BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Zweiter Theil. II. Abtheilung.

 

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Ein und Dreißigstes Capitel.

 

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Von den literärischen Reichthümern Deutschlands und von seinen berühmtesten Kunstrichtern, Aug. Wilh. und Friedrich Schlegel.

 

Ich habe in diesem Gemälde der deutschen Literatur die vorzüg­lichsten Werke zu bezeichnen mich bemüht; allein ich habe darauf Verzicht leisten müssen, eine große Zahl von Männern zu nennen, deren minder bekannte Schriften bei weitem mehr [269] zur Belehrung Derer, die sie lesen, als zum Ruhme ihrer Verfasser dienen.

Die Abhandlungen über die schönen Künste, die Werke über Gelehrsamkeit und Philosophie gehören zwar nicht unmittelbar der Literatur an, müssen aber gleichwohl zu ihren Reichthümern gerechnet werden. Es giebt in Deutschland Schätze von Ideen und Kenntnissen, welche die übrigen Nationen Europa's in sehr langer Zeit nicht erschöpfen werden.

Auch das poetische Genie, wenn der Himmel uns dasselbe zurückgiebt, könnte einen glücklichen Antrieb von der Liebe für die Natur, für die Künste und die Philosophie erhalten, welche in allen Gegenden Deutschlands gährt. Zum wenigsten aber wage ich die Behauptung, daß Jeder von uns, der sich einer ernsten Arbeit, sie bestehe worin sie wolle, widmen will, in Hinsicht der Geschichte, der Philosophie und des Alterthums die Bekanntschaft der deutschen Schriftsteller, die sich damit beschäftigt haben, nicht entbehren kann.

Frankreich kann sich einer großen Zahl von Gelehrten der ersten Stärke rühmen; allein selten sind in ihnen Kenntnisse mit philosophischem Scharfsinn verbunden gewesen, während beide in Deutschland gegenwärtig beinahe unzertrennlich sind. Die, welche die Unwissenheit als eine Gewährleistung der Anmuth in ihren Schutz nehmen, nennen eine Anzahl von Männern, welche viel Geist und wenig Gelehrsamkeit hatten; allein sie vergessen, daß eben diese Männer das menschliche Herz, so wie es sich in der Welt offenbart, gründlich studirt hatten, und daß ihre Ideen sich hierauf bezogen. Hätten diese über die Verhältnisse der Gesellschaft unterrichteten Männer über Gegenstände der Literatur urtheilen wollen, ohne dieselben zu kennen: so würden [270] sie eben so langweilig geworden seyn, wie der Bürgerliche, wenn er über den Hof spricht.

Als ich das Studium des Deutschen begann, kam es mir vor, als ob ich in eine ganz neue Sphäre träte, worin sich das auffallendste Licht über Alles verbreitete, was ich bis dahin auf eine verworrene Weise empfunden hatte. Seit einiger Zeit lieset man in Frankreich nur Denkwürdigkeiten oder Romane, und wahrlich nicht aus bloßem Flattersinn ist man ernsthafterer Lectüre minder fähig. Der Grund liegt vielmehr darin, daß die Begebenheiten der Revolution, die Franzosen gewöhnt haben, nur auf die Kenntniß der Thatsachen und der Personen einen Werth zu legen. In den deutschen Büchern über die abstraktesten Gegenstände findet man die Art von Interesse, welche nach guten Romanen lüstern macht, d. h. nach dem, was sie uns über unser eigenes Herz sagen. Der unterscheidende Charakter der deutschen Literatur besteht darin, daß alles auf das innere Daseyn bezogen wird; und da dies das Geheimniß der Geheimnisse ist, so knüpft sich daran eine gränzenlose Neugierde.

