BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 20. Jan.

 

Ich muß Ihnen schreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen Bauernherberge, in die ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet habe. Solange ich in dem traurigen Neste D.. unter dem fremden, meinem Herzen ganz fremden [125] Volke herumziehe, hab' ich keinen Augenblik gehabt, keinen, an dem mein Herz mich geheissen hätte Ihnen zu schreiben. Und jezt in dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung, da Schnee und Schlossen wider mein Fenstergen wüthen, hier waren Sie mein erster Gedanke. Wie ich herein trat, überfiel mich Ihre Gestalt, Ihr Andenken. O Lotte! so heilig, so warm! Guter Gott! der erste glükliche Augenblik wieder.

Wenn Sie mich sähen meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie ausgetroknet meine Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fülle des Herzens, nicht Eine selige, thränenreiche Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe wie vor einem Raritätenkasten, und sehe die Männgen und Gäulgen vor mir herumrükken, und frage mich oft, ob's nicht optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr, ich werde gespielt wie eine Marionette, und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück.

Ein einzig weiblich Geschöpf hab ich hier gefunden. Eine Fräulein von B.. Sie gleicht Ihnen liebe Lotte, wenn man Ihnen gleichen kann. [126]Ey! werden Sie sagen: der Mensch legt sich auf niedliche Komplimente! Ganz unwahr ist's nicht. Seit einiger Zeit bin ich sehr artig, weil ich doch nicht anders seyn kann, habe viel Wiz, und die Frauenzimmer sagen: es wüste niemand so fein zu loben als ich (und zu lügen, sezzen Sie hinzu, denn ohne das geht's nicht ab, verstehen Sie:) Ich wollte von Fräulein B.. reden! Sie hat viel Seele, die voll aus ihren blauen Augen hervorblikt, ihr Stand ist ihr zur Last, der keinen der Wünsche ihres Herzens befriedigt. Sie sehnt sich aus dem Getümmel, und wir verphantasiren manche Stunde in ländlichen Scenen von ungemischter Glükseligkeit, ach! und von Ihnen! Wie oft muß sie Ihnen huldigen. Muß nicht, thut's freywillig, hört so gern von Ihnen, liebt Sie –

O säs ich zu Ihren Füssen in dem lieben vertraulichen Zimmergen, und unsere kleinen Lieben wälzten sich miteinander um mich herum, und wenn sie Ihnen zu laut würden, wollt ich sie mit einem schauerlichen Märgen um mich zur Ruhe versammlen. Die Sonne geht herrlich unter über der schneeglänzenden Gegend, der Sturm ist hin[127]über gezogen. Und ich – muß mich wieder in meinen Käfig sperren. Adieu! Ist Albert bey Ihnen? Und wie –? Gott verzeihe mir diese Frage!