BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Bettine von Arnim

1785 - 1859

 

Armenbuch

 

Armenlisten

 

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Leutmannsdorf.

 

1.) Karl Haase, Kattunweber, 43 Jahr alt, unverheirathet, verdient die Woche 9 Sgr., wenn er vom frühen Morgen bis spät Abends arbeitet. Kartoffeln sind seine einzige Nahrung, an Brod ist nicht zu denken. Er war sehr wehmüthig, denn sein Freund, Stuben- und Leidensgefährte ist vor 14 Tagen gestorben. Dieser hat einen Sohn hinterlassen, 9 Jahr alt, der in einem Winkel des Jammers saß und fleißig spulte. «Er hat Niemanden mehr auf der Erde, sagte Haase, ich muß mich seiner annehmen.» Er besucht die Schule, und wenn er nach Hause kommt, setzt er sich ans Spulrad und verarbeitet täglich 16 Zaspeln. Was soll aus ihm werden? Haase, der die Woche 9 Sgr. verdient, nimmt sich seiner an; aber «er holt sich manchmal ein Stück Brodt», sagte H. Dieß ist der Anfang zum Verderben! – Eine Bettstelle mit schmutzigem Stroh und einem Lappen darauf ist das Nachtlager für Beide.

2) Lempert, 50 Jahr alt, seine Frau 47. Er verdient die Woche 11 Sgr., die Auslagen abgerechnet. Davon muß aber die Miethe, 6 Rthlr. jährlich, bestritten werden. Klassensteuer kann er schon lange nicht mehr entrichten. Kartoffeln und Brot sind die einzigen Nahrungsmittel. Dazu kommt, daß die Frau beinahe ein Jahr lang an einem Halsübel leidet, wodurch sie kaum mehr schlingen kann; sie ist ohne allen ärztlichen Beistand, ohne Medizin. Hier sehen wir die Nothwendigkeit von Kreislazarethen; denn arme Kranke auf dem Lande müssen im wahren Sinne des Wortes zu Grunde gehen. In der Stube sah es zum Erbarmen aus, Nichts als Lumpen und Lappen darin. So wohnt das arme Volk!

3) Grellert, Kattunweber, Wittwer mit 5 Kindern, lebt im Gemeindehause. Dieses Haus ist ein Non plus ultra der Scheußlichkeit. In einem engen Zimmer, in dem ein Webstuhl aufgestellt ist, und zwei Bettstellen sich befinden, lebt, außer Grellert mit seinen 5 Kindern, noch eine Wittwe Friedrich mit 4 Kindern, also 11 Personen. Diese Wittwe ist bereits seit 20 Wochen an einer ansteckenden hartnäckigen und höchst fatalen Krankheit leidend und nebenbei hoch schwanger. Sie ist sehr unglücklich über ihren Zustand und beklagt namentlich, daß sie gar nicht gesund werden kann. Was aber den größten Unwillen erregt, ist der Umstand, daß 9 Kinder in demselben Zimmer sich aufhalten müssen, nicht bloß wegen der leicht möglichen unmittelbaren Ansteckung, sondern auch wegen des moralischen Eindrucks, den die kranke Mutter – die jedem Eintretenden mit reuigem Gefühl ihre Schuld bekennt – auf die Psyche und das sittliche Gefühl der Kinder hervorruft. Was soll aus diesen Kindern bei solcher Erziehung werden? Wird hier nicht die Unsitte mit allen ihren Consequenzen von vorn herein schon sanctionirt? Das ganze Ensemble, Grellert mit leichenhaftem, widrigen Aussehen, die kranke, schwangere Frau auf einem elenden Bett und 9 unerzogene, scrophulöse Kinder, vom Hunger und der Unsauberkeit verzehrt, Alle in einem dunstigen, modrigen Zimmer, dieses Ensemble übersteigt wirklich alle Grenzen menschlichen Elends.

4) Gottfried Zeps, 49 J. alt, seine Frau eben so alt. Sie haben zwei sehr hübsche, muntere Kinder. Z. verdient in 14 Tagen 21 Sgr. an 136 Ellen. Kartoffeln und Salz sind ihre einzige Nahrung. Dabei sagte Z. mit einer wahrhaft übermenschlichen Resignation; «zum Erhungern ist es noch nicht, wenn es nur nicht noch schlimmer wird.» In der Stube ist eine Bettstelle mit Stroh, ohne Betten. Die Kinder schlafen auf dem Boden auf Laub, das bereits im Sommer eingesammelt war, weil Stroh viel zu theuer ist.