Ehe ich zur Philosophie übergehe, welche in allen Ländern, wo die Literatur frei und mächtig ist, einen Theil derselben ausmacht, werde ich noch einige Worte über das sagen, was man als die Gesetzgebung dieses Reichs betrachten kann; ich meine die Kritik. Kein Zweig der deutschen Literatur ist weiter ausgebildet worden; und wie man in gewissen Städten mehr Aerzte als Kranke antrifft, so giebt es auch in Deutschland bisweilen mehr Kritiker als Autoren. Indeß sind die Zergliederungen Lessings, des Schöpfers der deutschen Prosa, von einer solchen Beschaffenheit, daß sie als Werke betrachtet werden können. [271]

Kant, Göthe, Johann von Müller, die größten Schriftsteller Deutschlands in allen Fächern, haben in die Journäle sogenannte Recensionen von verschiedenen, so eben bekannt gemachten Schriften eingerückt, und diese Recensionen enthalten die tiefsten philosophischen Theorien und die positiven Erkenntnisse. Unter den jüngeren Schriftstellern haben sich Schiller und die beiden Schlegel vor allen übrigen Kunstrichtern vorzüglich ausgezeichnet. Von Kants Schülern ist Schiller der Erste, welcher seine Philosophie auf die Literatur angewendet hat; und in Wahrheit macht es einen so großen Unterschied, ob man von der Seele ausgeht, um über die äußeren Gegenstände zu urtheilen, oder ob man von den äußeren Gegenständen über das, was in der Seele vorgeht, urtheilt, daß alles davon abhängt. Schiller hat zwei Abhandlungen über das Naive und S[e]ntimentale geschrieben, in welchen das sich verkennende und das sich beobachtende Talent mit erstaunlichem Scharfsinn entwickelt worden sind; aber in seinem Versuch über die Anmuth und Würde und in seinen Briefen über die Aesthetik, d. h. die Theorie des Schönen, ist allzu viel Metaphysik. Will man von dem Kunstgenuß reden, für welchen alle Menschen empfänglich sind, so muß man sich immer auf die Eindrücke stützen, die sie erhalten haben, und sich nicht abstracte Formen erlauben, über welche die Spur dieser Eindrücke verloren geht. Schiller hing an der Literatur durch sein Genie und an der Philosophie durch seine Neigung für das Nachsinnen. Seine prosaischen Schriften halten sich innerhalb den Gränzen beider Regionen; indeß versteigt er sich nicht selten in die höchste, und indem er unaufhörlich auf das zurückkommt, was in der Theorie am meisten abstract [272] ist, verschmäht er die Anwendung als eine unnütze Folge der Prinzipe, die er festgestellt hat.

Eine lebendige Beschreibung der Meisterstücke giebt der Kritik mehr Interesse, als allgemeine Ideen, welche über den Gegenständen schweben, ohne irgend einen zu characterisiren. Die Metaphysik ist, so zu sagen, die Wissenschaft des Unbeweglichen; alles aber, was der Zeitfolge unterworfen ist, erklärt sich nur aus einer Vermischung von Thatsachen und Reflexionen. Die Deutschen möchten über alle Gegenstände zu vollständigen und von den Umständen durchaus unabhängigen Theorien gelangen: da dies aber unmöglich ist, so muß man nicht auf Thatsachen Verzicht leisten, aus bloßer Furcht, daß sie die Ideen in allzu enge Gränzen einschließen. Die Beispiele allein ätzen, in der Theorie wie in der Praxis, die Vorschriften der Erinnerung ein.

Die Quintessenz von Gedanken, welche gewisse deutsche Werke darbieten, conzentrirt nicht, wie die der Blumen, die stärksten Wohlgerüche; man könnte im Gegentheile sagen: sie sey ein kalter Ueberrest von lebenvollen Bewegungen. Bei dem allen könnte man aus diesen Werken eine Menge höchst interessanter Bemerkungen ziehen, nur, daß sie sich in einander verwirren würden. Seinen Geist immer vorwärts treibend, führt der Autor seine Leser auf einen Punkt, wo die Ideen allzu zart sind, als daß man versuchen könnte, sie anders wohin zu verpflanzen.

