BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

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am 19. Juny.

 

Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weis ich nicht mehr, das weis ich, daß es zwey Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und daß, wenn ich dir hätte vorschwäzzen können, statt zu schreiben, ich dich vielleicht bis an Tag aufgehalten hätte.

Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle passirt ist, hab ich noch nicht erzählt, hab auch heute keinen Tag dazu.

Es war der liebwürdigste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nikten ein. Sie fragte mich, ob ich nicht auch von der Parthie seyn wollte, ihrentwegen sollt ich unbekümmert seyn. So lang ich diese Augen offen sehe, sagt' ich und [45] sah sie fest an, so lang hats keine Gefahr. Und wir haben beyde ausgehalten, bis an ihr Thor, da ihr die Magd leise aufmachte, und auf ihr Fragen vom Vater und den Kleinen versicherte, daß alles wohl sey und noch schlief. Und da verließ ich sie mit dem Versichern: sie selbigen Tags noch zu sehn, und hab mein Versprechen gehalten, und seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthschaft treiben, ich weis weder daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.