BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

___________________________________________________________

 

 

 

Zweites Capitel.

 

――――――

 

Von der englischen Philosophie.

 

Alles scheint in uns das Daseyn einer doppelten Natur zu beurkunden. Der Einfluß der Sinne und der Einfluß des Gemüths theilen sich in unser Wesen, und je nachdem die Philosophie sich nach dem einen oder nach dem anderen hinneigt, sind die [10] Meinungen und die Gefühle in jeder Hinsicht schnurstracks entgegengesetzt. Man kann das Gebiet der Sinne und das des Gedankens noch auf eine andere Weise bezeichnen. In dem Menschen ist etwas, das mit dem irdischen Daseyn vergeht, und etwas, das es überdauern kann; was wir durch die Erfahrung erwerben, ist das Endliche, was der moralische Instinkt uns einflößt, das Unendliche. Wie man sich aber auch ausdrücken möge, so muß man immer eingestehen, daß es zwei verschiedene Lebens-Principe in der dem Tode unterworfenen und zur Unsterblichkeit bestimmten Kreatur gebe.

Die Tendenz zum Spiritualismus ist bei den Völkern des Nordens immer sehr offenbar gewesen, und selbst vor der Einführung des Christenthums zeigte sich diese Neigung bey aller Heftigkeit kriegerischer Leidenschaften. Die Griechen glaubten an äußerliche Wunder; die germanischen Nationen glaubten an die Wunder des Gemüths. Alle ihre Poesieen sind voll von Vorgefühlen, Ahnungen, Prophezeihungen des Herzens, und während die Griechen sich durch die Freude mit der Natur vereinigten, erhoben sich die Bewohner des Nordens zum Schöpfer durch religiöse Gefühle. In den mittäglichen Erdstrichen vergöttlichte das Heidenthum physische Erscheinungen; im Norden war man geneigt an die Zauberei zu glauben, weil sie dem Menschen eine gränzenlose Macht über die materielle Welt zuschreibt. Das Gemüth und die Natur, der Wille und die Nothwendigkeit, theilen sich in die Domäne des Daseyns, und je nachdem wir die Kraft außer uns setzen, oder in uns selbst annehmen, sind wir Söhne des Himmels oder Sklaven der Erde. Beim Wiedererwachen der Wissenschaften und [11] Künste beschäftigten sich die Einen mit den Spitzfindigkeiten der Schule in metaphysischen Dingen, die Andern glaubten an die Wahnbegriffe der Magie in den Wissenschaften: die Kunst zu beobachten herrschte eben so wenig in dem Gebiet der Sinne, als der Enthusiasmus in dem Gebiet des Gemüths, und mit sehr wenigen Ausnahmen gab es für die Philosophen weder Erfahrung, noch Begeisterung. Ein Riese trat auf; es war Bacon. Nie sind die Wunder der Natur und nie die Entdeckungen des Gedankens von demselben Verstande so gut aufgefaßt worden. In seinen Werken giebt es keine Phrase, welche nicht ein jahrelanges Nachdenken verräth. Er belebt die Metaphysik durch die Kenntniß des menschlichen Herzens, er weiß Thatsachen durch die Philosophie zu verallgemeinern. In den physischen Wissenschaften hat er die Kunst der Erfahrung geschaffen; aber daraus folgt gar nicht, wie man hat glauben machen wollen, daß er entschiedener Anhänger des Systemes gewesen sey, das die Ideen auf Sensationen stützt. Er läßt die Eingebung in allen Dingen zu, die vom Gemüth abhängen; er glaubt sogar, sie sey nothwendig, um die physischen Erscheinungen nach allgemeinen Grundsätzen zu erklären. Allein zu seinen Zeiten gab es noch Alchymisten, Wahrsager und Zauberer; man verkannte die Religion in dem größten Theile von Europa noch so sehr, daß man glaubte, sie untersage die eine und die andere Wahrheit; sie, welche zu allen Wahrheiten leitet. Bacon war von diesen Irrthümern betroffen; sein Jahrhundert neigte sich eben so sehr zum Aberglauben, wie das unsrige zum Unglauben. In jener Zeit, wo Bacon lebte, müßte er die Erfahrungs-Philosophie zu Ehren zu [12] bringen suchen; in der gegenwärtigen Zeit würde er nur das Bedürfniß fühlen, die innere Quelle des moralisch Schönen zu beleben, und den Menschen unablässig daran zu erinnern, daß er in sich selbst, in seinem Gefühl, in seinem Willen existirt. Ist das Jahrhundert abergläubig, so ist der Genius der Beobachtung furchtsam, und die physische Welt wird wenig gekannt; ist das Jahrhundert ungläubig, so giebt es keinen Enthusiasmus mehr, nichts weiß man weder vom Gemüth, noch vom Himmel.