Aug. Wilh. Schlegels Schriften sind minder abstract, als Schillers. Da er im Fache der Literatur seltene Kenntnisse besitzt, die es selbst in seinem Vaterlande sind; so wird er durch das Vergnügen, welches er in der Vergleichung verschiedener Sprachen und verschiedener Poesien findet, unaufhörlich zur Anwendung zurückgeführt. Ein [273] so universeller Gesichtspunkt müßte beinahe als unfehlbar betrachtet werden, wenn die Partheilichkeit ihn nicht bisweilen verrückte: aber diese Partheilichkeit ist nicht willkürlich, und ich werde den Gang und den Zweck derselben angeben, nachdem ich zuvor von Gegenständen geredet haben werde, in welchen sie nicht zum Vorschein tritt.

A.W.Schlegel hat zu Wien Vorlesungen über die dramatische Literatur gehalten, welche alles, was seit den Griechen bis auf unsre Zeiten Merkwürdiges für das Theater geschrieben worden ist, umfassen. Keine trockene Nomenclatur von den Arbeiten der verschiedenen Autoren! Der Geist jeder Literatur ist in diesen Vorlesungen mit der Einbildungskraft eines Dichters aufgefaßt, und man fühlt, daß es, um solche Resultate zu geben, außerordentlicher Studien bedarf, wiewohl die Gelehrsamkeit sich in diesem Werke, nur in der vollendeten Kenntniß der Meisterwerke bemerkbar macht. Auf wenigen Seiten genießt man die Arbeit eines ganzen Lebens; jedes, über einen Autor ausgesprochene Urtheil, jedes den Schriftstellern, von welchen die Rede ist, beigelegte Epitheton, ist schön und gerecht, genau und belebt. A. W. Schlegel hat die Kunst gefunden, die Meisterwerke der Poesie wie die Wunder der Natur zu behandeln, und sie mit lebhaften Farben, welche der Wahrheit der Zeichnung keinesweges schaden, auszumalen. Denn, man kann es nicht genug wiederholen, die Einbildungskraft, weit entfernt, eine Feindin der Wahrheit zu seyn, hebt dieselbe mehr hervor, als irgend ein anderes Vermögen unseres Geistes, und alle die, welche sich auf sie stützen, um übertriebene oder unbestimmte Ausdrücke zu entschuldigen, sind zum wenigsten eben so sehr von Poesie, als von Vernunft verlassen. [274]

Die Zergliederung der Principe, worauf Tragödie und Komödie sich gründen, ist in A. W. Schlegels Vorlesungen mit großer philosophischer Tiefe verhandelt worden. Dergleichen Verdienst findet sich oft unter deutschen Schriftstellern; allein in der Kunst, Enthusiasmus einzuflößen für die großen Köpfe, die er selbst bewundert, hat Schlegel seines Gleichen nicht. Im Allgemeinen zeigt er sich als einen Anhänger des einfachen Geschmacks, bisweilen sogar des rohen; allein er macht in dieser seiner Ansicht eine Ausnahme zum Vortheil der mittäglichen Völker. Ihre Wortspiele und ihre Concetti sind kein Gegenstand seines Tadels; er verabscheut das Manierirte, welches aus dem Geiste der Gesellschaft erwächst, dagegen gefällt ihm das, was von dem Luxus der Einbildungskraft und poetischen Werken herrührt, wie Verschwendung der Farben und der Wohlgerüche in der Natur. Nachdem sich Schlegel durch seine Uebersetzung des Shakespear einen großen Ruf erworben hatte, hat er für Calderon eine eben so lebhafte Liebe gefaßt, wiewohl sie immer von der verschieden ist, welche Shakespear einflößen kann. Denn in eben dem Maaße, worin der englische Schriftsteller tief und düster in der Kenntniß des Menschen Herzens ist, in eben diesem Maaße überläßt sich der spanische Dichter mit Sanftheit und Zauber der Schönheit des Lebens, der Aufrichtigkeit des Glaubens, und dem vollen Glanze der Tugenden, welcher die Sonne des Gemüths verherrlicht.

