BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Wolfgang Goethe

1749 - 1832

 

Die Leiden

des jungen Werthers

 

Zweyter Theil

 

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am 21. Nov.

 

Sie sieht nicht, sie fühlt nicht, daß sie einen Gift bereitet, der mich und sie zu Grunde richten wird. Und ich mit voller Wollust schlurfe den Becher aus, den sie mir zu meinem Verderben reicht. Was soll der gütige Blik, mit dem sie mich oft – oft? – nein nicht oft, aber doch manchmal ansieht, die Gefälligkeit, womit sie einen unwillkührlichen Ausdruk meines Gefühls aufnimmt, das Mitleiden mit meiner Duldung, das sich auf ihrer Stirne zeichnet.

Gestern als ich weggieng, reichte sie mir die Hand und sagte: Adieu, lieber Werther! Lieber Werther! Es war das erstemal, daß sie mich Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein. Ich hab mir's hundertmal wiederholt und gestern Nacht da ich in's Bette gehen wollte, und mit mir selbst allerley schwazte, sag ich so auf einmal: [162] gute Nacht, lieber Werther! Und mußte hernach selbst über mich lachen.