BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Sechstes Capitel.

 

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Kant.

 

Kant hat ein sehr hohes Alter erreicht, und ist nie aus Königsberg gekommen. Unter den Eisschollen [55] des Norden hat er sein ganzes Leben damit zugebracht, über die Gesetze des menschlichen Geistes zu denken. Vermöge eines unermüdlichen Eifers hatte er Kenntnisse aller Art erworben. Die Wissenschaften, die Sprachen, die Literatur, alles war ihm geläufig; und ohne den Ruhm zu suchen, den er erst sehr spät genoß – denn erst in einem hohen Alter vernahm er den Wiederhall seines berühmten Namens – begnügte er sich mit dem stillen Vergnügen des Nachgrübelns. In seiner Einsamkeit betrachtete er seine Seele mit Andacht. Die Erforschung des Gedankens gab ihm neue Kräfte zur Unterstützung der Tugend; und ob er gleich mit den glühenden Leidenschaften der Menschen nie etwas zu schaffen hatte: so hat er doch Waffen für die geschmiedet, welche zur Bekämpfung derselben berufen seyn können.

Bei den Griechen hat man schwerlich ein Beispiel von einem so streng philosophischen Leben, und schon dieses Leben verbürgt die Ehrlichkeit des Schriftstellers. Zu dieser reinen Ehrlichkeit aber muß man einen feinen und gerechten Geist hinzudenken, der dem Genie zum Sittenrichter diente, wenn es sich allzuweit führen ließ. Dies, dünkt mich, ist genug, damit man zum wenigsten unpartheiisch über die beharrlichen Werke eines solchen Mannes urtheile.

Kant schrieb Anfangs über die physischen Wissenschaften, und zeigte in dieser Art von Studien einen solchen Scharfsinn, daß er das Daseyn des Planeten Uranus zuerst vorhersah. Herschel selbst hat nach der Entdeckung anerkannt, daß Kant diesen Planeten zuerst angekündigt hat. Seine Abhandlung über den menschlichen Verstand, betitelt: [56] Kritik der reinen Vernunft, erschien vor ungefähr dreißig Jahren, und dies Werk blieb eine Zeitlang unbekannt; als man aber endlich den Schatz von Ideen entdeckte, der darin enthalten war, machte es in Deutschland eine solche Sensation, daß alles, was seitdem im Fache der Literatur und der Philosophie zum Vorschein gekommen ist, von dem Antriebe herrührt, welchen jenes Werk gegeben hat.

Auf diese Abhandlung über den menschlichen Verstand folgte die Kritik der praktischen Vernunft, welche auf die Moral ging, und die Kritik der Urtheilskraft, welche die Natur des Schönen zum Gegenstande hatte. Dieselbe Theorie liegt diesen drei Abhandlungen zum Grunde, welche die Gesetze der Intelligenz, die Principe der Tugend, und die Betrachtung aller Schönheiten der Natur und der Künste umfassen.

Ich will versuchen, einen Ueberblick von den Haupt-Ideen zu geben, welche diese Lehre enthält. Aber wie sehr ich mich auch bemühen mag, sie mit Klarheit darzulegen: so verhehle ich mir nicht, daß es noch immer der Aufmerksamkeit bedarf, um sie zu fassen. Ein Fürst, der die Mathematik lernte, ward ungeduldig über die Mühe, welche dies Studium erforderte. „Ew. Hoheit, sagte sein Lehrer, müssen sich die Anstrengung nicht verdrießen lassen, die es kostet, um etwas zu lernen; denn in der Mathematik giebt es keinen Königsweg.“ Das französische Publikum, welches so viel Ursache hat, sich für einen Fürsten zu halten, wird wohl erlauben, daß man ihm sage, in der Metaphysik gebe es keinen Königsweg, und um irgend eine Theorie zu fassen, müsse man alle die Mittelwege einschlagen, [57] die den Urheber derselben zu den Resultaten geführt haben, welche er darstellt.

Die materialistische Philosophie übergab den menschlichen Verstand der Herrschaft äußerer Gegenstände, die Moral dem persönlichen Eigennutz, und wollte, daß das Schöne eins sey mit dem Angenehmen. Kant wollte die ursprünglichen Wahrheiten und die freiwillige Thätigkeit in dem Geiste, das Gewissen in der Moral, und das Ideal in den Künsten wieder herstellen. Untersuchen wir nun, auf welche Art er diese verschiedenen Zwecke erreicht hat.

Um die Zeit, wo die Kritik der reinen Vernunft erschien, gab es unter den Denkern nur zwei Systeme über den menschlichen Verstand; das Lockische, welches alle unsere Ideen unseren Sensationen zuschrieb, und das Descartische und Leibnitzische, welche darauf ausgingen, die Spiritualität und ursprüngliche Thätigkeit der Seele, den freien Willen, kurz die idealistische Lehre zu beweisen, wiewohl Descartes und Leibnitz ihre Lehre auf rein spekulative Beweise gründeten. In dem vorhergehenden Capitel habe ich von den Nachtheilen gesprochen, welche das Resultat jener angestrengten Abstraktion sind, die, um mich so auszudrücken, den Umlauf des Blutes hemmt, damit die intellektuellen Vermögen desto unumschränkter in uns herrschen mögen. Die algebraische Methode, angewendet auf Gegenstände, welche durch das bloße Raisonnement nicht gefaßt werden können, läßt in dem Geiste keine dauerhafte Spur zurück. Während man diese Schriften über hohe philosophische Conceptionen lieset, glaubt man sie zu verstehen, glaubt man sie zu glauben; aber selbst die Argumente, in welchen [58] die meiste Beweiskraft zu liegen schien, entschlüpfen der Erinnerung nur allzu leicht.