Ich befand mich zu Wien, als Schlegel daselbst seine Vorlesungen hielt. Nur Geist und Belehrung erwartete ich von Vorlesungen, welche den Unterricht zum Zweck hatten; ich war erstaunt, einen Kunstrichter zu hören, der beredt war, wie ein Redner, und, weit davon entfernt, sich bei Mängeln [275] aufzuhalten, die uns eine Nahrung für die eifersüchtige Mittelmäßigkeit sind, es nur darauf anlegte, das schöpferische Genie wieder zu beleben.

Die spanische Literatur ist wenig gekannt. Gerade sie war der Gegenstand einer der schönsten Vorlesungen, denen ich beiwohnte. A. W. Schlegel malte uns diese ritterliche Nation, deren Dichter Krieger, und deren Krieger Dichter waren. Er führte den Grafen de Ercilla an, der seine Araucana bald unter einem Zelte, bald auf den Wellen des Oceans, bald am Fuße der Cordilleras schrieb, während er empörte Wilden bekriegte. Garcilaso, einer von den Abkömmlingen der Incas, schrieb seine Liebesgedichte auf den Trümmern von Karthago, und starb bei dem Sturm auf Tunis. 1) Cervantes wurde in der Schlacht von Lepanto schwer verwundet; Lopez de Vega entrann, wie durch ein Wunder, dem Untergange der unüberwindlichen Armada, und Calderon diente als unerschrockener [276] Soldat in den Kriegen von Flandern und Italien.

Religion und Krieg vermischten sich bei den Spaniern mehr, als bei jeder anderen Nation. Durch fortgesetzte Kämpfe vertrieben sie die Mauren aus ihrem Schooße; und man konnte sie als die Vorhut der europäischen Christenheit betrachten. Von den Arabern eroberten sie ihre Kirchen; ein Act ihrer Gottesverehrung war eine Trophee für ihre Waffen, und ihr triumphirender Glaube, bisweilen bis zum Fanatismus gesteigert, vermischte sich mit dem Gefühl der Ehre, und gab ihrem Charakter eine ausgezeichnete Würde. Dieser Ernst mit Einbildungskraft gemischt, diese Fröhlichkeit sogar, welche dem Ernsthaften nichts von seinen tieferen Empfindungen raubt, offenbart sich in der spanischen Literatur, die aus lauter Fictionen und Dichtungen besteht, von welchen Religion, Liebe und kriegerische Thaten der Gegenstand sind. Man hätte sagen mögen, daß um die Zeit, wo die neue Welt entdeckt wurde, die Schätze einer anderen Halbkugel den Reichthümern der Einbildungskraft eben sowohl zu Statten kamen, als denen des Staats, und daß im Gebiete der Poesie, wie in dem Gebiete Carls des Fünften, die Sonne gar nicht aufhörte, den Horizont zu erhellen.

A. W. Schlegels Zuhörer waren von diesem Gemälde tief gerührt, und die deutsche Sprache, deren er sich mit Zierlichkeit bediente, umgab die volltönenden Namen des Spanischen mit tiefen Gedanken und rührenden Ausdrücken: diese Namen, welche nicht ausgesprochen werden können, ohne daß die Einbildungskraft die Pommeranzenhaine des Königreichs Granada und die Palläste der maurischen Könige zu sehen glaubt.  2) [277]

Man kann A. W. Schlegels Manier, wenn er von Poesie spricht, mit Winkelmanns Manier in seinen Beschreibungen alter Denkmäler vergleichen; und nur so ist man Kunstrichter auf eine würdige Weise. Alle Menschen vom Metier genügen, so lange es nur darauf ankommt, die Fehler oder Nachlässigkeiten nachzuweisen, die man zu vermeiden hat; aber nach dem Genie giebt es nichts, das ihm so ähnlich wäre, als die Kraft, es zu erkennen und zu bewundern.

