BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

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am 6. Juli.

 

Sie ist immer um ihre sterbende Freundinn, und ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige holde Geschöpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie gieng gestern Abend mit Mariannen und dem kleinen Malgen spazieren, ich wußt es und traf sie an, und wir giengen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so werth ist, und nun tausendmal werther ward, als Lotte sich auf's Mäuergen sezte. Ich sah umher, ach! und die Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf. Lieber Brunn, sagt ich, seither hab ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, habe in eilen[60]dem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn. Ich blikte hinab und sah, daß Malgen mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. Ich sahe Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem so kommt Malgen mit einem Glase, Marianne wollt es ihr abnehmen, nein! rufte das Kind mit dem süßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du sollst zuerst trinken! Ich ward über die Wahrheit, die Güte, womit sie das ausrief, so entzükt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfieng. Sie haben übel gethan, sagte Lotte! Ich war betroffen. Komm Malgen, fuhr sie fort, indem sie es an der Hand nahm und die Stufen hinabführte; da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind, da thut's nichts. Wie ich so da stund und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine mit seinen nassen Händgen die Bakken rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült, und die Schmach abgethan würde, einen häslichen Bart zu kriegen. Wie Lotte sagte, es ist genug, und das Kind doch [61] immer eifrig fort wusch, als wenn Viel mehr thäte als Wenig. Ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beygewohnt, und als Lotte herauf kam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.

Des Abends konnt ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat. Aber wie kam ich an. Er sagte, das wäre sehr übel von Lotten gewesen, man solle die Kinder nichts weis machen, dergleichen gäbe zu unzählichen Irrthümern und Aberglauben Anlaß, man müßte die Kinder frühzeitig davor bewahren. Nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ ich's vorbey gehn und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern machen, wie Gott mit uns, der uns am glüklichsten macht, wenn er uns im freundlichen Wahne so hintaumeln läßt.