BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

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Deutschland.

 

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Allgemeine Bemerkungen.

 

Der Ursprung der vornehmsten Völker Europa's läßt sich auf drei verschiedene Hauptstämme zurückbringen: auf den lateinischen, den deutschen und den slavischen Stamm. Von den Römern erhielten ihre Ausbildung und ihre Sprache die Italiener, Franzosen, Spanier und Portugiesen; die Deutschen, Schweizer, Engländer, Schweden, Dänen und Niederländer sind teutonischen Ursprungs; unter den slavischen Stammvölkern nehmen die Polen und Russen die ersten Stellen ein. Die Völkerschaften, deren Geistesentwickelung lateinischen Ursprungs ist, erhielten dadurch einen Vorsprung vor den übrigen, und haben im Ganzen von ihren Ahnherren, den Römern, eine scharfsinnige Gewandtheit in Führung der Welthändel geerbt. Der Gründung des Christenthums gingen bei ihnen bürgerliche Einrichtungen voraus, die sich aus der [16] heidnischen Religion herschrieben; und als späterhin die nordischen Völker sie unterjocht hatten, nahmen eben diese Völker, in mancherlei Hinsicht, die Sitten der eroberten Länder an.

Allerdings wurde diese allgemeine Bemerkung durch Clima, Regierungsart und Geschichtfolge jeder dieser Länder bestimmt und beschränkt. So hat z. B. die geistliche Gewalt in Italien unvertilgbare Spuren zurückgelassen; so sind die kriegerischen Gewohnheiten, der unternehmende Geist der Spanier, Folgen der langen Kriege dieses Volks mit den Arabern. Gleichwohl trägt, im Allgemeinen, derjenige Theil von Europa, dessen Sprachen von der lateinischen abstammen, und welcher frühzeitig in die römische Politik eingeweiht wurde, die Spur einer ältern, ursprünglich heidnischen Ausbildung. Man sieht ihm weniger, als den germanischen Stammvölkern, die Neigung zu abstracten Ideen an; er giebt sich williger irdischen Vortheilen, irdischen Vergnügungen hin; und vor allen verstehen sich diese Völker, wie ihre Vorbilder, die Römer, ausschließlich auf die Herrschkunst.

Von jeher widerstanden die germanischen Völkerschaften dem Joche der Römer; sie erhielten ihre Ausbildung in spätern Zeiten, und allein vom Christenthum; gingen unmittelbar von einer Art von Wildheit zur christlichen Geselligkeit über; in die Ritterzeiten, in den Geist des Mittelalters fallen ihre lebendigsten Erinnerungen; und haben gleich die Gelehrten dieser Länder, mehr noch als die von Rom abstammenden Völker, sich die griechischen und römischen Schriftsteller eigen gemacht, so athmet doch in den deutschen Werken mehr ein natürlich-alter Urgeist, als der Geist des Alterthums. Ihre Einbildungskraft verweilt gern in [17] alten Schlössern und Thürmen, mitten unter Kriegern, Hexen und Gespenstern; tiefe, einsame Träumereien sind die Grundfarbe, der Hauptreiz ihrer Dichtungen.

Die Analogie unter den teutonischen Völkerstämmen ist unverkennbar. Zwar verdanken die Engländer ihrer Constitution eine gesellschaftliche Würde, die sie über ihre Mitnationen erhebt; gleichwohl finden sich bei sämrntlichen Völkern germanischen Ursprungs die nämlichen Grundzüge wieder. Von jeher zeichneten sie sich durch Unabhängigkeit und Rechtlichkeit aus; von jeher waren sie bieder und treu; und vielleicht sind es gerade diese Eigenschaften, die ihren Schriften einen Anstrich von Schwermüthigkeit mittheilen; denn ist es nicht das Schicksal ganzer Nationen, wie einzelner Menschen, für ihre Tugenden zu büßen?

Die Ausbildung der slavischen Stämme mußte, da sie später und eilfertiger erfolgte, als die der übrigen Völker, zur Folge haben, was man bis jetzt an derselben bemerkt: mehr Nachahmung als Originalität. Das Europäische dieser Völker ist französisch; das Asiatische zu wenig entwickelt, als daß ihre Schriftsteller den wahren, ihnen angestammten Character zur Schau tragen könnten.

Folglich giebt es im literarischen Europa nur zwei sehr deutliche Hauptabtheilungen, nämlich: die den Alten nachgeahmte Literatur, und die, welche dem Geiste des Mittelalters ihr Entstehen verdankt; jene, die ihre ursprüngliche Farbe, ihren ursprünglichen Reiz vom Heidenthume herleitet, und diese, deren Impuls und Entwickelung einer wesentlich-spiritualistischen Religion angehören.

Man könnte mit Recht behaupten, daß die Franzosen und die Deutschen an den beiden äußersten Enden der moralischen Kette stehen, da jene die [18] äußeren Gegenstände als den Hebel aller Ideen annehmen, und diese die Ideen für den Hebel aller Eindrücke halten. Denn obschon beide Nationen in den gesellschaftlichen Verhältnissen ziemlich nachbarlich übereinstimmen, so giebt es doch einen himmelweiten Unterschied zwischen ihnen, sobald es auf literarische und philosophische Systeme ankommt. Das intellectuelle Deutschland kennt man in Frankreich beinahe gar nicht; nur wenig dortige Gelehrte haben sich dieser Forschung unterzogen, obschon derer, die das gelehrte Deutschland beurtheilen, weit mehr sind. Jener leichte unterhaltende Ton, mit welchem man über das abspricht, was man nicht weiß, kann seine Eleganz haben, so lange man spricht, verliert sie aber, sobald man schreibt. Die Deutschen begehen oft den Fehler, was in die Bücher gehört, zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen; die Franzosen verfallen nicht selten in den entgegengesetzten Fehler; sie geben uns zu lesen, was bloß zum Hören sich eignete. Sie haben, mit einem Worte, dergestalt alles Oberflächliche erschöpft, daß sie, dünkt mich, der Unterha[l]tung, und vor allem, der Abwechselung wegen, es einmal mit der Tiefe versuchen sollten.