Da Friedrich Schlegel sich mit der Philosophie beschäftigt hat: so hat er sich der Literatur minder ausschließend gewidmet, als sein Bruder. Inzwischen vereinigt die Abhandlung, die er über die intellectuelle Kultur der Griechen und Römer geschrieben hat, in einem engen Raume Ansichten und Resultate der ersten Ordnung. Friedrich Schlegel ist einer von den berühmten Männern Deutschlands, dessen Geist sehr viel Eigentümlichkeit hat; allein weit entfernt, sich dieser Eigenthümlichkeit zu vertrauen, hat er sie durch unermeßliche Studien unterstützen wollen. Es ist ein starker Beweis von Achtung für das menschliche Geschlecht, wenn man zu demselben nicht allein aus sich selbst, und ohne sich gewissenhaft um das von unseren Vorgängern hinterlassene [278] Erbtheil bekümmert zu haben, spricht. In Hinsicht der Reichthümer des menschlichen Geistes sind die Deutschen die wahren Eigenthümer; die, welche sich an ihren natürlichen Einsichten halten, sind in Vergleichung mit ihnen nur Vorfechter.

Jetzt, nachdem ich den seltenen Talenten der beiden Schlegel habe Gerechtigkeit widerfahren lassen, muß untersucht werden, worin die Partheilichkeit besteht, die man ihnen zum Vorwurf macht, und von welcher mehrere ihrer Schriften nicht freigesprochen werden können. Sie neigen sichtbar zum Mittelalter und zu den Meinungen hin, welche dieser Epoche eigen waren. Das Ritterthum ohne Flecken, der Glaube ohne Gränzen, und die Poesie ohne Reflexion, scheinen ihnen unzertrennlich, und sie möchten die Geister und Gemüther gern in diese alte Bahn zurückführen. A. Wilh. Schlegel drückt seine Bewunderung für das Mittelalter in mehrern seiner Schriften aus, besonders aber in den beiden folgenden Stanzen:

 

Eins war Europa in den großen Zeiten,

Ein Vaterland, deß Boden hehr entsprossen,

Was Edle kann in Tod und Leben leiten.

Ein Ritterthum schuf Kämpfer zu Genossen,

Für Einen Glauben wollten alle streiten,

Die Herzen waren Einer Lieb' erschlossen;

Da war auch Eine Poesie erklungen,

In Einem Sinn, nur in verschiednen Zungen!

 

Nun ist der Vorzeit hohe Kraft zerronnen,

Man wagt es, sie der Barbarei zu zeihen.

Sie haben enge Weisheit sich ersonnen:

Was Ohnmacht nicht begreift, sind Träumereien.

Doch, mit unheiligem Gemüth begonnen,

Will nichts, was göttlich ist von Art, gedeihen.

Ach, diese Zeit hat Glauben nicht, noch Liebe:

Wo wäre denn die Hoffnung, die ihr bliebe?

 

– Meinungen, deren Tendenz so bestimmt angegeben ist, müssen nothwendig die Unpartheilichkeit [279] der Urtheile über Werke der Kunst erschüttern. Ohne allen Zweifel – und ich habe es im Laufe dieser Schrift unaufhörlich wiederholt – ohne allen Zweifel ist sehr zu wünschen, daß die moderne Literatur auf unsere Geschichte und unseren Glauben gegründet werde. Daraus folgt aber nicht, daß die literarischen Produkte des Mittelalters als wirklich gute Produkte betrachtet werden können. Ihre kräftige Einfalt, der reine und gesetzliche Charakter, der sich darin offenbart, erregen ein lebhaftes Interesse; aber die Kenntniß des Alterthums und die Fortschritte der Civilisation haben uns Vortheile verschafft, die keinesweges zu verachten sind. Es kommt darauf nicht an, wie man die Kunst rückgängig mache, sondern, wie man, so weit es möglich ist, die verschiedenen Eigenschaften vereinige, die in verschiedenen Epochen in dem menschlichen Geiste entwickelt worden sind.