Beschränkt sich nun der von solchen Anstrengungen ermüdete Leser darauf, daß er nichts anerkennen will, was nicht von den Sinnen herrührt: so wird für ihn alles zu Schmerz werden. Wird er die Idee von Unsterblichkeit haben, wenn die Vorläufer der Zerstörung auf dem Antlitz der Sterblichen so tief eingegraben sind, und die lebende Natur unablässig in Staub zerfällt? Welche schwache Hoffnung würden wir vom Wiederaufleben haben, wenn alle Sinne vom Sterben sprächen? Und welche Idee könnten wir von der höchsten Güte haben, wenn wir nur unsere Sensationen um Rath fragten! So viele Schmerzen streiten sich um unser Leben, so viele abscheuliche Gegenstände entehren die Natur, daß die unglückliche Kreatur das Daseyn hundertmal verflucht, ehe es ihr durch einen letzten Krampf entrissen wird. Verwirft im Gegentheil der Mensch das Zeugniß der Sinne, woran soll er sich auf dieser Erde halten? Und wenn er nur ihnen glaubt, welcher Enthusiasmus, welche Moral, welche Religion würden den wiederholten Anfällen widerstehen, welche Schmerz und Vergnügen abwechselnd auf sie machen würden?

Das Nachdenken schwankte in dieser unermeßlichen Ungewißheit, als Kant den Versuch machte, die Gränzen der beiden Gebiete, der Sinne und der Seele, der intellektuellen Natur zu ziehen. Die Macht des Nachdenkens und die Weisheit, womit er diese Gränzen festsetzte, waren vor ihm vielleicht beispiellos gewesen. Er verirrte sich nicht in neue Systeme über die Schöpfung der Welt; er erkannte die Schranken, welche die ewigen Geheimnisse dem [59] menschlichen Geiste setzen; und was für Diejenigen, welche von Kant nur reden gehört haben, vielleicht ganz neu seyn wird, ist, daß es nie einen Philosophen gegeben hat, der in mehreren Beziehungen ein entschiedenerer Gegner der Metaphysik gewesen wäre. Wirklich ist er in diese Wissenschaft nur so tief eingedrungen, um die Mittel, welche sie gewährt, zur Nachweisung ihrer Unzulänglichkeit zu gebrauchen; man möchte sagen, er habe sich als ein zweiter Kurtius in diesen Schlund gestürzt, um ihn auszufüllen. Locke hatte die Lehre von den angebornen Ideen siegreich bekämpft, weil er die Ideen immer als einen Theil der Erfahrungs-Erkenntnisse dargestellt hat; die Erforschung der reinen Vernunft, d. h. der Unvermögen, aus welchen die Intelligenz besteht, beschäftigte seine Aufmerksamkeit nicht. Leibnitz, wie wir oben angeführt haben, sprach das erhabene Axiom aus: „Es ist nichts in dem Verstande, was nicht von den Sinnen herrührt, wofern es nicht der Verstand selbst ist.“ Kant hat, wie Locke erkannt, daß es keine angeborne Ideen gebe; aber er hat sich vorgenommen, in den Sinn des Leibnitzischen Axioms einzudringen, indem er untersucht, welches die Gesetze und die Gefühle sind, die das Wesen der menschlichen Seele unabhängig von aller Erfahrung constituiren. Die Kritik der reinen Vernunft legt es darauf an, zu zeigen, worin diese Gesetze bestehen, und welches die Gegenstände sind, an welchen sie ausgeübt werden können.

Der Skepticismus, zu welchem der Materialismus in der Regel führt, war so weit getrieben worden, das Hume sogar die Grundfeste des Raisonnements erschüttert hatte; dadurch nehmlich, [60] daß er Beweise gegen das Axiom aufstellte: Keine Wirkung ohne Ursache. So groß ist die Unstätigkeit der menschlichen Natur, wenn man das Princip aller Ueberzeugung nicht in den Mittelpunkt der Seele stellt, daß der Unglaube, welcher immer mit Angriffen auf das Daseyn der moralischen Welt beginnt, zuletzt dahin gelangt, auch die materielle Welt zu zerstören, deren er sich Anfangs nur zum Umsturz der ersteren bedient hatte.

Kant wollte wissen, ob die absolute Gewißheit dem menschlichen Geiste möglich wäre, und er hat sie nur in den nothwendigen Notionen gefunden, d. h. in allen den Gesetzen unseres Verstandes, welche von einer solchen Beschaffenheit sind, daß wir nur dasjenige fassen können, was diese Gesetze uns gestatten.