Zu einer Zeit, wo der Gang des menschlichen Geistes in keiner Gattung gesichert war, nahm Bacon alle seine Kräfte zusammen, um die Bahn zu zeichnen, welcher die Erfahrungs-Philosophie folgen sollte, und noch gegenwärtig dienen seine Schriften denen zu Wegweisern, welche die Natur studiren wollen. Als Staatsmann hatte er sich lange mit Verwaltung und Politik beschäftigt. Die stärksten Köpfe sind die, welche die Lust und Gewohnheit des Nachdenkens mit der Geschäfts-Praxis verbinden. In beiderlei Beziehung war Bacon ein außerordentlicher Geist; aber seiner Philosophie fehlte, was seinem Charakter abging: er war nicht tugendhaft genug, um die moralische Freiheit des Menschen ganz rein zu fühlen. Bei dem allen kann man ihn nicht mit den Materialisten des abgewichenen Jahrhunderts vergleichen, und seine Nachfolger haben die Theorie der Erfahrung weit über seine Absicht hinausgeführt. Ich wiederhole es, er ist weit davon entfernt, alle unsere Ideen Sensationen zuzuschreiben, und die Analyse als das einzige Werkzeug der Entdeckungen zu betrachten. Oft folgt er einem kühnen Gange; und wenn er sich an der Erfahrungs-Logik hält, um alle Vorurtheile wegzuräumen, [13] die seine Bahn bedecken, so vertraut er, um weiter zu dringen, doch nur der Schwungkraft des Genies.

„Der menschliche Geist,“ sagt Luther, „ist wie ein betrunkener Bauer zu Pferde; hebt man ihn von der einen Seite hinauf, so fällt er von der anderen wieder herab.“ Auch hat der Mensch unablässig zwischen seinen beiden Naturen geschwankt; bald rissen ihn seine Gedanken von den Sensationen los, bald verschlangen seine Sensationen die Gedanken, und abwechselnd wollte er Alles auf die einen oder die anderen beziehen. Indessen scheint es mir, als sey der Augenblick der stätigen Lehre gekommen. Die Metaphysik muß eine Umwälzung leiden, gleich derjenigen, welche Copernikus in dem Welt-System zu Stande gebracht hat. Sie muß unser Gemüth ins Centrum setzen und es in allen Dingen der Sonne gleich machen, um welche die äußerlichen Gegenstände ihren Zirkel beschreiben und von welcher sie das Licht borgen.

Der Stammbaum menschlicher Kenntnisse, an welchem jede Wissenschaft sich auf die oder die Fähigkeit bezieht, ist unstreitig einer von den Ansprüchen, welche Bacon auf die Bewunderung der Nachwelt hat. Was aber seinen Ruhm begründet, ist, daß er zuerst aussprach: „man müsse sich wohl in Acht nehmen, die Wissenschaften auf eine absolute Weise von einander zu trennen, und daß alle sich in der allgemeinen Philosophie vereinigten.“ Er ist also nicht der Urheber jener anatomischen Methode, welche die intellektuellen Kräfte jede insbesondere betrachtet, und die bewundernswürdige Einheit des moralischen Wesens zu verkennen scheint. Empfindsamkeit, Einbildungskraft, Vernunft unterstützen [14] sich unter einander. Jede von diesen Fähigkeiten würde nur eine Krankheit, eine Schwäche an der Stelle einer Stärke seyn, wenn sie nicht durch die Totalität unseres Wesens modifizirt oder ergänzt würde. Auf einer gewissen Höhe erfordern selbst die berechnenden Wissenschaften Einbildungskraft; so wie diese sich wiederum auf die genaue Kenntniß der Natur stützen muß. Von allen Vermögen der Seele scheint die Vernunft die Hülfe der übrigen am leichtesten entbehren zu können; und doch würde man, wenn man von Einbildungskraft und Empfindsamkeit ganz verlassen wäre, aus bloßer Trockenheit so zu sagen vor lauter Vernunft närrisch werden, und sich, wenn man im Leben immer nur Berechnungen und materielle Interessen sähe, über die Charaktere und Zuneigungen der Menschen eben so betrügen, als ein enthusiastisches Wesen, das überall von Uneigennützigkeit und Liebe träumt.

