BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Christian Friedrich Daniel Schubart

1739 – 1791

 

Ideen zu einer Ästhetik

der Tonkunst

 

Vorrede des Herausgebers

 

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Nachstehendes Fragment, das vierzehn Jahre nach dem Tode seines Verfassers erscheint, würde dem Publikum früher vorgelegt worden sein, wenn nicht so mancher abgerissene Artikel erst hätte ergänzt, so manches in Sprache und Vortrag berichtiget, so manche Lücke – besonders in den Beispielen, wo der Verfasser die Subsidien nicht zur Hand hatte – erst hätte ausgefüllt werden müssen. Mein sel. Vater diktierte die nachstehenden Blätter sowie seine Lebensgeschichte auf der Festung Hohenasperg einem Ungeübten in die Feder, ohne das Manuskript in der Folge durchzusehen, die Notenlücken auszufüllen, die Sprache zu sichten und die ungeheuern, oft bis zur gänzlichen Unverständlichkeit gehenden Schreibfehler auszumerzen.*) Die Blätter der Handschrift waren unter seinen Papieren zerstreut und nur mühsam zusammenzubringen. Da es indessen einer seiner Lieblingsgedanken war, eine Ästhetik der Tonkunst zu schreiben – von der er so oft mit Begeisterung sprach; da er hierzu bereits eine Menge Materialien zusammengebracht und in den Jahren 1784 und 1785 die Ausarbeitung begonnen hatte, so unterzog ich mich obiger Mühe um so lieber, je interessanter mir die Idee und je treffender so mancher Artikel durchgeführt schien.

Auch nachdem ich das meinige an dem Manuskript getan, kam es noch darauf an, einige kompetente Kenner darüber zu Rate zu ziehen und durch vorgelegte Proben die Stimme des artistischen Publikums zu vernehmen. Dergleichen Proben sind den Kunstfreunden der deutschen Monatsschrift in Wielands «Merkur», in den englischen Blättern und in der «Leipziger musikalischen Zeitung» vorgelegt worden. Die Urteile darüber fielen günstig aus; man fand da und dort neue Ansichten, Eigenheit der Manier, Klarheit und Popularität des Vortrags und bei aller scheinbaren Leichtigkeit manche tief geschöpfte, auf Erfahrung ruhende Wahrheit – und so folgt nun das Ganze, soweit es sich aus den vorhandenen Papieren fortführen ließ.

Der Leser findet hier eine kurze, auch für den Nichtmusiker faßlich und anziehend vorgetragene Geschichte der Tonkunst – von den Hebräern, Griechen und Römern an bis auf die großen musikalischen Schulen der Italiener, Deutschen und Franzosen. Die deutsche ist nach Art der Malerschulen wieder eingeteilt: in die Wiener, Berlinische, Sächsische, Pfalzbayersche; die übrigen deutschen Fürstenhöfe, Württemberg, Salzburg, Mainz usw. sowie die Reichsstädte werden in besonderen Abschnitten behandelt.

Das Interessanteste in diesem historischen Gemälde sind die oft ziemlich ausgeführten Charaktere der berühmtesten Komponisten und Virtuosen; sie sind meist richtig, mit Sachkunde und in gedrängter Kürze angegeben und müssen jedem wichtig sein, wer überhaupt Sinn für die Kunst hat. Einen großen Meister in wenigen Zeilen so zu charakterisieren, daß ihn der Eingeweihte, auch wenn der Name wegbliebe, auf den ersten Blick erkennt – gehört bekanntlich unter die schwersten Aufgaben des Schriftstellers. Nach meinem Gefühle sind in diesen Blättern die Charaktere Händel, Gluck, Bach (Vater und Sohn), Benda, Jomelli, Lolli, Mad. Mara, Raff und einige andere so gezeichnet, daß man sie gleich in den ersten Zeilen erkennt und daß dem Leser ihr Tonbild gleichsam vergegenwärtiget wird. Ihre verhallten Töne leben in den Worten wieder auf, und man erkennt die Möglichkeit, daß sich die oft beklagte Flüchtigkeit der exekutiven Musik ebenso durch das Wort fixieren ließe, wie man die bleibenden Kunstwerke bestimmt hat. – Die Sachkunde .des Verfassers sowohl in der musikalischen Ausführung als in der Komposition leuchtet überall hervor, und seine poetische Sprache kam ihm oft ungemein zustatten, die feinsten Nuancen des Gefühls zu haschen und dunkeln Ideen Worte zu leihen, die man kaum des Ausdrucks fähig hält.**)

