BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Bettine von Arnim

1785 - 1859

 

Die blinde Königstochter

 

1808

 

Text:

Heinz und Ursula Härtl: Die junge Bettina (Berlin 2022) und

Reinhold Steig: Achim von Arnim und die ihm nahe standen,

Bd. 2: Arnim und Bettina (Stuttgart: J. G. Cotta, 1894)

 

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Von Bettina Brentano nach Heidelberg

Frankfurt, ca. 5. Mai 1808, Donnerstag

 

Arnold schreibt uns, er habe ein Nervenfieber. Wenn das ist, so fürchte ich sehr, ich bekomme die Sagen und Märchen, die er mir versprochen, entweder sehr späth oder gar nicht. Er hat mir einige davon sehr kurz erzehlt, die will ich dir doch hierherschreiben: Das eine ist

 

Von einem König, der eine sehr schöne, aber blinde Tochter hat.

Er hatte sein Schloß in den Vogesischen Gebiergen, die Ruine steht noch, aber den Namen des Königs wie den der Tochter hab ich vergessen. In diese verliebte sich ein Page eines großen Fürsten Sohn. Da er nun aufgewachsen war, so muste er zu seinem Vater zurück, und mit ihm in den Krieg ziehen. Ehe er Abschied nimt, gesteht er der jungen Prinzessin seine Liebe. Da er nun schon eine Weile weg war, hörte der König von einem Einsiedler, den man den heilichen Bruder nent und welcher schon viele Wunder durch sein Gebeth bewirkt hatt. Er gedenkt, daß dieser wohl auch seiner geliebten Tochter helfen könne. Er ließ also alles zur Reiße bereiten und suchte den Einsiedler im Walde auf. Der Einsiedler war in selbiger Nacht im Gebeth begriffen, da er einen fernen Lermen hörte. Er weckte seinen Waldbruder auf, und beteten beide fleisig in freier Nacht im Mondenschein. Da aber der Lerm immer näher kam, so versteckten [sie] sich in die Hütten, und beteten fleisig. Nun kam der König mit vielem Gefolg und Lichtern vor die Thür des Einsiedlers. Dieser meint, es sei der Teufel und wollt ihn nicht einlassen, bis er ihn seine Sünden beichten gehört und ihm den Ablaß ertheilt, und der König ihm auch versprochen, sich der Welt Freuden zu enthalten. Da er ihm nun sein Anliegen gesagt hatte, so verharrte der heiliche Bruder in stetem Gebeth, biß der erste Sonnenstrahl hervor­brach. Da legte er der Königstochter die Hände auf das Haupt, und sie ward wieder sehend. Beinah zu gleicher Zeit kam ihr Geliebter wieder aus dem Feld zurück und zog durch den selbigen Wald. Die Prinzessin ging hin, um den Zug zu sehen. Sie kannte aber ihren Geliebten, der auf einem schönen weisen Pferd ritt mit vielen Zeichen des Siegs umgeben und dem alles zujauchzte, nicht. Da er sie aber sieht, erschreckt ihn die Freude so gewaltig, daß er tod vom Pferd sinkt. Sie ward eine Klosterfrau oder Einsiedlerin.

 

Adieu lieber Arnim

Bettine.