Man befolgt ein fehlerhaftes Erziehungs-System, wenn man ausschließend die eine oder die andere Eigenschaft des Geistes entwickeln will. Wer sich einer Facultät widmet, ergreift ein intellectuelles Metier. Mit Recht sagt Milton: „eine Erziehung sey nur dann gut, wenn sie zu allen Kriegs- und Friedensämtern tauglich mache.“ Alles, was aus dem Menschen einen Menschen macht, ist wahrer Gegenstand der Unterweisung,

Weiß man von einer Wissenschaft nur, was ihr eigenthümlich ist, so bringt man in die freien Künste dieselbe Theilung der Arbeit, welche sich nur für die mechanischen Künste paßt. Gelangt man dagegen zu der Höhe, wo jede Wissenschaft in einigen Punkten alle übrigen berührt, dann nähert man sich [15] der Region allgemeiner Ideen, und die Luft, welche von daher weht, belebt alle Gedanken.

Das Gemüth ist ein Brennpunkt, der in allen Sinnen strahlt, und in diesem Brennpunkt bestehet das Daseyn. Alle Beobachtungen und alle Bestrebungen der Philosophen müssen sich gegen dieses Ich wenden, welches der Mittelpunkt und das Triebwerk unserer Gefühle und unserer Ideen ist. Unstreitig nöthigt uns die Unvollständigkeit unserer Sprache zum Gebrauch von irrigen Ausdrücken; man muß, dem Herkommen nach, wiederholen: der und der hat Vernunft, oder Einbildungskraft, oder Empfindsamkeit u. s. w. Wenn man sich aber durch Ein Wort verstehen wollte, so brauchte man bloß zusagen: „er hat Gemüth, er hat viel Gemüth. 1) Denn dies ist der göttliche Hauch, welcher den ganzen Menschen macht.

Weit sicherer, als die allerspitzfindigste Metaphysik, lehrt die Liebe alles, was mit den Mysterien des Gemüths in Verbindung steht. Man klammert sich nicht an die eine oder die andere Eigenschaft der Person, welche man vorzieht; und alle Madrigale sagen ein sehr philosophisches Wort, indem sie wiederholen, daß man liebt, ohne zu wissen warum; denn dies: Ich weiß nicht warum ist das Ganze, und die Harmonie, die wir erkennen durch Liebe, durch Bewunderung, durch alle die Gefühle, welche uns das, was in dem Herzen eines Anderen am tiefsten und verborgensten liegt, offenbaren. [16]

Da die Analysis nur theilend erforschen kann, so fällt sie wie das Zergliederungsmesser über die todte Natur her. Aber dies ist ein schlechtes Werkzeug, wenn man das Lebendige kennen lernen will; und wenn man Mühe hat, durch Worte den lebendigen Begriff, der uns die Gegenstände in ihrer Ganzheit darstellt, zu definiren, so rührt dies daher, daß dieser Begriff dem Wesen der Dinge ungleich verwandter ist. Theilen um zu begreifen, ist in der Philosophie ein Beweis von Schwäche, wie in der Politik theilen, um zu regieren.

Bacon hielt bei weitem mehr, als man glaubt, auf die idealistische Philosophie, welche von Platon an bis auf unsere Zeiten unter verschiedenen Gestalten beständig wieder zum Vorschein gekommen ist. Nichtsdestoweniger hat der Erfolg seiner analytischen Methode in den strengen Wissenschaften nothwendig auf sein System in der Metaphysik Einfluß gehabt. Man hat seine Lehre von den Sensationen, als Ursprung der Ideen betrachtet, bei weitem absoluter aufgefaßt, als er sie dargestellt hatte. Den Einfluß dieser Lehre können wir deutlich wahrnehmen durch die beiden Schulen, die sie erzeugt hat: die von Hobbes und die von Locke. Ganz gewiß unterscheiden sich beide gar sehr dem Zwecke nach; aber ihre Principe sind in mehreren Hinsichten dieselben.