Zu den ersten gebietenden Formen unseres Geistes gehören Raum und Zeit; und Kant beweiset, daß alle unsere Perceptionen diesen beiden Formen unterworfen sind. Er schließt daraus, daß sie in uns selbst, nicht in den Gegenständen enthalten sind, und daß in dieser Hinsicht unser Verstand der äußerlichen Natur Gesetze vorschreibt, anstatt sie von derselben zu empfangen. Die Geometrie, welche den Raum misset, und die Arithmetik, welche die Zeit theilet, sind Wissenschaften von vollendeter Evidenz, weil sie auf den nothwendigen Notionen unseres Geistes beruhen.

Die durch Erfahrung erworbenen Wahrheiten führen diese absolute Gewißheit nicht mit sich. Wenn man sagt: die Sonne geht alle Tage auf, alle Menschen sind sterblich u. s. w.: so könnte die Einbildungskraft eine Ausnahme in Hinsicht dieser Wahrheiten gestatten, welche die Erfahrung [61] allein außer Zweifel stellt. Allein die Einbildungskraft selbst kann nichts voraussetzen, was außer dem Raum und der Zeit liegt; und man kann folglich diese Formen unseres Gedankens, die wir den Dingen aufdrücken, durchaus nicht als das Resultat der Gewohnheit, d. h. der Wiederholung derselben Phänomene betrachten. Die Sensationen können zweifelhaft seyn, aber das Prisma, durch welches wir sie erhalten, ist unveränderlich.

Dieser ursprünglichen Anschauung des Raumes und der Zeit muß man die Principe des Raisonnements, ohne welche wir nichts begreifen können, und die daher die Gesetze unserer Intelligenz sind, hinzufügen oder vielmehr zur Grundlage geben: den Zusammenhang zwischen Ursach und Wirkung, die Einheit, die Vielheit, die Ganzheit, die Möglichkeit, die Wirklichkeit, die Nothwendigteit u. s. w. 1) Auch diese betrachtet Kant als nothwendige Notionen, und zum Range der Wissenschaften erhebt er nur die, welche unmittelbar auf diese Notionen gegründet sind, weil die Gewißheit nur in ihnen vorhanden seyn kann. Die Formen des Raisonnements geben erst dann ein Resultat, wenn man sie auf das Urtheil äußerer Gegenstände anwendet, und in dieser Anwendung sind sie dem Irrthum unterworfen. Allein sie sind deshalb nicht minder nothwendig in sich selbst, d. h. wir können uns in keinem unserer Gedanken von ihnen losmachen; es ist uns unmöglich, uns irgend etwas vorzustellen außerhalb der Beziehungen von Ursache und Wirkung, von Möglichkeit, von Quantität u. s. w., und diese [62] Notionen inhäriren unseren Begriffen eben so sehr, als Raum und Zeit. Nur vermittels der unveränderlichen Gesetze unserer Art zu raisonniren, nehmen wir etwas wahr. Folglich sind auch diese Gesetze in uns selbst, nicht außer uns.

In der deutschen Philosophie nennt man subjective Ideen diejenigen, welche aus der Natur unserer Intelligenz und der Vermögen derselben entstehen; objective hingegen alle diejenigen, welche durch äußere Gegenstände angeregt sind. Welche Benennung man auch in dieser Hinsicht annehmen möge, mir kommt es vor, daß die Erforschung unseres Geistes mit dem Hauptgedanken Kants übereinstimmt, d. h. mit dem Unterschied, welchen er feststellt zwischen den Formen unseres Verstandes und den Gegenständen, welche wir nach diesen Formen erkennen; und es sey nun, daß er sich festhalte an abstrakte Conceptionen, oder daß er, in der Religion und Moral, an die Gefühle appellire, welche er gleichfalls als unabhängig von der Erfahrung betrachtet: so ist nichts so lichtvoll, als diese Gränzlinie, welche er zwischen dem, was aus den Sensationen, und dem, was aus der freien Thätigkeit unserer Seele herrührt, ziehet.

Indem einige Ausdrücke der Kantischen Lehre falsch gedeutet worden sind, hat man behauptet, er glaube an Erkenntnisse a priori, d. h. an solche, welche unserem Geist eingegraben sind, ehe wir sie erlernt haben. Andere deutsche Philosophen, welche sich dem platonischen Systeme mehr nähern, haben in der That gedacht: der Typus der Welt sey in dem menschlichen Geiste, und der Mensch könne das Universum nur in sofern in sich aufnehmen, als er das angeborne Bild desselben in sich trage. Allein [63] von dieser Lehre ist im Kant gar nicht die Rede. Er führt die intellektuellen Wissenschaften a[uf] drei zurück, nehmlich auf die Logik, die Metaphysik und die Mathematik. Die Logik lehrt nichts durch sich selbst; da sie aber auf den Gesetzen unseres Verstandes beruht, so ist sie ihren Principen, wenn diese abstrakt betrachtet werden, unwidersprechlich; nur in ihrer Anwendung auf Ideen und Dinge kann diese Wissenschaft zur Wahrheit führen; ihre Principe sind angeboren, ihre Anwendung ist Sache der Erfahrung. Nur die mathematischen Wissenschaften scheinen unmittelbar von der Notion des Raumes und der Zeit, d. h. von den Gesetzen unseres Verstandes abzuhängen, und folglich vor aller Erfahrung zu stehen; und Kant beweiset, daß die Mathematik nicht eine bloße Analysis, sondern eine synthetische, positive, schöpferische und in sich selbst zuverlässige Wissenschaft ist, so daß man, um sich ihrer Wahrheit zu versichern, gar nicht nöthig hat, auf die Erfahrung zurückzugehen. In Kants Werke kann man die Beweise lesen, auf welche er diese Ansicht stützt; aber wahr ist wenigstens, daß Niemand mehr als Er ein Feind der Philosophie ist, die man die Philosophie der Träumer nennt, und daß er bei weitem mehr zu einer trockenen und didaktischen Art zu denken hinneigt, obgleich seine Lehre den Endzweck hat, das durch den Materialismus herabgewürdigte Menschengeschlecht empor zu heben.

