BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Gerhardt

1607 - 1676

 

Geistliche Andachten.

Bestehend in hundert und

zwantzig Liedern.

 

VIII. Lied *)

 

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An das Angesicht des HErrn JEsu.

 

1.

 

O Haupt vol Blut und Wunden /

Vol Schmertz und voller Hohn!

O Haupt zum Spott gebunden

Mit einer Dornen Krohn!

O Haupt! sonst schön geziehret

Mit höchster Ehr und Ziehr /

Itzt aber höchst schimpfiret /

Gegrüsset seyst du mir.

 

2.

 

Du edles Angesichte /

Dafür sonst schrickt und scheut

Das grosse Welt=Gewichte /

Wie bist du so bespeyt?

Wie bist du so erbleichet?

Wer hat dein Augenlicht /

Dem sonst kein Licht nicht gleichet /

So schändlich zugericht?

 

3.

 

Die Farbe deiner Wangen /

Der rothen Lippen Pracht

Ist hin / und gantz vergangen:

Des blassen Todes Macht

Hat alles hingenommen /

Hat alles hingerafft /

Und daher bist du kommen

Von deines Leibes Krafft.

 

4.

 

Nun was du / HErr / erduldet /

Ist alles meine Last:

Ich hab es selbst verschuldet

Was du getragen hast.

Schau her / hier steh ich Armer /

Der Zorn verdienet hat /

Gib mir / o mein Erbarmer /

Den Anblick deiner Gnad.

 

5.

 

Erkenne mich / mein Hüter /

Mein Hirte / nim mich an:

Von dir / Quell aller Güter /

Ist mir viel guts gethan:

Dein Mund hat mich gelabet

Mit Milch und süsser Kost /

Dein Geist hat mich begabet

Mit mancher Himmels=Lust.

 

6.

 

Ich wil hier bey dir stehen /

Verachte mich doch nicht:

Von dir wil ich nicht gehen /

Wann dir dein Hertze bricht /

Wann dein Haupt wird erblassen

Im letzten Todesstoß /

Alsdann wil ich dich fassen

In meinen Arm und Schooß.

 

7.

 

Es dient zu meinen Freuden /

Und kömmt mir hertzlich wol /

Wann ich in deinem Leyden /

Mein Heyl / mich finden sol!

Ach möcht ich / O mein Leben /

An deinem Creutze hier

Mein Leben von mir geben!

Wie wol geschehe mir!

 

8.

 

Ich dancke dir von Hertzen /

O Jesu / liebster Freund

Für deines Todes Schmertzen /

Da dus so gut gemeint:

Ach gib / daß ich mich halte

Zu dir und deiner Treu /

Und wann ich nun erkalte /

In dir mein Ende sey.

 

9.

 

Wann ich einmal sol scheiden /

So scheide nicht von mir!

Wann ich den Tod sol leyden /

So tritt du dann herfür:

Wann mir am allerbängsten

Wird umb das Hertze seyn:

So reiß mich aus den Aengsten /

Krafft deiner Angst und Pein.

 

10.

 

Erscheine mir zum Schilde /

Zum Trost in meinem Tod /

Und laß mich sehn dein Bilde

In deiner Creutzes=Noht.

Da wil ich nach dir blicken /

Da wil ich Glaubens vol

Dich fest an mein Hertz drücken.

Wer so stirbt / der stirbt wol.

 

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*)

Dieses Passionslied ist eine Nachdichtung eines Hymnus aus einem siebenteiligen, lateinischen Liederzyklus, der lange Bernhard von Clairvaux zugeschrieben wurde, der aber von Arnulf von Löwen (ca. 1200 - 1250), Abt im Zisterzienserkloster Villers im heutigen Belgien, verfasst wurde. In den sieben Hymnen werden die leidenden Gliedmaßen Jesu, die Füße, die Knie, die Hände, die Seite, die Brust, das Herz und das Haupt besungen.