Hobbes nahm die Philosophie, welche alle unsere Ideen von den Eindrücken der Sinne abstammen läßt, ganz buchstäblich; er fürchtete die Folgerungen derselben nicht, und sagte ganz kühn: die Seele ist der Nothwendigkeit unterworfen, wie die Gesellschaft dem Despotismus Er gestattet also den Fatalismus [17] der Sensationen für den Gedanken, und den der Stärke für die Handlungen; er vernichtet die bürgerliche Freiheit, indem er mit Recht glaubt, daß beide von einander abhängen. Auf diese Weise war er Atheist und Sklave, und nichts ist konsequenter; denn wenn in dem Menschen nichts weiter ist, als das Gepräge der Eindrücke von außen her, so ist die irdische Macht alles, und die Seele hängt davon eben so sehr ab, als das Geschick.

Durch politische und religiöse Institutionen ist in England die Verehrung aller erhabenen und reinen Gefühle dergestalt gesichert, daß die Spekulationen des Geistes sich um diese majestätischen Säulen drehen, ohne sie jemals zu erschüttern. Hobbes fand also in seinem Vaterlande sehr wenig Anhänger. Dagegen war Locke's Einfluß weit allgemeiner. Da sein Charakter moralisch und religiös war, so erlaubte er sich keines von den verderblichen Raisonnements, welche nothwendig von seiner Metaphysik abflossen; und die meisten seiner Landsleute haben, indem sie ihm beitraten, die edle Inkonsequenz gehabt, die Resultate von den Principen zu sondern, während Hume und die französischen Philosophen, nachdem sie das System zugelassen hatten, es auf eine weit logischere Weise angewendet haben.

Locke's Metaphysik hat auf die Geister in England keine andere Wirkung hervorgebracht, als daß sie ihre natürliche Originalität ein wenig verdunkelt hat; selbst wenn sie die Quelle der großen philosophischen Gedanken austrocknen sollte, so würde sie das religiöse Gesicht nicht zerstören, das sie so gut ersetzet. Aber in dem übrigen Europa, mit Ausnahme von Deutschland, angenommen, ist diese Metaphysik eine von den Hauptursachen der Immoralität [18] gewesen, die man zu einer Theorie erhoben hat, um ihre Ausübung desto mehr zu sichern.

Locke hat sich vor allen Dingen angelegen seyn lassen, darzuthun, daß in der Seele nichts Angebornes sey. Er hatte Recht, weil er mit dem Sinne des Wortes Idee immer eine durch die Erfahrung erworbene Entwickelung verband. So gefaßt, sind die Ideen das Resultat der Gegenstände, die sie anregen, der Vergleichungen, welche sie sammeln, und der Sprache, welche ihre Verbindung erleichtert. Allein so verhält es sich nicht weder mit den Gefühlen, noch den Anlagen, noch den Vermögen, welche die Gesetze des menschlichen Verstandes eben so konstituiren, wie die Attractions- und Antriebskraft die der physischen Welt.

Höchst merkwürdig sind die Argumente, die Locke genöthigt gewesen ist, zu gebrauchen, um uns zu beweisen, daß alles, was in der Seele vorgeht, von den Sensationen herrühre. Führten diese Argumente zur Wahrheit, so würde man ohne Zweifel den moralischen Widerwillen, welchen sie einflößen, überwinden müssen; aber man kann im Allgemeinen an diesen Widerwillen, als an ein untrügliches Zeichen dessen, was wir vermeiden sollen, glauben. Locke wollte beweisen, daß das Bewußtseyn des Guten und Bösen dem Menschen nicht angeboren sey, und daß er das Gerechte und Ungerechte, gerade wie das Rothe und Blaue nur aus Erfahrung kenne. Um zu seinem Zwecke zu gelangen, hat er alle Länder untersucht, wo Sitten und Gesetze Verbrechen zu Ehren bringen, namentlich die, wo man sichs zur Pflicht rechnet, seinen Feind zu tödten, die Ehe zu verachten, seinen Vater, wenn er alt ist, todt zu schlagen. Alles, was die Reisenden [19] über grausame Gebräuche erzählt haben, hat er sorgfältig gesammelt. Was ist doch das für ein System, welches einem so tugendhaften Mann, wie Locke war, eine so heftige Begierde nach solchen Tatsachen einflößet?