Weit davon entfernt, die Erfahrung zu verwerfen, betrachtet Kant das ganze Lebensgeschäft nur als die Wirkung unserer angebornen Vermögen auf die uns von außen her kommenden Erkenntnisse. Er glaubt, die Erfahrung würde ohne die Gesetze des [64] Verstandes nur ein Chaos seyn, daß aber diese Gesetze nur die, durch die Erfahrung gegebenen Elemente zum Gegenstande haben. Hieraus folgt, daß die Metaphysik, jenseits ihrer Gränzen, uns nichts lehren kann, und daß man dem Gefühl das Vorherwissen und die Ueberzeugung alles dessen, was zur sichtbaren Welt gehört, zuschreiben muß.

Will man sich bloß des Raisonnements bedienen, um die religiösen Wahrheiten festzustellen, so ist dies ein Werkzeug, das sich nach allen Seiten biegt, und das eben sowohl zum Angriff als zur Vertheidigung gebraucht werden kann, weil sich in dieser Hinsicht in der Erfahrung kein Stützpunkt finden läßt. Kant stellt die Argumente für und wider die Freiheit des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, die vergängliche und ewige Dauer der Welt in zwei Parallellinien, und appellirt alsdann an das Gefühl, um den Ausschlag zu geben; denn die metaphysischen Beweise scheinen ihm auf beiden Seiten von gleicher Stärke. 2) Vielleicht hat er Unrecht daran gethan, den Skepticismus so weit zu treiben; allein am sichersten vernichtet man den Skepticismus, indem man aus gewissen Fragen die abstrakten Erörtungen entfernt, die ihn ins Leben gerufen haben.

Es würde ungerecht seyn, die aufrichtige Frömmigkeit Kants in Zweifel zu ziehen, weil er behauptet hat, es sey in den Raisonnements für und wider die großen Fragen der übersinnlichen Metaphysik vollkommene Gleichheit. Mir kommt es sogar vor, [65] als liege in diesem Geständniß Herzensreinheit. Nur eine sehr geringe Zahl von Geistern ist im Stande, dergleichen Raisonnements zu fassen, und die, welche diese Fähigkeit haben, sind so geneigt, einander zu bekämpfen, daß man dem religiösen Glauben einen großen Dienst erweiset, wenn man die Metaphysik aus allen den Fragen verbannt, die sich auf das Daseyn Gottes, auf den freien Willen, auf den Ursprung des Guten und Bösen beziehen.

Einige achtungswerthe Männer haben zwar gesagt: man müsse keine Waffe verschmähen, und auch die metaphysischen Argumente müssen benutzt werden, um Diejenigen zu überführen, welche sich ihrer Herrschaft unterworfen; allein diese Argumente führen zur Diskussion, und diese zum Zweifel, der Gegenstand sey, welcher er wolle.

Die schönen Epochen des Menschengeschlechts sind immer die gewesen, wo Wahrheiten einer gewissen Ordnung weder durch Schriften noch durch Reden bestritten wurden. Die Leidenschaften konnten zu Frevelthaten hinreissen; aber Niemand zog die Religion in Zweifel, der er nicht gehorchte. Sophismen aller Art (Misbräuche einer gewissen Philosophie) haben in verschiedenen Ländern und Jahrhunderten jene edle Festigkeit des Glaubens, die Quelle heroischer Aufopferung zerstört. Ist es also nicht für einen Philosophen eine sehr schöne Idee, der Wissenschaft, zu welcher er sich bekennt, den Einschritt in das Heiligthum zu verbieten, und die ganze Stärke der Abstraktion auf den Beweis zu verwenden, daß es Regionen giebt, aus welchen sie verbannt werden muß?

Despoten und Fanatiker haben versucht, der menschlichen Vernunft die Erforschung gewisser Gegenstände [66] zu untersagen, und immer hat sich die Vernunft von diesen ungerechten Hemmnissen befreit. Allein die Gränzen, welche sie sich selbst vorschreibt, unterjochen sie nicht nur nicht, sondern geben ihr sogar eine neue Stärke, nämlich die, welche aus der Autorität solcher Gesetze hervorgeht, in welche Diejenigen, die sich ihnen unterwerfen, mit Freiheit eingewilligt haben.

