BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Johann Christoph Gottsched

1700 - 1766

 

Der Biedermann

 

1727

 

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Dreyzehntes Blatt 1727. den 28. Julii.

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PRUDENTIUS.

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Ille quidem fomes nostrorum & caussa malorum est.

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49:1

DAdurch, daß ich neulich dem ältesten Sohne meines Freundes zu gefallen, ein

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Stück von seiner Ubersetzung in meine Blätter eingerücket, habe ich seinem jüngern

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Bruder den Weg gebahnet, mir ein gleiches zuzumuthen. Eine

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edle Nacheiferung hat ihn angespornet, auch eine Probe von seiner Poesie den

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Kennern dieser freyen Kunst vor Augen zu legen. Ich würde ihm solches Ansinnen

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rund abgeschlagen haben; wenn er sich nicht mit seiner Feder an eine recht wichtige

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Materie gewaget hätte, die endlich wohl werth ist, daß ich ihr unter meinen ernsthafftesten

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Gedancken einen Platz einräume. Er hat, wie meine Leser sehen werden, über das allgemeine

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Verderben des menschlichen Willens seine Gedancken ausgelassen; so wie er von

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seinem vernünfftigen Lehrer Aristides davon unterrichtet worden. Verständige Leser werden

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bald sehen, theils ob mein Euphrastus den Nahmen eines Poeten verdiene; theils ob

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er weiter zu nichts als ein paar Zeilen in Reime zu zwingen, geschickt sey? Die Prüfung

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seines Gedichtes wird einem jeden frey gestellt. So lautet es:

 

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WIr Menschen sind verderbt: Der Satz ist offenbar.

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Allein wer macht uns wohl der Boßheit Quellen klar?

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Wie kommt es, fragt man offt, daß unser Thun und Lassen

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Dem Bösen günstig ist, das Gute pflegt zu hassen?

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Wer macht die Sterblichen zur Tugend ungeschickt?

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Wer hat das Hertz verkehrt, den blöden Sinn verrückt,

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Halb blind, halb taub gemacht? O könnt ich dieß ergründen,

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Und aller Laster Brunn ein wenig Reime binden!

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Was ist Verstand und Witz? Ein dick=umnebelt Licht,

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Das kaum zwey Spannen weit durch Dampf und Irrthum bricht.

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Vermag sein schwacher Strahl gleich etwas zu erkennen;

49:25

So ist sein Wissen doch fast nichts von dem zu nennen,

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Was ihm verborgen bleibt. So gar die kleine Zahl

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Der Dinge, so er weiß, verstattet nicht einmahl

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Sie völlig einzusehn und deutlich zu erblicken.

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Die Wahrheit scheint ihr Licht mit Finsterniß zu schmücken,

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Und sieht wie Falschheit aus. Allein es scheinet nur;

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Die Wahrheit hat nicht Schuld: Der Mensch verläst die Spur.

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Es fehlt ihm an Vernunfft, das Wahre zu entscheiden,

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Dem Irrthum zu entgehn, das Böse zu vermeiden.

50:1

Er kehrt fast alles um. Ein Würfel heißt ein Ey,

50:2

Ein Riese wird ein Zwerg. Verkehrte Phantasey,

50:3

Die uns den Geist verrückt; das Hertz zur Thorheit zwinget,

50:4

Und in die Sclaverey der ärgsten Laster bringet.

50:5

Daß macht, daß unser Geist in einer Hütten wohnt

50:6

Wo lauter Unvernunfft und Lust und Trägheit thront.

50:7

Der Cörper ist das Haus, das lauter Zunder heget,

50:8

Dadurch der Lüste Glut in volle Flammen schläget.

50:9

Die Sinne stellen nie den Kern der Dinge vor,

50:10

Ein äußerlicher Schein füllt Auge, Mund und Ohr,

50:11

Fast alles schmücket sich durch ein verstelltes Gleißen,

50:12

Der Geist ist viel zu schwach die Larven abzureißen,

50:13

Die ihm ein Fallstrick sind. So bald ein Affterlicht

50:14

Mit trüben Strahlen spielt, und nur das Auge spricht:

50:15

Dort gläntzt ein Morgenstern: so läßt er sich bewegen,

50:16

Und eilt mit Hertzenslust dem blassen Schein entgegen,

50:17

Der ihn doch nur verführt. Hier lobt der Mund den Wein:

50:18

Sogleich stürtzt ihn der Arm mit vollen Bechern ein.

50:19

Der schwache Geist verspielt, wenn Feinde mit ihm kämpfen,

50:20

Die schlau und unvermerckt ihm Muth und Kräffte dämpfen.

