BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Der Reichston

1198/1201

 

Ich saz ûf eime steine (L 8,4)

Ich hôrte ein wazzer diezen (L 8,28)

Ich sach mit mînen ougen (L 9,16)

 

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I

Ich saz ûf eime steine

(Reichsklage)

L 8,4

Ich saz ûf eime steine,

dô dahte ich bein mit beine,

dar ûf sazte ich mîn ellenbogen,

ich hete in mîne hant gesmogen

5

daz kinne und ein mîn wange,

dô dâhte ich mir vil ange,

wie man zer welte solte leben,

deheinen rât kunde ich mir gegeben,

wie man driu dinc erwurbe,

10

der deheines niht verdurbe:

diu zwei sint êre und varnde guot,

der ietweders dem andern schaden tuot,

daz dritte ist gotes hulde,

der zweier übergulde.

15

die wolde ich gerne in einen schrîn:

jâ, leider desn mac niht gesîn,

daz guot und weltlich êre

und gotes hulde mêre

in einen schrîn mügen komen.

20

stîge und wege sint in genomen:

untriuwe ist in der sâze,

gewalt ist ûf der strâze,

fride unde reht sint beidiu wunt.

diu driu enhabent geleites niht,

25

diu zwei enwerden ê gesunt.

 

 

II

Ich hôrte ein wazzer diezen

(Weltklage)

L 8,28

Ich hôrte ein wazzer diezen

und sach die vische fliezen,

ich sach swaz in der welte was,

walt, velt, loup, rôr unde gras,

5

swaz fliuzet unde fliuget

oder bein zer erde biuget,

daz sach ich unde sage iu daz:

deheinez lebet âne haz.

daz wilt und daz gewürme

10

die strîtent starke stürme,

alsô tuont die vogel under in,

wan daz si habent einen sin,

– si wæren anders ze nihte –

si schaffent guot gerihte,

15

si setzent künege unde reht

und schaffent hêrren unde kneht.

sô wê dir, tiuschiu zunge,

wie stêt dîn ordenunge,

daz nû diu mugge ir künig hât

20

und daz dîn êre alsô zergât!

bekêrâ dich, bekêre!

die cirkel sint ze hêre,

die armen künege dringent dich:

Philippe setze den weisen ûf

25

und heiz si treten hinder sich.

 

 

III

Ich sach mit mînen ougen

(Kirchenklage)

L 9,16

Ich sach mit mînen ougen

manne und wîbe tougen,

dâ ich gehôrte und gesach,

swaz ieman tet, swaz ieman sprach:

5

ze Rôme hôrte ich liegen

und zwêne künige triegen.

dâ von huop sich der meiste strît,

der ê wart oder iemer sît,

dô sich begunden zweien

10

pfaffen unde leien,

dâ was ein nôt vor aller nôt,

lîp unde sêle lag dâ tôt.

die pfaffen striten sêre,

doch wart der leien mêre.

15

diu swert legten si dâ nider,

si griffen an die stôle wider,

si bienen die si wolten

und niht den si solten.

dô stôrte man diu gotes hûs,

20

dô hôrte ich verre in einer klûs

vil michel ungebære.

dâ weinde ein klôsenære,

er klagete gote siniu leit:

«owê, der bâbest ist ze jung,

25

hilf, hêrre, dîner kristenheit.»