Ein Taubstummer könnte, auch ehe er von dem Abbe Sicard erzogen worden, eine innere Gewißheit von dem Daseyn Gottes haben. Sehr viele Menschen stehen zu den tiefen Denkern in eben dem Verhältniß, worin die Taubstummen zu den übrigen Menschen stehen; gleichwol sind sie nicht minder fähig, die ursprünglichen Wahrheiten an sich selbst zu erkennen, weil diese Wahrheiten in das Gebiet des Gefühls gehören.

In dem physischen Studium des Menschen erkennen die Aerzte das Princip, das ihn beseelt, und doch weiß keiner zu sagen, was das Leben ist; und wenn man darüber zu raisonniren begönne, so könnte man, wie einige griechische Philosophen es wirklich gethan haben, den Menschen beweisen, daß sie nicht leben. Eben so verhält es sich mit Gott, dem Gewissen, dem freien Willen. Man muß daran glauben, weil man sie fühlt. Jedes Argument ordnet sich immer dieser Thatsache unter.

An einem lebendigen Körper kann die Anatomie sich nicht üben, ohne ihn zu zerstören; und indem die Analysis sich an untheilbaren Wahrheiten versucht, verändert sie ihr Wesen schon dadurch, daß sie ihre Einheit beeinträchtigt. Wenn die eine Hälfte unserer Seele die andere beobachten soll, so muß unsere Seele sich theilen; und auf welche Weise [67] diese Theilung auch Statt habe: so raubt sie unserem Wesen die erhabene Identität, ohne welche wir nicht die erforderliche Kraft haben, das zu glauben, was das Gewissen allein bestätigen kann.

Man vereinige eine große Menschenzahl im Theater oder auf einem öffentlichen Platze, und trage ihr vor, welche Raisonnements-Wahrheit oder welche allgemeine Idee man wolle – und man wird beinahe eben so viele verschiedene Meinungen sich offenbaren sehen, als es versammelte Individuen giebt. Dagegen, wenn einige Züge von Seelengröße erzählt werden, oder einige Töne von Großmuth sich vernehmen lassen: so zeigt ein einhälliges Entzücken, daß man jenen Instinkt der Seele berührt hat, der in unserem Wesen eben so lebhaft, eben so mächtig ist, als der das Leben erhaltende Instinkt.

Indem Kant die Kenntniß übersinnlicher Wahrheiten auf ein Gefühl bezieht, das keinen Zweifel gestattet, indem er zu beweisen sucht, daß das Raisonnement nur in der Sphäre der Sensationen Gültigkeit hat, ist er weit davon entfernt, die Macht des Gefühls für eine Täuschung zu halten; er weiset demselben vielmehr den ersten Rang in der menschlichen Natur an; er macht aus dem Gewissen das angeborne Princip unserer moralischen Existenz, und das Gefühl des Gerechten und des Ungerechten ist in seiner Ansicht eben so das ursprüngliche Gesetz des Herzens, wie Raum und Zeit das des Verstandes.

Hat der Mensch nicht mit Hülfe des Raisonnements den freien Willen geläugnet? Und doch ist er von dem Daseyn desselben so überzeugt, daß er zu seinem eigenen Erstaunen Achtung oder Verachtung [68] selbst gegen die Thiere in sich wahrnimmt; so sehr glaubt er an eine freie Wahl des Guten und des Bösen in allen Wesen.

Nur unser Gefühl giebt uns Gewißheit von unserer Freiheit, und diese Freiheit ist die Grundlage der Lehre von der Pflicht; denn wenn der Mensch frei ist, so muß er sich selbst Bewegungsgründe schaffen, welche die Wirkung der äußerlichen Gegenstände bekämpfen und den Willen von dem Egoismus losreissen. Die Pflicht ist zugleich der Beweis und die Gewährleistung von der metaphysischen Unabhängigkeit des Menschen.

In den folgenden Capiteln werden wir Kants Argumente gegen die auf den persönlichen Eigennutz gegründete Moral, und die erhabene Theorie untersuchen, welche er an die Stelle dieses heuchlerischen Sophisma, oder dieser verkehrten Lehre bringt. In Hinsicht des ersten Kantischen Werks, ich meine die Kritik der reinen Vernunft kann es zweierlei Ansichten geben; gerade weil er selbst das Raisonnement für unzureichend und contradictorisch erkannt hat, mußte er sich darauf gefaßt machen, daß man es gegen ihn richten könnte. Allein, es scheint mir unmöglich, seine Kritik der practischen Vernunft, und die verschiedenen Schriften, deren Gegenstand die Moral ist, nicht mit Hochachtung zu lesen.

Kants Moralprincipe sind nicht bloß streng und rein, wie man sie von der philosophischen Unbeugsamkeit erwarten darf, sondern er vereinbart auch beständig die Evidenz des Herzens mit der des Verstandes, und findet ein besonderes Wohlgefallen daran, seine abstrakte Theorie über die Natur [69] der Intelligenz zur Unterstützung der einfachsten und stärksten Gefühle dienen zu lassen.