„Mögen dergleichen Thatsachen, könnte man sagen, traurig seyn, oder nicht; alles kommt darauf an, ob sie wahr sind.“ – Aber sie können wahr seyn, ohne daß man weiß, was sie bedeuten. Wissen wir denn nicht aus unserer eigenen Erfahrung, daß die Umstände, d. h. die äußeren Gegenstände, auf die Art und Weise, unsere Pflichten auszulegen, Einfluß haben? Man vergrößere diese Umstände, und man wird darin die Ursache der Verirrungen der Völker finden. Allein giebt es Völker oder Menschen, welche läugnen, daß es Pflichten gebe? Hat man jemals behauptet, daß mit der Idee des Gerechten und des Ungerechten keine Bedeutung verbunden sey? Die Erklärung, welche man davon giebt, kann verschieden seyn; allein die Ueberzeugung von dem Princip ist überall dieselbe; und in dieser Ueberzeugung besteht das Urgepräge, das man in alle[m] Humanen wiederfindet.

Wenn der Wilde seinen alten Vater tödtet, so glaubt er ihm dadurch einen Dienst zu erzeigen. Er thut dies nicht um seines eigenen Vortheils willen, wohl aber zum Besten seines Vaters. Die Handlung, welche er begeht, ist abscheulich; aber deswegen fehlt es ihm noch nicht an Gewissen; und daraus, daß ihm gewisse Einsichten abgehen, folgt keinesweges, daß es keine Tugenden für ihn gebe. Die Sensationen, d. h. die äußerlichen Gegenstände, von welchen er umgeben ist, verblenden ihn; das innige Gefühl, welches den Haß gegen das Laster [20] und die Achtung für die Tugend ausmacht, wohnt ihm nicht minder bei, wiewol ihn die Erfahrung über die Art und Weise, wie dies Gefühl sich im Leben offenbaren soll, irre geleitet hat. Andere sich vorziehen, wenn die Tugend es befiehlt – dies gerade macht das Wesen des moralischen Schönen aus; und dieser bewundernswürdige Instinkt der Seele, wie sehr er jedem physischen Instinkt entgegen seyn mag, ist unserer Natur inhärirend. Könnte er erworben werden, so könnte er auch wieder verloren gehen; aber er ist unveränderlich, weil er angeboren ist. Möglich, daß man das Böse thut, indem man das Gute zu thun glaubt; möglich sogar, daß man schuldig wird mit Wissen und Willen: allein etwas so widersprechendes, wie die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit, kann nicht als Wahrheit angenommen werden.

Die Gleichgültigkeit gegen das Gute und Böse ist das gewöhnliche Ergebniß einer gewissermaßen versteinerten Civilisation; und diese Gleichgültigkeit ist ein bei weitem stärkeres Argument gegen das angeborne Gewissen, als die gröbsten Irrthümer der Wilden. Aber die allerzweifelsüchtigsten Menschen rufen, wenn sie in der einen oder der anderen Hinsicht unterdrückt werden, die Gerechtigkeit an, als ob sie ihr ganzes Leben hindurch daran geglaubt hätten; und wenn sie von einer heftigen Empfindung ergriffen sind und man ihnen Gewalt anthut, so appelliren sie an das Billigkeitsgefühl, trotz den strengsten Moralisten. Sobald irgend eine Flamme, sey es die des Unwillens oder die der Liebe, sich unseres Gemüths bemächtigt, so gehen die heiligen Charaktere der ewigen Gesetze wieder in uns hervor.

Entschiede der Zufall der Geburt und der Erziehung [21] über die Moralität eines Menschen, wie könnte man ihn alsdann wegen seiner Handlungen anklagen? Wenn alles, was unsern Willen ausmacht, von äußeren Gegenständen herrührt, so kann jeder, zur Rechtfertigung seines Betragens, an besondere Beziehungen appelliren; und oft sind diese Beziehungen unter den Bewohnern desselben Landes eben so verschieden, als ein Asiat und ein Europäer. Dürfte also die Macht der Umstände die Gottheit der Sterblichen seyn, so würde daraus folgen, daß jeder Mensch eine, ihm ausschließend eigene, Moral, oder vielmehr eine Abwesenheit der Moral für seinen Gebrauch hätte; und um das Böse, welches die Sensationen empfehlen können, zu verbieten, würde man keinen besseren Grund aufstellen dürfen, als die öffentliche Macht, die es bestrafen wird. Wenn nun die öffentliche Macht die Ungerechtigkeit beföhle, so würde die Aufgabe gelöset seyn: alle Sensationen würden alle die Ideen erzeugen, welche zu der vollendetsten Verderbniß führten.

