BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Daniel Stoppe

1697 - 1747

 

Neue Fabeln oder Moralische Gedichte,

der deutschen Jugend zu einem

erbaulichen Zeitvertreibe aufgesetzt.

 

Theil II

1740/45

 

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[1.06]

Die Kropfländer.

 

Ein ieder Ort hat seine Gaben,

Indem sich die Natur hier so, dort so, beweist.

Es giebt ein Land, das Kropfland heißt,

Wo alle Leute Kröpfe haben.

Weil an den Jungfern auch sogar

Ein artig Kröpfchen hier der größte Liebreiz war:

So trug das junge Volk auch folglich kein Bedenken,

Der schönsten Kröpfichten Mund, Hand und Herz zu schenken.

Wenn manchmal hier und da ein Kind gebohren ward,

Das, wider ihre Landesart,

Dieß Ehrenzeichen nicht mit auf die Welt gebracht:

So schämten sich die Eltern halb zu Tode,

Weil die Natur ihr Kind, zum Schimpf der Landesmode,

Nicht kröpficht, oder deutsch, nicht artig gnug gemacht;

Ja sie bekreuzten sich vor einem solchen Kinde,

Das, zur Bestrafung ihrer Sünde,

Ein Schandfleck seines Hauses war.

Laut den Statuten hieß es klar,

Daß so ein Wechselbalg kein Handwerk lernen sollte,

Es war ihm zwar erlaubt, wenn er studiren wollte;

(Denn wer zu sonst nichts taugt, der taugt auf den Parnaß.)

Doch durft er lebenslang kein Ehrenamt bekleiden;

Man wollt ihn nicht einmal in Zunft und Zechen leiden;

Warum? Der allgemeine Haß

War ihm und seinem Glück zuwider,

Man schlug ihm auch sogar die Hoffnung dazu nieder.

Denn hier fiel jung und alt dem Vorurtheile bey,

Daß ein geschlanker Hals der Thorheit Merkmaal sey;

Drum bathen sie auch Gott, an statt um gute Köpfe,

Nur um das Wachsthum ihrer Kröpfe.

Einst kam ein junger Herr, ein rechtes Schönheitsbild,

Der nach dem Bürgermeister fragte,

Und über den Verdruß von einem Bürger klagte:

Kaum daß ihn dieser noch für einen Menschen hielt;

Er rief gleich seine Frau herbey,

Und sprach: Schau, lieber Schatz! was das für Elend sey,

Wenn einen die Natur zum Krüpel auserkohren.

Sie dankten beyderseits der göttlichen Gewalt,

Daß sie, wie dieser Mensch, nicht ohne Kropf gebohren,

Ach! und bejammerten des Fremden Ungestalt.

 

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Wir kommen eben auch mit unserm Mitleid blind,

Und merken nicht, wie stark die Vorurtheile sind,

Die, wenn wir sie einmal zu unsrer Richtschnur setzen,

Selbst die Vollkommenheit für einen Fehler schätzen.