Ein durch die Sensationen erworbenes Gewissen, würde von Sensationen erstickt werden können, und man setzt die Würde der Pflicht herab, wenn man sie abhängig macht von äußeren Gegenständen. Kant kommt also immer wieder darauf zurück, daß das tiefe Gefühl dieser Würde die nothwendige Bedingung unseres moralischen Wesens und das Gesetz sey, wodurch dieses existirt. Die Herrschaft der Sensationen und die schlechten Handlungen, zu welchen sie verführen, können in uns den Begriff des Guten und des Bösen eben so wenig zerstören, als der Begriff von Raum und Zeit durch die Fehlgriffe verändert wird, welche wir uns in der Anwendung zu Schulden kommen lassen. In welcher Lage man sich auch befinden möge: so giebt es immer eine Gegenwirkung gegen die Umstände, welche aus dem Innersten des Gemüths hervorgeht; und man fühlt sehr wohl, daß weder die Gesetze des Verstandes, noch die moralische Freiheit, noch das Gewissen in uns von der Erfahrung herrühren.

In seiner Abhandlung über das Erhabene und Schöne, betitelt Kritik der Urtheilskraft, wendet Kant dasselbe System, aus welchem er für die Sphäre der Intelligenz und des Gefühls so fruchtbare Folgerungen gezogen hat, auf die Vergnügungen der Einbildungskraft an, oder vielmehr es ist dasselbe Gemüth, welches er untersucht, und das sich in den Wissenschaften, in der Moral und den schönen Künsten offenbart. Kant behauptet, daß es in der Poesie und in den Künsten, welche, wie jene, die Gefühle durch Bilder zu mahlen würdig sind, zwei Arten von Schönheit giebt, von welchen sich die eine auf [70] die Zeit und auf dies Leben, die andere auf das Ewige und Unendliche bezieht.

Und man sage doch nicht, daß das Unendliche und Ewige unbegreiflich sey; gerade das Endliche und Flüchtige konnte man sich bisweilen versucht fühlen, für einen Traum zu halten; denn der Gedanke entdeckt nirgend das Ziel, und das Nichts kann nicht von dem Seyn begriffen werden. Man kann die strengen Wissenschaften selbst nicht ergründen, ohne das Unendliche und Ewige in ihnen anzutreffen; die positivesten Dinge gehören, in gewissen Beziehungen, eben so sehr zu diesem Unendlichen und diesem Ewigen, als das Gefühl und die Einbildungskraft.

Aus dieser Anwendung des Gefühls des Unendlichen auf die schönen Künste muß das schöne Ideal hervorgehen, d. h. das Schöne, nicht als die Vereinigung und Nachbildung dessen, was in der Natur das Beste ist, sondern als das realisirte Bild dessen, was unser Gemüth sich darstellt. Die materialistischen Philosophen beurtheilen das Schöne nach dem angenehmen Eindruck, den es verursacht, und setzen es folglich in das Gebiet der Sensationen. Die spiritualistischen Philosophen, welche Alles auf die Vernunft beziehen, sehen in dem Schönen das Vollkommene, und finden darin eine Analogie mit dem Nützlichen und dem Guten, welches die ersten Grade des Vollkommenen sind. Kant hat beide Erklärungsarten verworfen.

Bloß als angenehm betrachtet, würde das Schöne in der Sphäre der Sensationen begriffen seyn, und folglich der Verschiedenheit des Geschmacks unterliegen; es könnte nicht jene allgemeine Bestimmung verdienen, die der wahre Charakter der [71] Schönheit ist. Das Schöne, als Vollkommenheit genommen, würde eine Art von Urtheil erfordern, welches dem ähnlich wäre, was die Hochachtung begründet. Der Enthusiasmus, den es einschließen muß, steht weder mit den Sensationen, noch mit dem Urtheil in Verbindung; es ist eine angeborne Anlage, wie das Gefühl der Pflicht und die nothwendigen Verstandesbegriffe, und wir erkennen das Schöne, sobald wir es sehen, weil es das äußere Bild des Ideals ist, dessen Typus sich in unserer Intelligenz befindet. Die Verschiedenheit des Geschmacks findet ihre Anwendung nur auf das Angenehme; denn die Sensationen sind die Quelle dieser Art des Vergnügens. Dagegen müssen alle Menschen das Schöne bewundern, es mag der Natur oder den Künsten angehören; denn sie tragen in ihrem Gemüthe die Gefühle göttlichen Ursprungs, welche das Schöne weckt und zu Gegenständen des Bewußtseyns und Genusses erhebt.