50:21

Daher stammt nun die Brut des bösen Willens ab.

50:22

Wer sonst im Dunckeln tappt fällt leichtlich in ein Grab,

50:23

Und wo Verstand und Witz das Böse nützlich heissen,

50:24

Wo Hertz und Sinne sich nach falschen Gütern reissen,

50:25

Durchbricht der Lüste Strom der Lebens=Regeln Damm,

50:26

Beschwemmt die matte Brust mit faulem Sünden=Schlamm,

50:27

Erhitzet Blut und Geist, verwehnet Leib und Glieder,

50:28

Dann legt auch die Vernunfft den schwachen Scepter nieder.

50:29

Also, wie mich bedünckt, ist Adams Fall geschehn,

50:30

Er hatte zwar in GOtt sein höchstes Gut gesehn,

50:31

Gesehn, und wohl erkannt, man müsse GOtt verehren,

50:32

Und seine Wohlfahrt nicht durch Frevelthaten stöhren.

50:33

Doch seht, sein Geist verliert, aus Unvollkommenheit,

50:34

Den wohlgefaßten Satz mit aller Deutlichkeit.

50:35

Wie eifrig GOtt gesucht sein Hertze zu gewinnen,

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Das alles dämpft in ihm der Eindruck reger Sinnen.

50:37

Und endlich fällt er gar. Warum? Ein schlauer Feind,

50:38

Den Adam noch nicht kennt und nicht zu fürchten scheint,

50:39

Verbirgt sich in den Glantz der schönen Seraphinen,

50:40

Die seinen Augen längst bewunderns werth geschienen.

50:41

Die Schlange preiset ihm den süßen Apfel an,

50:42

Sie spricht: Geneuß die Frucht, die göttlich machen kan.

51:1

So wird der Sinn betäubt, der Witz ist eingenommen,

51:2

Dem Geiste dünckt es gut, dem Höchsten gleich zu kommen.

51:3

Wer handelt wohl so klug als der sein Bestes sucht?

51:4

Nun streckt der Arm sich hin, er bricht und ißt die Frucht,

51:5

Die Frucht, von deren Gifft die Väter sammt den Erben,

51:6

Auf GOttes Richter=Spruch an Leib und Seele sterben.

51:7

So ists, gerechter GOtt, doch deine Heiligkeit

51:8

Bleibt hier und überall von aller Schuld befreyt.

51:9

War nicht die gantze Welt vollkommen gut erschaffen?

51:10

Sie wars; besaß ein Hirsch gleich nicht den Witz der Affen,

51:11

War schon des Monden Licht kein heller Sonnenschein,

51:12

Und konnte gleich der Mensch kein GOtt, kein Engel seyn:

51:13

Ein jedes Ding behielt sein unverändert Wesen,

51:14

Und als es wircklich ward, so hatt es GOtt erlesen,

51:15

Weil seine Weißheit es in diesem Bau der Welt,

51:16

Den er sich ausgedacht, zu schaffen fest gestellt.

51:17

Was der begreifft ist gut, und selbst von GOtt beschlossen,

51:18

Es ist aus freyer Wahl des höchsten Guts geflossen.

51:19

Ich weiß wohl, manches Ding sieht schlecht und wandelbar,

51:20

Verwirrt und elend aus; doch blieb es, wie es war.

51:21

Die Geyer kehrte GOtt in keine Turteltauben,

51:22

Der Wolf ward nicht ein Schaaf, die Bären gehn noch rauben.

51:23

Ein Rabe stiehlt. Warum? Es gieng nicht anders an.

51:24

Wo ist nun ein Gesetz das GOtt verbinden kan,

51:25

(Gewiß man muß allhier der frommen Einfalt lachen)

51:26

Den Adam nicht zum Mann, ach nein, zum GOtt zu machen?

51:27

An dir, an dir o Mensch, liegt deines Unglücks Schuld,

51:28

Indessen trägt dich doch dein Schöpfer mit Gedult.

51:29

Wir wissen von Natur uns selber nicht zu rathen,

51:30

Wir brechen sein Gesetz durch tausend Ubelthaten,

51:31

Verstand und Geist ist blind und sieht sein bestes nicht,

51:32

Und ob gleich die Vernunfft und ihr geschwächtes Licht

51:33

In Griechenland und Rom durch schöne Wissenschafften

51:34

Den Weg zur Wohlfahrt wieß; so wollt es doch nicht hafften.

51:35

Die Lüste sind ein Roß, das niemand zähmen kan.