Ich habe es daher für nicht unvortheilhaft gehalten, dasjenige Land Europa's, wo Studium und Nachdenken so weit gediehen sind, daß man es als das Vaterland des Denkens ansehen kann, allgemein bekannter zu machen. Die Bemerkungen, worauf mich sowohl das Land selbst, als dessen Literatur gebracht, machen vier Abtheilungen aus. In der ersten wird Deutschland und seine Sitten abgehandelt; in der zweiten, Literatur und Kunst; in der dritten, Philosophie und Moral; in der vierten, Religion und Enthusiasmus. Nothwendigerweise [19] gehen diese Gegenstände oft einer in den andern über. Der Nationalcharacter hat Einfluß auf die Literatur, Literatur und Philosophie auf die Religion. Das Ganze allein kann jeden Theil ganz darstellen; nur mußte man sich einer Scheineintheilung unterziehen, um zuletzt alle Strahlen in einen gemeinschaftlichen Brennpunkt auffangen zu können.

Ich habe es mir keineswegs Hehl, daß ich, in der Literatur sowohl als in der Philosophie, Meinungen aufstellen werde, die mit den bisher in Frankreich herrschenden im Gegensatz stehen. Immerhin! mögen diese Meinungen richtig oder unrichtig scheinen; mag man sie annehmen oder bestreiten; genug, sie geben Anlaß zum Denken. „Denn dahin, will ich hoffen, ist es bei uns nicht gekommen, daß man um das literarische Frankreich die große Mauer von China ziehen wolle, um allen Ideen von aussen den Eingang zu verwehren.“ 1)

Läßt es sich als möglich denken, daß die deutschen Schriftsteller, die gelehrtesten Männer, die denkendsten Köpfe Europa's, es nicht verdienen sollten, daß man ihrer Literatur und ihrer Philosophie [20] einige Aufmerksamkeit schenke? Man wirft der ersten den Mangel an Geschmack, der zweiten den Ueberfluß an Unsinn vor. Gleichwohl könnte man darauf antworten: eine Literatur, die von unserem Gesetzbuche des guten Geschmacks nicht gebilligt werde, enthalte vielleicht neue Ideen, mit welchen wir, wenn wir sie auf unsere Weise ummodelten, die unsrige bereichern könnten. So danken wir den Griechen den Racine; so dankt Voltaire Shakespear'n mehrere seiner Trauerspiele. Die Dürre, die das Feld unserer Literatur bedroht, leitet zum Glauben, daß die Pflanze des französischen Geistes gegenwärtig eines stärkeren Nahrungssaftes bedürfe; und da die Feinheit des guten Welttons uns jederzeit vor gewissen Fehlern sicher stellen wird, so liegt uns allerdings viel daran, die Quelle großer Schönheiten wieder aufzufinden.

Nachdem man, im Namen des guten Geschmacks, die deutsche Literatur von sich abgewehrt, glaubt man ebenfalls befugt zu seyn, im Namen der Vernunft ihre Philosophie von sich zu weisen. Geschmack und Vernunft sind Redensarten, die sich gut im Munde führen lassen, sey's auch nicht immer an der rechten Stelle: ist es aber (ehrlich gesprochen!) denkbar, daß Männer von unermeßlicher Gelehrsamkeit, und denen die französischen Werke nicht weniger bekannt sind, als uns, sich seit zwanzig Jahren mit nichts, als mit baarem Unsinn, befaßt haben sollten?

In Jahrhunderten des Aberglaubens heißt leicht jede neue Meinung Ketzerei; so wie Jahrhunderte des Unglaubens sie eben so leicht mit dem Namen des Wahnsinns belegen. Im sechszehnten Jahrhundert wurde Galilei der Inquisition überantwortet, weil er behauptet hatte, die [21] Erde drehe sich um ihre Achse; im achtzehnten hat es Männer gegeben, in deren Augen J. J. Rousseau ein schwärmerischer Andächtler war. Meinungen, die sich von dem herrschenden Zeitgeiste (welcher es sey,) entfernen, sind der Menge ein Aergerniß; Forschung und Prüfung führen allein zu der Liberalität des Urtheils, ohne welche es unmöglich ist, zu neuen Kenntnissen zu gelangen, oder nur die schon erreichten zu bewahren. Denn man unterwirft sich gewissen angenommenen Ideen nicht, wie man sich der Wahrheit, sondern wie man sich der Gewalt unterwirft; und so gewöhnt sich die menschliche Vernunft zur Knechtschaft, selbst in den Gefilden der Literatur und der Philosophie.

 

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1) Das hier und an andern Stellen mit Häkchen Bezeichnete zeigt die von den Pariser Censoren gestrichenen Stellen an. Im zweiten Bande haben sie kein verwerfliches Wort gefunden. Im dritten fanden die Capitel über den Enthusiasmus, und vorzüglich der Schluß des Werks, nicht Gnade vor ihren Augen. Ich war erbötig, mich ihrem Richterstuhl auf eine negative Art zu unterwerfen, d.h. alles auszustreichen, ohne etwas an die Stelle zu setzen; aber die Gendarmerie, die mir der Polizeiminister über den Hals schickte, censirte mein Werk auf eine etwas handgreiflichere Art: sie zerstörte es.