Man hat die beiden Schlegel der Ungerechtigkeit gegen die französische Literatur beschuldigt. Gleichwohl hat es niemals Schriftsteller gegeben, welche mit mehr Enthusiasmus von dem Genie der Troubadours und von dem französischen Ritterthum gesprochen haben, das in der That in Europa nicht seines Gleichen hatte, als es, im höchsten Grade, Geist und Rechtlichkeit, Anmuth und Offenheit, Muth und Fröhlichkeit, die rührendste Einfachheit und die geistreichste Naivetät verband. Allein die deutschen Kunstrichter haben freilich behauptet, daß die unterscheidenden Züge des französischen Charakters sich während der Regierung Ludwigs des Vierzehnten verwischt haben. In den sogenannten klassischen Jahrhunderten, sagen sie, verliert die Literatur an Originalität, was sie an Korrektheit gewinnt; und so haben sie besonders unsere Dichter mit sehr kräftigen Argumenten und [280] Mitteln angegriffen. Der allgemeine Geist dieser Kunstrichter ist derselbe, den Rousseau in seinen Brief gegen die französische Musik an den Tag gelegt hat. Sie glauben in vielen von unseren Tragödien die Art von pomphafter Ziererei zu finden, welche Rousseau einem Lully und Rameau zum Vorwurf macht, und sie behaupten, daß derselbe Geschmack, welcher einem Coypel und Boucher in der Malerei, und einem Ritter Bernin in der Bildhauerei den Vorzug verschaffte, der Poesie den Aufschwung verbietet, der allein einen göttlichen Genuß daraus macht. Endlich fühlen sie sich versucht, auf unsere Manier, die schönen Künste aufzufassen und zu lieben, Corneille's so oft angeführten Verse anzuwenden:

 

Othon à la princesse a fait un compliment

Plus en homme d'esprit qu'en veritable amant.

 

A. W. Schlegel huldigt indessen den Meisten von unseren großen Autoren. Das Einzige, was er beweisen möchte, ist, daß seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts die manierirte Gattung in ganz Europa vorgeherrscht hat, und daß darüber der kühne Geist verloren gegangen ist, der die Schriftsteller und Künstler beim Wiederaufleben der Wissenschaften beseelte. In den Gemälden und Bas-Reliefs, wo Ludwig der Vierzehnte bald als Jupiter, bald als Herkules dargestellt ist, erscheint er nackt, oder auch mit einer Löwenhaut umgeben, aber nie fehlt seine große Perrücke. Die Schriftsteller der neuen Schule behaupten, man könne diese große Perrücke auf die Physiognomie der schönen Künste im siebzehnten Jahrhundert anwenden. Es mischte sich immer eine gezwungene Artigkeit ein, wovon eine erkünstelte Größe die Ursache war.

Immer ist es interessant, diese Ansicht zu untersuchen, [281] trotz den zahllosen Einwürfen, die sich dagegen machen lassen. Ausgemacht ist wenigstens, daß diese deutschen Aristarchen ins Ziel getroffen haben, weil sie von allen Schriftstellern seit Lessing diejenigen sind, die das Meiste beigetragen haben, die Nachahmung der französischen Literatur in Deutschland aus der Mode zu bringen. Aber aus Furcht vor dem französischen Geschmack haben sie den deutschen nicht vervollkommnet, und nicht selten haben sie sehr richtige Bemerkungen blos deshalb verworfen, weil sie von französischen Schriftstellern herrührten.