Zu diesen Eigenschaften kam ein warmer deutscher Patriotismus – der auch die Vaterlandschronik charakterisierte und gerade hier seine köstlichste Nahrung fand. Denn vor dem  m u s i k a l i s c h e n  Genie des Deutschen beugen sich England und Frankreich, und selbst Italiens Kunststolz weiß uns jetzt keinen Mozart und Haydn zu nennen. Die deutschen Instrumentisten waren von jeher und sind noch immer die Ersten in Paris, London, Rom und Petersburg, und schon der Name  D e u t s c h e r  erweckt in diesen Ländern ein günstiges Präjudiz für den auftretenden Kraftmann.

Im zweiten Teile des Werks, der die  G r u n d s ä t z e  der Tonkunst enthalten sollte, liefert der Verfasser erst eine Beschreibung aller Instrumente, von der königlichen Orgel bis zur schlichten Maultrommel herab und verweilt besonders bei den Klavierarten, worin er sich selbst ausgezeichnet und wo er manches aus vierzigjähriger Erfahrung abgeschöpfte Geheimnis beibringt. Dann geht er zum Gesang, zum musikalischen Stil, zu den Kunstwörtern, zum Kolorit, zum musikalischen Genie und zum Ausdruck über und schließt mit einer  C h a r a k t e r i s t i k  der Töne – die schon bei ihrer ersten Erscheinung Aufmerksamkeit erregte und seitdem von einem der ersten Kenner als ein «tiefgeschöpftes, wahres und ganz originelles Tongemälde» bezeichnet wurde. Wird diese Charakteristik dereinst durch Übereinstimmung näher und tiefer bestimmt, so weiß jeder Komponist, welche Tonart er für eine gegebene Empfindung oder Leidenschaft zu wählen habe.

Die große Epoche, welche in unsern Tagen der unsterbliche Mozart in der Musik hervorgebracht hat, fiel nicht mehr in die Zeit des Verfassers. – Ich war erst willens, die ganz ausgeführten Charaktere von Mozart und Haydn dem Werke beizufügen, unterließ es aber sowie die Fortsetzung der Geschichte von 1785 bis 1800 (von einer andern Hand) aus dem ganz einfachen Grunde, weil ich bloß den Nachlaß meines Vaters, unvermischt, unbeschnitten und mit möglichster Beibehaltung des ihm eignen Gepräges geben wollte.

Die Rubriken über die  N o t e n,  die  S c h l ü s s e l,  den  G e n e r a l b a ß,  über die  K o m p o s i t i o n,  über  M e l o d i e,  H a r m o n i e  usw. fand ich zwar angemerkt, enthielten aber nichts als einige Unterabteilungen und hingeworfene Worte – als Fingerzeige bei der Ausführung. Ein eigner Abschnitt des Buches sollte die Frage abhandeln: «Was ist in der Tonkunst noch zu tun übrig?» Der Verfasser hoffte, sich durch eine möglichst ins Innere gehende Beantwortung dieser Frage mehr als durch alles andere ein bleibendes Verdienst um seine Lieblingskunst zu erwerben und war entschlossen, die letzte Kraft seines Lebens der Verfechtung ihrer ursprünglichen Würde, Reinheit, Einfalt und Macht auf den Menschen zu widmen.

Meine Entfernung vom Druckorte hat bei aller Sorgfalt, die ich auf die Handschrift verwandt, verschiedene Druckfehler und Ungleichheiten in der Rechtschreibung veranlaßt, die ich nach der Beilage zu berichtigen bitte.

 

Der Herausgeber

Ostermesse 1806

 

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 *)

Er hatte wenig Bücher um sich, da er das Werk unternahm, und diktierte sehr vieles aus dem Kopfe.

 

 **)

Was man gegen diese Charaktere einwenden kann, ist eine gewisse Allgemeinheit in Lob und Tadel, eine gewisse Monotonie der Tiraden, welche der Herausgeber nicht immer abändern durfte. Man kann einem andern Schriftsteller gute Dienste tun, ohne das mindeste von seiner Eigentümlichkeit zu verwischen; man kann ihm aber auch, wie wir Beispiele haben, die eigene Manier unterschieben – Und hat ihn dann wirklich, selbst wenn diese Manier gut ist – verschlechtert.