BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 16. Merz.

 

Es hezt mich alles! Heut treff ich die Fräulein B.. in der Allee. Ich konnte mich nicht enthalten sie anzureden, und ihr, sobald wir etwas entfernt von der Gesellschaft waren, meine Empfindlichkeit über ihr neuliches Betragen zu zeigen. O Werther, sagte sie mit einem innigen Tone, konnten Sie meine Verwirrung so auslegen, da Sie mein Herz kennen. Was ich gelitten habe um ihrentwillen von dem Augenblikke an, da ich in den Saal trat! Ich sah' alles voraus, hundertmal saß mir's auf der Zunge, es Ihnen zu sagen, ich wußte, daß die von S.. und T.. mit ihren Männern eher aufbrechen würden, als in Ihrer Gesellschaft zu bleiben, ich wußte, daß der Graf es nicht mit Ihnen verderben darf, und jezo der Lärm. – Wie Fräulein? sagt' ich, und verbarg meinen Schrekken, denn alles was Adelin mir ehgestern gesagt hatte, lief mir wie siedend Wasser durch die Adern in diesem Augenblikke. – Was hat mich's schon gekostet! sagte das süsse Geschöpf, [135] indem ihr die Thränen in den Augen stunden. Ich war nicht Herr mehr von mir selbst, war im Begriff, mich ihr zu Füssen zu werfen. Erklären sie sich, ruft ich: Die Thränen liefen ihr die Wangen herunter, ich war ausser mir. Sie troknete sie ab, ohne sie verbergen zu wollen. Meine Tante kennen sie, fieng sie an; sie war gegenwärtig, und hat, o mit was für Augen hat sie das angesehn. Werther, ich habe gestern Nacht ausgestanden, und heute früh eine Predigt über meinen Umgang mit Ihnen, und ich habe müssen zuhören Sie herabsezzen, erniedrigen, und konnte und durfte Sie nur halb vertheidigen.

Jedes Wort, das sie sprach, gieng mir wie Schwerder durch's Herz. Sie fühlte nicht, welche Barmherzigkeit es gewesen wäre, mir das alles zu verschweigen, und nun fügte sie noch all dazu, was weiter würde geträtscht werden, was die schlechten Kerls alle darüber triumphiren würden. Wie man nunmehro meinen Uebermuth und Geringschäzzung andrer, das sie mir schon lange vorwerfen, gestraft, erniedrigt ausschreien würde. Das alles, Wilhelm, von ihr zu hören mit der Stimme [136] der wahrsten Theilnehmung. Ich war zerstört, und bin noch wüthend in mir. Ich wollte, daß sich einer unterstünde mir's vorzuwerfen, daß ich ihm den Degen durch den Leib stossen könnte! Wenn ich Blut sähe würde mir's besser werden. Ach ich hab hundertmal ein Messer ergriffen, um diesem gedrängten Herzen Luft zu machen. Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schröklich erhizt und aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeissen, um sich zum Athem zu helfen. So ist mir's oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freyheit schaffte.