BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Bettine von Arnim

1785 - 1859

 

Armenbuch

 

Armenlisten

 

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Die Armenverhältnisse des Kreises Bielefeld.

 

Auch in unsrem Kreise nimmt die gänzliche Verarmung der niedern Volksklassen in der erschreckendsten Weise zu und erfüllt selbst die Wohlhabenderen, die durch den sich mehrenden Geldmangel die empfindlichsten Verluste erleiden, mit den begründesten Besorgnissen für ihre fernere Existenz. Vorzüglich in den südlichem Theilen der Ravensberger Grafschaft bis tief in die Paderbornschen Lande hinein lebt eine zahlreiche Menschenmasse unter den kläglichsten Verhältnissen, die bei dem angestrengtestem Fleiße, vom ersten Grauen des Tages bis zur späten Nacht arbeitend, dennoch nur unter bittern Entsagungen ihr Leben hinfristen kann, Menschen, die in Jahren kein Fleisch genießen, nur wässriges, ungefettetes und widrig schmeckendes Gemisch jämmerlich bereiteter Speisen als einziges Nahrungsmittel besitzen und in den zerlumptesten Kleidungen, die Kinder fast entblößt, einhergehen. Der Boden, den sie bearbeiten, ist Sand und dürre Haide. Dennoch muß der Heuerling nicht nur ein bedeutendes Miethsgeld für die Erlangung desselben zahlen, sondern ist auch noch zur Leistung jedes Frohndienstes gezwungen. Jeden Tag muß er bereit sein, auf den Befehl des Miethsherrn die Arbeit desselben zu verrichten, wofür ihm dann ein Arbeitslohn von 2 Silbergroschen verabreicht wird. Dieser so schwer bezahlte Acker liefert nun bei dem Mangel fast jeglicher Bedüngung in den besten Jahren nur kärgliche, in den schlechtem gar keine Ausbeute. – Das Hauptexistenzmittel war bisher die Fabrication des Garns, das später als «Bielefelder Leinen» weit und breit verführt wird. Dieser Erwerbszweig ist auf das bedauernwertheste gesunken, der Preis desselben Productes auf ein Drittheil heruntergesetzt, so daß es dem Spinner nicht mehr möglich ist, von seiner Anfertigung leben zu können. Von diesem geringen Betrage soll er die Last der Steuern, die für ihn kaum erschwingbar sind, die Classensteuer (1 Rthr per Jahr) Communal-Steuer, Schulgelder, Fiscusabgaben und ähnliche directe und indirecte Abgaben entrichten, und wohl ihm, wenn nicht der Gerichtsdiener sein grauenvolles Amt versehen muß und das Letzte seiner Habe unbarmherzig für die Kosten von Schuldklagen als Pfandgut davonträgt. Dies ist das Los der geringsten Klasse, doch das ihrer Herren ist nur wenig von dem ihrigen verschieden. Ihre Besitzungen sind mit Schulden überladen. Bald sind es die Kinder, unter die das Ganze getheilt werden mußte, bald wieder das Gericht, das in solchen Theilungsfällen und bei den Klagen, der ewig sich erneuernden Gränzstreitigkeiten davonträgt und zwar in solcher Weise, das allein das hiesige einen Ueberfluß von 30 000 Thalern jährlich zu versenden im Stande ist. – Dies ist der Zustand des hiesigen Bezirks, der sich sichtlich mit jedem Jahre verschlimmert hat. Die Mittel zur Abhülfe möchten vielleicht folgende sein. Vor allem vervielfältige man den Ertrag des Bodens und wende auf die höhere Erzeugbarkeit desselben die größtmöglichsten Kräfte an. Man liefere diesen unfruchtbaren Gegenden hinreichende Zuschüsse an Düngungsmitteln, unentgeltlich. Die Producte, deren Anbau einen sichern Reinertrag liefern