5) Zeps, dessen Bruder, 44 J. alt, die Frau 45. Z. verdient täglich 2 Sgr., davon müssen noch 5 Kinder erhalten werden. Eine erwachsene Tochter von 16 J. kann nicht das Haus verlassen, weil sie die kleinen Kinder pflegen muß; denn die Mutter ist durch Kränklichkeit dazu unfähig. Darüber ist das Mädchen sehr unglücklich, sie weinte bitterlich und war unwillig, daß sie die Eltern nicht aus dem Hause lassen. Hier sehen wir die Controversen, in die das Kind mit seinen Eltern aus Nothwendigkeit der Verhältnisse geräth. In der Stube sah es fürchterlich aus.

6) Pause. Der Mann war abwesend. Die Frau, noch jung, arbeitete Handtücher. Sie konnte nicht genau berechnen, wie viel sie durchschnittlich die Woche verdienen; aber sie klagte, daß sie in der vergangenen Woche an 36 Ellen keinen Pfennig verdient habe; der Kaufmann habe ihr viel weniger als früher für die Waare gegeben. Sie haben 2 Kinder, die ich nicht zu Gesichte bekam. P. war 3 Wochen krank, ohne ärztlichen Beistand, jetzt ist die Frau kränklich. Hinter dem Ofen lag in einem ziemlich saubern Bett der Vater der Pause, ein 82jähriger Greis, krank darnieder; er konnte kaum mehr sprechen, ebenfalls ohne ärztlichen Beistand.

7) Jentschke, 54 J. alt, liegt schon 14 Tage schwer krank darnieder, seitdem ihm seine Frau gestorben. Er hat noch 2 Kinder, von 20 und 10 Jahren, 13 Kinder hat er schon verloren. Er verdient, wenn er sehr fleißig arbeitet, 1 Rthl. in 14 Tagen; das Mädchen, das nebenbei die Wirthschaft versehen muß, 20 Sgr. in 3 Wochen. Das Krankenlager, auf dem Jentschke lag, sah traurig aus. Er war trostlos in der Erinnerung an seine Frau über den schweren Verlust. Das arme Volk kennt auch die Liebe! – In einem Winkel des Zimmers saß zusammengekauert ein altes, 82jähriges Mütterchen am Spinnrade, sie sah dem personifizirten Unglücke am ähnlichsten; ihr Brot muß sie durch Betteln zusammenholen. – Eine andere Frau, Wittwe Teichmann, mit 2 Kindern, bewohnt dasselbe Zimmer, ihr Schlafgemach ist jedoch auf dem Boden. In dem Zimmer sah es erschrecklich aus, finster, kalt, schmutzig.

Hr. Pastor Hepche, in dessen Begleitung ich diese Tour machte, versicherte mir, daß es in Leutmannsdorf noch zehnmal so viel solcher Weber gebe, ja, daß im Oberdorfe einzelne Familien noch ein traurigeres Loos treffe. Nun denke man sich dieses namenlose Unglück in einem einzigen Dorf, in einer ganzen Gegend bis nach Landeshut, Hirschberg u. s. f., und man staunt, wie es möglich gewesen, daß bisher so wenig für eine gründliche Abhilfe dieser trostlosen Zustände geschehen konnte. So trefflich auch die Tendenz der bestehenden Hilfsvereine sein mag, so ist doch nicht zu leugnen, daß bisher ihre Wirksamkeit nur eine oberflächliche, vorübergehende gewesen ist. Denn wenn Vereine mit der Tendenz zu helfen, nicht einmal einer Hungersnoth vorzubeugen, oder diese zu beseitigen im Stande sind, dann erfüllen sie nicht den allerentferntesten Wunsch der Hilfeleistung. Hr. Pastor Schmidt aus Ober-Haselbach im Landeshuter Kreise, wo ein solcher Hilfsverein sich vorfindet, schrieb mir vom 12ten d. M., daß er in dem ihm anvertrauten Kirchspiele gegen 2000 Weber zähle, die fast alle am Hungertuche nagen. «Es ist fast kaum zu glauben, sagt er, wie hoch die Noth und das Elend hier gestiegen ist; es ist keine Uebertreibung, wenn ich versichere, daß der größte Theil der hier lebenden Weber durch zwei und drei Tage keinen Bissen Brot in den Mund bekommen.» Was bezwecken nun die Hilfsvereine? – Es müssen also ganz andere, kräftigere Mittel aufgefunden werden; das Geschwüre, wenn es heilbar ist, muß total geheilt werden, damit es nicht in der Tiefe fortwuchere, und den Boden, auf dem es haftet, von Grund aus zerstöre. Dazu aber müssen alle Kräfte sich vereinen, und aus Nebenrücksichten sich nicht lossagen wollen, von der aus Rücksicht für das Ganze nothwendigen Gesammtwirkung im Großen. Die am 27sten d. M. anberaumte General-Konferenz zu Schweidnitz soll ganz besonders diesen Punkt zum Hauptgegenstande der Erörterung machen.

 

Schweidnitz, den 20. Febr. 1844. Dr. Pinoff.