Von der Theorie des Schönen geht Kant zur Theorie des Erhabenen über, und dieser zweite Theil seiner Kritik der Urtheilskraft ist noch merkwürdiger, als der erste. Er setzt nehmlich das Erhabene in die moralische Freiheit, im Kampfe mit dem Geschick oder mit der Natur. Macht ohne Gränze erschreckt uns; Größe drückt uns zu Boden. Gleichwol entrinnen wir dem Gefühl unserer physischen Schwäche durch die Stärke des Willens. Die Gewalt des Schicksals und die Unermeßlichkeit der Natur stehen in einem unendlichen Gegensatze zu der jammervollen Abhängigkeit der Kreatur auf Erden. Allein ein Funke himmlischen Feuers in unserem Busen triumphirt über das Universum, weil dieser Funken ausreicht zum Widerstand gegen Alles, [72] was die Kräfte der Welt von uns fordern können. Die erste Wirkung des Erhabenen ist, den Menschen niederzudrücken; die zweite, ihn zu erheben. Beym Anblick des Sturms, der die Wellen des Meeres in Aufruhr setzt und Himmel und Erde zu bedrohen scheint, bemächtigt sich unserer zuerst das Entsetzen, selbst wenn keine persönliche Gefahr uns erreichen kann: allein, wenn die Wolken sich thürmen, wenn die ganze Wuth der Natur losbricht, so fühlt der Mensch eine innere Stärke, die ihn von allen Befürchtungen befreien kann, entweder durch den Willen, oder durch die Ergebung, entweder durch die Ausübung oder durch die Entsagung der moralischen Freiheit; und dieses Bewußtseyn seiner selbst belebt ihn von neuem und flößt ihm Muth ein.

Erzählt man uns eine großmüthige Handlung, sagt man uns, daß Menschen unerhörte Martern gelitten haben, um ihrer Meinung treu zu bleiben, mahlt man uns dies recht vollständig aus: so verwirrt das Bild der Peinigungen, welche sie ausgestanden, Anfangs unsere Gedanken, aber allmählig gewinnen wir unsere Kräfte wieder, und die Sympathie, welche wir für Seelengröße empfinden, läßt uns hoffen, daß auch wir über die elenden Sensationen des Lebens triumphiren können, um wahr und edel und stolz zu bleiben bis ans Ende unserer Tage.

Uebrigens vermag uns niemand zu definieren, was, so zu sagen, den Gipfel unseres Daseyns bildet. „Wir sind,“ sagt der h. Augustin, „in Hinsicht auf uns selbst, viel zu hoch gestellt, um uns zu begreifen.“ Der würde sehr arm an Einbildungskraft [73] seyn, der da glauben könnte, er sey im Stande, die Betrachtung der einfachsten Blume zu erschöpfen. Wie sollte man also dahin gelangen, Alles zu kennen, was die Idee des Erhabenen in sich schließt?

Gewiß schmeichle ich mir nicht, auf wenigen Seiten Rechenschaft abgelegt zu haben von einem System, welches, seit zwanzig Jahren, alle denkenden Köpfe Deutschlands beschäftigt hat; aber ich glaube darüber genug gesagt zu haben, um den allgemeinen Geist der Kantischen Philosophie anzudeuten, und um in den folgenden Capiteln den Einfluß zu erklären, den sie auf die Literatur, die Wissenschaften und die Moral ausübt.

Um die Erfahrungs-Philosophie mit der idealistisches gehörig zu versöhnen, hat Kant nicht die eine der anderen unterworfen; allein er hat beiden einen neuen Grad von Stärke zu geben gewußt. Deutschland war von der dürftigen Lehre bedroht, welche in jedem Enthusiasmus eine Verirrung sah, und die beruhigenden Gefühle des Lebens mit den Vorurtheilen in eine Klasse warf. Für Menschen, die zugleich so philosophisch und so poetisch, so empfänglich für Studium und Begeisterung waren, war es eine große Genugthuung, die schönsten Affectionen des Gemüths durch die Strenge der abstraktesten Raisonnements vertheidigt zu sehen. Die Kraft des Geistes kann niemals lange negativ seyn, d. h. nicht in dem bestehen, was man nicht glaubt, nicht begreift, und eben deswegen herabwürdigt. Es bedarf einer Philosophie des Glaubens, des Enthusiasmus, einer Philosophie, welche durch die Vernunft bekräftigt, was das Gefühl uns offenbart. [74]

Kants Gegner haben den Philsophen von Königsberg beschuldigt, er habe die Argumente der alten Idealisten nur wiederholt; sie haben behauptet, seine Lehre sey nur das alte System in einem neuen Gewande. Dieser Vorwurf ist ungegründet. Nicht bloß neue Ideen, sondern selbst ein eigenthümlicher Character ist in der Lehre Kants enthalten.

Obgleich im Wesentlichen bestimmt, die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts zu widerlegen, hat sie doch das Eine und das Andere mit derselben gemein; denn die Natur des Menschen bringt es mit sich, sich dem Geiste seiner Zeit anzuschmiegen, selbst dann, wenn er auf Bekämpfung desselben ausgebt. Platons Philosophie ist poetischer, als die Kantische, und Mallebranche's Philosophie ist religiöser; allein das große Verdienst des deutschen Philosophen besteht darin, daß er die moralische Würde gehoben hat; dadurch nemlich, daß er allem Schönen des Herzens eine engverbundene Theorie zur Grundlage gegeben hat. Der Gegensatz, den man zwischen Vernunft und Gefühl zu bringen gesucht hat, führt die Vernunft nothwendig zum Egoismus, und das Gefühl eben so nothwendig zur Albernheit: aber Kant, welcher berufen schien, alle großen intellectuellen Bündnisse zu schließen, hat aus dem Gemüth einen Flammenpunct gemacht, wo alle Vermögen unter sich in Eintracht sind.