Die Beweise für die Geistigkeit der Seele können nicht in dem Gebiet der Sinne gefunden werden; nur die sichtbare Welt ist diesem Gebiete überlassen. Die unsichtbare kann ihm nicht unterthan seyn; und wie wäre an Immaterialität der Seele zu denken, wenn man nicht die Spontaneität der Ideen zugiebt, wenn der Gedanke und das Gefühl von den Sensationen abhängen? Und wenn, wie niemand leugnet, die meisten Thatsachen, welche von den Sinnen überliefert werden, dem Irrthum unterworfen sind – was ist ein moralisches Wesen, das erst dann wirksam wird, wenn äußere Gegenstände es anregen – Gegenstände sogar, deren Erscheinungen oft falsch sind? [22]

Ein französischer Philosoph hat gesagt: „der Gedanke sey nichts weiter, als das materielle Produkt des Gehirns.“ Der Ausdruck ist abstoßend; aber diese bejammernswerthe Definition ist das natürliche Ergebniß einer Metaphyslk, welche den Ursprung aller unserer Ideen in unseren Sensationen findet. Ist dem also, so spottet man mit Recht über das Intellectuelle, so findet man mit Recht alles unbegreiflich, was nicht handgreiflich ist. Ist unsere Seele nur eine zarte Materie, welche durch andere, mehr oder minder grobe, Elemente in Bewegung gesetzt wird, neben welchen sie noch in der unvortheilhaftesten Passivität dasteht: sind unsere Eindrücke und Erinnerungen nur verlängerte Schwingungen eines von dem Zufall gespielten Instruments: dann giebt es nur Fibern in unserem Gehirn, nur physische Kräfte in der Natur, und alles läßt sich nach den Gesetzen erklären, welche jene leiten. Freilich bleiben noch kleine Schwierigkeiten über den Ursprung der Dinge und den Zweck unseres Daseyns übrig; allein man hat die Frage tüchtig vereinfacht, und die Vernunft räth uns, alle die Verlangen, alle die Hoffnungen zu unterdrücken, welche Genie und Liebe und Religion uns zuführen. Denn der Mensch würde alsdann nichts mehr und nichts weniger seyn, als eine Maschine in dem großen Mechanismus des Universums: seine Fähigkeiten, Räderwerk; seine Moral, ein Calcul; der Gegenstand seiner Anbetung, der glückliche Erfolg.

Indem Locke im Grunde seiner Seele an das Daseyn Gottes glaubte, stützte er, ohne es zu ahnen, seine Ueberzeuguug auf Raisonnements, welche sämmtlich über die Sphäre der Erfahrung hinausgehen. Er behauptet, es gebe ein ewiges Princip, [23] eine ursprüngliche Ursache aller übrigen Ursachen; und so tritt er in die Sphäre des Unendlichen, das jenseits aller Erfahrung liegt. Allein Locke fürchtete zugleich so sehr, die Idee Gott könne für eine dem Menschen angeborne Idee gehalten werden, es schien ihm so abgeschmackt, daß der Schöpfer, gleich einem großen Mahler, seinen Namen auf das Gemälde unserer Seele gezeichnet habe, daß er sich alle ersinnliche Mühe giebt, in Reisebeschreibungen auf Völker zu stoßen, welche keinen religiösen Glauben haben. Man kann, glaube ich, kühn behaupten, daß diese Völker nicht vorhanden sind. Die Bewegung, welche uns bis zur höchsten Intelligenz erhebt, findet sich in Newton's Genie, wie in der Seele des ärmsten Wilden, der dem Steine, worauf er ausgeruhet hat, seine Andacht beweiset. Niemand hat sich an die äußere Welt, wie sie ist, gehalten; alle haben, in irgend einer Epoche ihres Lebens, in dem Innersten ihres Herzens eine unaussprechliche Anziehung zu etwas Uebernatürlichem empfunden. Allein wie kommt es, daß ein so religiöses Wesen, wie Locke, es darauf anlegt, die Urcharaktere des Glaubens in eine zufällige Kenntniß zu verwandeln, die uns das Schicksal bewilligen oder rauben kann? Ich wiederhole es, die Richtung einer Lehre muß bei dem Urtheil, welches wir über die Wahrheit dieser Lehre fällen, immer in einen hohen Anschlag gebracht werden; denn in der Theorie ist das Gute und das Wahre unzertrennlich.