In Deutschland versteht man nicht, ein Buch zu machen. Selten bringt man die Ordnung und Methode an, welche die Ideen in dem Kopfe des Lesers klassificiren. Ueber dergleichen Mängel ermüden die Franzosen, nicht weil sie ungeduldig sind, sondern weil ihnen ein richtiger Geist beiwohnt. In den deutschen Poesieen sind die Erdichtungen nicht in den festen und abgemessenen Umrissen entworfen, welche ihre Wirkung sichern, und das Unbestimmte der Einbildungskraft entspricht der Dunkelheit des Gedankens. Wenn endlich die bisarren und gemeinen Späße sogenannter komischer Werke geschmacklos sind: so rührt dies nicht von einer Stärke des Natürlichen her, wohl aber daher, daß eine erzwungene Energie vollkommen eben so lächerlich ist, als eine erzwungene Anmuth. Ich mache mich lebhaft, sagte ein Deutscher, indem er zum Fenster hinaussprang. Wenn man sich zu etwas macht, so ist man nichts. Man muß zu dem guten französischen Geschmack zurückkehren, um das Gegenmittel gegen die kräftige Uebertreibung einiger Deutschen zu finden, so wie man sich von der dogmatischen Frivolität einiger Franzosen nur durch den Tiefsinn der Deutschen retten kann. [282]

Nationen müssen sich einander zu Führern dienen, und alle würden Unrecht haben, wenn sie sich der Einsichten beraubten, die sie sich gegenseitig gewähren können. Es ist etwas ganz Besonderes in dem Unterschiede des einen Volkes von dem anderen: das Klima, der Anblick der Natur, die Sprache, die Regierung, besonders aber die Begebenheiten der Geschichte – eine Macht, welche noch außerordentlicher ist, als die übrigen alle – tragen zu diesen Verschiedenheiten bei, und kein Mensch, wie groß auch seine Einsicht seyn möge, vermag zu errathen, was sich auf eine natürliche Weise in dem Geiste eines Anderen entwickelt, der auf einem verschiedenen Boden lebt, und eine andere Luft athmet. Man wird sich also in jedem Lande wohl dabei befinden, fremde Gedanken aufzunehmen; denn, was diesen Punkt betrift: so macht die Gastfreundschaft das Glück des Empfängers.

 

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1) Hier ist ein Irrthum, welcher um so mehr berichtigt werden muß, weil er sonst einem Gelehrten zur Last fallen würde, dessen Genauigkeit ganz Deutschland kennt. – Garcilaso (de la Vega) war nicht der Abkömmling der Incas, sondern der Sohn eines Vaters gleichen Namens, der unter der Regierung Ferdinands des Fünften Staatsrath und Groß-Compthur des Santiago-Ordens war. Garcilaso der Dichter wurde 1503 geboren, und starb 1536. Er lebte folglich in einer Periode, wo man in Spanien schwerlich viel von den Incas wußte. Ob er auf den Trümmern von Karthago gedichtet habe, mag dahin gestellt bleiben; gewiß aber ist, daß er nicht bei dem Sturm auf Tunis blieb. Er wurde in einem Alter von 32 Jahren auf dem Rückzuge von Marseille schwer verwundet, und starb zu Nizza, von wo sein Leichnam, zwei Jahre nach seinem Tode, nach Toledo gebracht wurde. Den Feldzug nach Tunis hat er blos mitgemacht. (Anm. d. Uebers.) 

2) A. W. Schlegel, den ich hier als den ersten Kunstrichter Deutschlands im Fache der Literatur anführe, ist Verfasser einer vor kurzem in französischer Sprache erschienenen Brochüre, welche den Titel führt: Betrachtungen über das Continentalsystem. Derselbe A. W. Schlegel hat auch vor einigen Jahren zu Paris eine Vergleichung der Phädra des Euripides und der des Racine drucken lassen. Sie machte großen Lärm unter den Pariser Literatoren; aber niemand konnte läugnen, daß Schlegel, wenn gleich ein Deutscher, das Französische gut genug schrieb, um das Recht zu haben, über Racine zu spr[e]chen.