51:36

Indessen nimmt sich GOtt der Menschenkinder an,

51:37

Sein Sohn wird unser Heyl, vollbringt des Vaters Willen,

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Er lehrt mit Wort und Werck des Höchsten Wort erfüllen,

51:39

Erleuchtet den Verstand und tilgt die Boßheit aus,

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Verspricht den Seinen gar ein ewig Freuden=Haus,

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Und will es aller Welt zum Gnadenlohne schencken,

51:42

Dafern sie sich nur läßt zu seiner Liebe lencken.

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Dein Heylbegieriger, und väterlicher Sinn,

51:44

O Schöpfer dieser Welt! gieng freylich wohl dahin,

51:45

Uns alle von der Macht des Todes zu erlösen:

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Allein des Menschen Hertz klebt gar zu sehr am Bösen.

51:47

Dein Vorsatz war zu schwer, und unsre Pest zu groß.

51:48

Wer macht uns wohl so gleich von allen Lastern loß?

51:49

Wir treiben mit Gewalt den guten Geist zurücke,

51:50

Wir wehrens, daß er uns durch keine Tugend schmücke,

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Das ist die Art der Welt. Doch deine Freundlichkeit

52:2

Verschont, was sie verschmäht, und giebt dem Frevler Zeit.

52:3

Sie dämpft des Fleisches Wuth, so frech sie sich empöret,

52:4

Und wenn sie gleich nicht weicht, ja sich wohl gar vermehret,

52:5

So hebest du doch offt den stärcksten Wiederstand,

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Und bietest fast mit Zwang auch einem Saul die Hand,

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Der sie doch von sich stieß. Was will man ferner sagen?

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Denckt unser Fürwitz dich als grausam anzuklagen,

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Daß, da du voller Macht und voller Güte bist,

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Dir doch dein Gnadenwerck nicht stets gelungen ist:

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Daß tausend Sünder noch in ihren Lüsten wühlen,

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Und keinen solchen Zug zu Buß und Glauben fühlen,

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Der sie bezwingt, besiegt, und Hertz und Willen bricht?

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O nein, du ziehst sie wohl; allein sie folgen nicht.

52:15

Dein Sohn kan selber nicht Capernaum bekehren,

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Durch Wunder, die doch dort so starck gewesen wären,

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Als Sodoms Boßheit war. Ein Zweifel fällt mir ein;

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Wie kanst du hier so reich an großen Thaten seyn,

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Und warum ließ dein Arm nicht dort ein Wunder mercken?

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Sechs Städte würden ja mit wenig Allmachts=Wercken

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Gewiß bekehret seyn: Du liessest keins geschehn;

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Gomorrha muste nichts als lauter Rache sehn.

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Warum muß Chorazim des Glaubens Gnadenlehren,

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Warum Bethsaida, warum nicht Tyrus hören,

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Nicht Sidon, die sich doch viel leichter bessern kan?

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Den frechen Petrus blickt sein holder Meister an,

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Den er so freventlich verleugnend abgeschworen,

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Ein Judas aber geht in seiner Schuld verlohren.

52:29

HErr! wär es dir ein Ernst uns alle zu erhöhn,

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Wer könnte deiner Macht und Wirckung wiederstehn?

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Wen sollte nicht dein Ruf, dein starcker Ruf bezwingen,

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Davon die Todten selbst aus ihren Hölen springen?

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Doch halt, ich bin zu kühn! O GOtt, dein weiser Schluß

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Hebt meine Zweifel auf, daß ich mich schämen muß.

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Mensch, soll die Allmacht denn allein die Welt regieren?

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Soll lauter Gnad und Huld das gantze Ruder führen?

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Du fehlst! die Weißheit herrscht, die Weißheit herrscht allein.

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In ihren Schlüssen muß der Grund verborgen seyn,

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Warum diß so geschieht. GOtt hat die Welt erwehlet,

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An deren Schönheit nichts, auch nicht das mindste fehlet,

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Wo Kunst und Harmonie aus jedem Theil erhellt,

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Allwo kein Sperling stirbt, kein Haar vom Haupte fällt,

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Kein Glücks= kein Unglücks=Fall die Menschen treffen sollen,

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Die GOttes Weißheit nicht zum Theil verhengen wollen,

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Zum Theil erlaubet hat. Da, da flieht Paulus hin,

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In diese Tiefe sinckt sein Gottgelaßner Sinn.

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Er weiß des Höchsten Rath nicht völlig auszudencken;

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Drum muß er sich ins Meer der Weißheit GOttes sencken.

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O Mensch, was willst denn du mit Maulwurfs=Augen sehn?

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Ach möchtest du den Blick auf deine Schwachheit drehn,

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Und deines Schöpfers Macht, die dich so sehr erhoben

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Und alles wohlgemacht, mit reger Seelen loben?