Alles Sichtbare spricht zum Menschen von Anfang und von Ende, von Verfall und Auflösung. Ein göttlicher Funken ist in uns der einzige Anzeiger der Unsterblichkeit. Aber von welcher Sensation rührt dieser Funken her? Alle Sensationen bekämpfen [24] ihn, und doch triumphirt er über alle. Wie, wird man sagen, die Endursachen, die Wunder des Universums, der Glanz des Himmels, der unsere Blicke trift – bezeugen sie uns denn nicht die Pracht wie die Güte des Schöpfers? Das Buch der Natur ist widersprechend; man findet darin die Sinnbilder des Guten und des Bösen beinahe in gleichem Verhältniß; und dem ist also, damit der Mensch seine Freiheit unter entgegenstehenden Wahrscheinlichkeiten, unter Befürchtungen und Hoffnungen von beinahe gleicher Stärke übe. Der gestirnte Himmel erscheint uns als der Vorhof der Gottheit; aber alle Uebel und alle Laster der Menschen verdunkeln diese Himmelslichter. Eine bloße Stimme, zwar ohne Wort, aber nicht ohne Harmonie, zwar ohne Stärke, aber unwiderstehlich, verkündigt Gott im Innern unseres Herzens: alles, was wahrhaft schön im Menschen ist, geht hervor aus dem, was er innerlich und in freier Thätigkeit empfindet; jede heroische Handlung wird von der moralischen Freiheit eingehaucht; die Ergebung in den Willen Gottes – eine Handlung, welche alle Sensationen bekämpfen, und welche der Enthusiasmus allein eingiebt – ist so edel und so rein, daß die Engel selbst, wie tugendhaft und frei sie auch gedacht werden mögen, sie dem Menschen beneiden könnten.

Die Metaphysik, welche den Mittelpunkt des Lebens verrückt, indem sie annimmt, sein Antrieb komme von außen, beraubt den Menschen seiner Freiheit und zerstört sich selbst; denn es giebt keine geistige Natur mehr, sobald man sie mit der physischen Natur dergestalt vereinigt, daß man sie nur aus menschlicher Achtung unterscheidet. Diese Metaphysik ist nur dann konsequent, wenn man, [25] wie in Frankreich, den aus Sensationen gegründeten Materialismus und die auf den Eigennutz gestützte Moral daraus herleitet. In England ist die abstrakte Theorie dieses Systems entstanden, aber von ihren Folgerungen hat man keine einzige zugegeben. In Frankreich hat man nicht die Ehre der ersten Entdeckung, wohl aber die der Anwendung gehabt. In Deutschland hat man, seit Leibnitz, das System und seine Folgerungen bestritten; und wahrlich, es ist der aufgeklärten und religiösen Männer aller Nationen würdig, zu untersuchen, ob Grundsätze, deren Ergebnisse so verderblich sind, als unbestreitbare Wahrheiten betrachtet werden können.

Shaftesbury, Hutcheson, Smith, Reid, Dugald Stuart u. s. w. haben die Operationen unseres Verstandes mit einem seltenen Scharfblick studirt, besonders enthalten die Werke Dugald Stuarts eine so vollkommene Theorie der intellektuellen Vermögen, daß man sie, so zu sagen, als eine Naturgeschichte des moralischen Wesens betrachten kann: Jeder Einzelne muß hier einen Theil von sich wiederfinden. Welche Meinung man auch über den Ursprung der Ideen angenommen haben möge, so kann man doch die Nützlichkeit einer Arbeit nicht leugnen, welche den Zweck hat, ihren Gang und ihre Richtung zu untersuchen. Allein mit der Beobachtung des Entwickelungsganges unserer geistigen Vermögen ist nichts gethan; man muß zu der Quelle, derselben aufsteigen, um sich Rechenschaft abzulegen von der Natur und der Unabhängigkeit des Willens im Menschen.

Man kann die Frage, durch welche ausgemittelt werden soll, ob die Seele das Vermögen zu empfinden und zu denken durch sich selbst habe, [26] nicht als müßig betrachten. Es ist die Frage Hamlets: Seyn oder nicht seyn.

 

――――――――

 

1) Im Original âme. Die Verfasserin bemerkt hiebei in einer Note: Herr Ancillon, von welchem sie in der Folge des Werks mehr sagen werde, bediene sich dieses Ausdrucks in einem Buche, über welches man, nachzudenken, nicht müde werde.