Der polemische Geist von Kants Werken, d. h. der, in welchem er die materialistische Philosophie angreift, würde an und für sich ein Meisterstück seyn. Diese Philosophie hatte in den Geistern so tiefe Wurzeln geschlagen, und es war aus ihr so viel Irreligion und Egoismus hervorgegangen, daß [75] man alle Ursache hatte, diejenigen als Wohlthäter ihres Landes zu betrachten, die sie auch nur bestritten, und die Gedanken eines Platon, Descartes und Leibnitz von neuem belebten: aber die Philosophie der neuen deutschen Schule enthält eine Menge ganz eigenthümlicher Ideen; sie ist auf unermeßliche Erkenntnisse gegründet, die sich mit jedem Tage vermehrt haben, und auf eine Methode des Raisonnements, die auf eine ausgezeichnete Weise abstrakt und logisch ist. Denn obgleich Kant die Anwendung dieser Raisonnements aus Wahrheiten, welche außerhalb des Kreises der Erfahrung liegen, tadelt: so zeigt er doch in seinen Schriften eine Stärke des Kopfs im Fache der Metaphysik, die ihn in diesem Betracht den ersten Denkern gleichsetzet.

Man kann nicht läugnen, daß Kants Styl in der Kritik der reinen Vernunft alle die Vorwürfe verdient, die seine Gegner ihm gemacht haben. Er hat sich einer schwierigen Terminologie und des ermüdendsten Neologismus bedient; allein er lebte einsam mit seinen Gedanken, und überredete sich, daß man für neue Ideen neue Wörter brauche, ob es gleich für Alles Worte giebt.

Bei Gegenständen, welche durch sich selbst ganz klar sind, nimmt Kant bisweilen eine sehr dunkle Metaphysik zur Führerin, und nur bei den Dunkelheiten des Gedankens schwingt er eine strahlende Fackel, erinnernd an die Israeliten, welche des Nachts eine Flammensäule, des Tages eine Wolkensäule zur Führerin hatten.

In Frankreich würde sich niemand die Mühe gegeben haben, so von Schwierigkeiten strotzende Werke zu studiren, wie Kants Werke sind; aber er hatte es mit geduldigen und ausharrenden Lesern [76] zu thun. Unstreitig war dies kein Grund, sie zu misbrauchen; vielleicht aber würde er in der Wissenschaft des menschlichen Verstandes nicht so tiefe Forschungen angestellt haben, wenn er auf die Ausdrücke, deren er sich bediente, größeres Gewicht gelegt hätte. Die alten Philosophen haben ihre Lehre immer in zwei wesentlich verschiedene Theile gesondert, nemlich in den, der für die Eingeweiheten, und in den, der für das Publikum bestimmt war. Kants Schreibart ist durchaus verschieden, wenn es auf seine Theorie, oder wenn es auf die Anwendung dieser Theorie ankommt.

In seinen metaphysischen Abhandlungen nimmt er die Wörter als Chiffern, und giebt ihnen einen beliebigen Werth, ohne sich um denjenigen zu bekümmern, den sie durch den Gebrauch haben. Dies ist, dünkt mich, ein großer Irrthum; denn die Aufmerksamkeit des Lesers erschöpft sich im Begreifen des Sprachgebrauchs, ehe er zu den Ideen gelangt, und das Bekannte dient nie zur Stufenleiter, um das Unbekannte zu erfassen.

Bei dem allen muß man Kant die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er, selbst als Schriftsteller verdient, wenn er seinem wissenschaftlichen Sprachgebrauch entsagt. Spricht er von den Künsten, besonders aber von der Moral, so ist sein Styl beinahe immer vollkommen klar, nachdrücklich und einfach. Wie bewundernswürdig erscheint alsdann seine Lehre! Wie herrlich drückt er das Gefühl des Schönen und die Liebe für die Pflicht aus! Mit welcher Stärke sondert er beides von aller Berechnung des Eigennutzes oder der Nützlichkeit! Wie veredelt er die Handlungen durch ihre Quelle und nicht durch ihren Erfolg! Kurz, welche moralische [77] Größe versteht er dem Menschen zu geben, er mag ihn an und für sich, oder in seinen äusseren Beziehungen erforschen; den Menschen, diesen Verbannten des Himmels, so groß als Verbannter, so elend als Gefangener!

Aus Kants Schriften könnte man eine Menge glänzender Ideen über alle Gegenstände ziehen, und vielleicht hängt es der Lehre an, daß sich scharfsinnige und neue Ansichten nur aus ihr schöpfen lassen; denn der materialistische Gesichtspunkt bietet in keinem Stücke noch etwas Anziehendes und Originelles dar. Abgenutzt ist das Stechende des Witzes, gegen das Ernste, Edle, Göttliche; und man wird künftig dem menschlichen Geschlechte nur dadurch eine Jugendkraft wiedergeben, daß man durch die Philosophie zur Religion, und durch die Vernunft zum Gefühl zurückkehrt.

 

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1) Kant giebt den verschiedenen nothwendigen Notionen des Verstandes, deren Gemählde er entwirft, die Benennung der Kathegorie. 

2) In der Kritik der reinen Vernunft werden diese entgegengesetzten Argumente über die großen metaphysischen Fragen Antinomieen genannt.