mag, pflanze in bedeutenden Massen, in dem großartigsten Maaßstabe Gewächse an, durch die fernen Gegenden Reichthum und Wohlstand zugeflossen sind, so wie schon ein schwacher Versuch mit der Anpflanzung von Maulbeerbäumen gemacht ist. – Man verbreite ferner die Anlegung von Sparkassen, die man auf dem Lande fast nirgend findet, leiste auch hier bedeutende Zuschüsse, damit der Knecht oder überhaupt der ledige, noch etwas erübrigende Arbeiter durch die reichliche Verzinsung seiner Ersparnisse nach und nach sich eine mäßige, zum Beginne seiner häuslichen Existenz hinreichende Summe erwerbe; deponire auch hier bedeutende Geldfonds, um dem rechtlichen, durch unverschuldete Leiden Verarmten wieder aufhelfen zu können. Man lege bedeutende Kornmagazine an, aus denen zur Zeit des Frühjahrs, wann die Vorräthe erschöpft sind, die arbeitenden Klassen ihren Bedarf zum Einkaufspreise entnehmen können und die dem Wucher, der dann und vorzüglich in den Jahren sich in der scheußlichsten Gestalt zeigt, entgegen zu wirken und so die Preise niedrig erhalten zu können. Auch die Wirkungen der Auctionen suche man zu vernichten, da durch den augenblicklichen Borg viele zum Ankauf entbehrlicher Gegenstände zu hohen Preisen verleitet worden, wodurch dem Wucher mit Holz und den ersten Lebensbedürfnissen der größte Vorschub geleistet wird. – Man suche die Errichtung neuer Ehen zu erschweren, indem man sie von der Aufweisung einer mäßigen Summe, wenn auch nur 40 bis 50 Thalern, abhängig macht, damit doch nicht die neue Haushaltung durch ihre ersten Einrichtungen mit Schulden überschüttet wird. – Man führe Schwurgerichte ein, schaffe ein billigeres, kostenloseres Gerichtsverfahren und ernenne Friedensrichter, die in Bagatell-Angelegenheiten unentgeltlich entscheiden. (So ernährt Westfalen die doppelte Anzahl Richter, wie das doppelt große Rheinland 477 dort, 230 hier). Man entnehme den Gemeinden die Lasten, die nicht zu ihren Bedürfnissen, sondern zu Unterhaltung provinzieller Zwecke dienen. Diese Irren- und Verbesserungsanstalten, diese Lieferungen der Landwehr-Cavallerie-Pferde, die Provinzial-Landstände verschlingen jährlich 1/4tel des Gemeinde-Budgets, ihre Unterhaltung möge königlichen Kassen zufallen, denn dem Armen ist die geringste Erleichterung fühlbar. – Vor allem jedoch vermehre man die Gelegenheit zur Geldgewinnung, lege Communalwege, Kunststraßen, Eisenbahnen an und Hunderttausende werden leben können. – Alles dieses vermag jedoch nur von segensreichem, allesbeglückendem Erfolge sein, wenn ein großartiger Verein der Reichen zur Abhülfe der vielen pauperirenden Ursachen constituirt wird, der die bedeutendsten Geldmassen besitzen muß und kein Opfer, sei es so groß, wie es wolle, scheut. Die persönliche Sicherheit, die bürgerlichen Einrichtungen erheischen dies zur Abwendung des Uebels aufs dringendste. In diesem Vereine concentriren sich alle Fonds, die zu Missions- und ähnlichen geldraubenden Angelegenheiten dem Lande abgepreßt worden. Er steure der Volksvermehrung durch Anlage bedeutender Colonien, verschaffe dem hungernden Fleiße sein tägliches Brod, damit nicht länger der gequälte Arbeiter sein Dasein verfluche und in allen Lebensverhältnissen dem Thiere ähnlich mit der schrecklichsten aller Geißeln, dem Hungertode, sein kummervolles Leben bedroht sehe.

 

Albrecht Augustin Schirner