BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Erster Theil

 

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am 8. Aug.

 

Ich bitte dich, lieber Wilhelm! Es war gewiß nicht auf dich geredt, wenn ich schrieb: schafft mir die Kerls vom Hals, die sagen, ich sollte mich resigniren. Ich dachte warlich nicht dran, daß du von ähnlicher Meinung seyn könntest. Und im Grunde hast du recht! Nur eins, mein Bester, in der Welt ist's sehr selten mit dem Entweder Oder gethan, es giebt so viel Schattirungen der Empfindungen und Handlungsweisen, als Abfälle zwischen einer Habichts- und Stumpfnase.

Du wirst mir also nicht übel nehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument einräume, und mich doch zwischen dem Entweder Oder durchzustehlen suche.

Entweder sagst du, hast du Hofnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut! Im ersten Falle [76] such sie durchzutreiben, suche die Erfüllung deiner Wünsche zu umfassen, im andern Falle ermanne dich und suche einer elenden Empfindung los zu werden, die all deine Kräfte verzehren muß. Bester, das ist wohl gesagt und – bald gesagt.

Und kannst du von dem Unglüklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle durch einen Dolchstos der Quaal auf einmal ein Ende machen? Und raubt das Uebel, das ihm die Kräfte wegzehrt, ihm nicht auch zugleich den Muth, sich davon zu befreyen?

Zwar könntest du mir mit einem verwandten Gleichnisse antworten: Wer liesse sich nicht lieber den Arm abnehmen, als daß er durch Zaudern und Zagen sein Leben auf's Spiel sezte – Ich weis nicht – und wir wollen uns nicht in Gleichnissen herumbeissen. Genug – Ja, Wilhelm, ich habe manchmal so einen Augenblik aufspringenden, abschüttelnden Muths, und da, wenn ich nur wüste wohin, ich gienge wohl.