den ich von den teutschen Theaterstücken geben wollte, die sich der tragischen Gattung nähern. Es ist keinesweges meine Absicht, die Fehler und Schönheiten dieser Stücke zu untersuchen. Es giebt so viel Verschiedenheit in den Talenten und Systemen der teutschen dramatischen Dichter, daß ein gleichförmiges Urtheil nicht auf alle anwendbar seyn würde. Uebrigens liegt das größte Lob, das man ihnen ertheilen kann, eben in dieser Verschiedenheit; denn im Gebiete der Literatur, wie in so vielen anderen, ist Einstimmigkeit fast immer ein Zeichen der Knechtschaft.