BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Cauer

1854 - 1921

 

Deutsches Lesebuch für Prima

 

Erste Abteilung

 

______________________________________________________________________________

 

 

[39]

4.

Die Natur eines Landes

als Faktor seiner Kulturentwicklung.

Von Carl Neumann (1823 - 1880).

 

Physikalische Geographie von Griechenland mit besonderer Rücksicht auf das Altertum, bearbeitet von C. Neumann und J. Partsch (Breslau 1885.) Einleitung. – Das Buch enthält akademische Vorlesungen, welche in den Jahren 1867, 1872, 1877 gehalten und nach Neumanns Tode auf Grund seines Heftes von Partsch herausgegeben sind. [Text der Originalausgabe.]

 

___________

 

 

Der Begründer der geographischen Wissenschaft in ihrem gegenwärtigen Umfange, Carl Ritter, hat es stets als seine Hauptaufgabe betrachtet, die Erde in ihrem Zusammenhange mit den Menschen in Auge zu fassen, den Einfluß nachzuweisen, welchen sie als Schauplatz und Bedingung menschlicher Thätigkeit auf die Schicksale der Individuen und der Völker, auf den Gang der Kulturentwickelung ausgeübt hat. Indem er hiermit eine Idee durchführte, die schon dem Geiste erleuchteter Griechen, wie Hippokrates, in aller Klarheit vorschwebte, aber damals bei den sehr beschränkten Kenntnissen vom Erdball noch nicht mit der wünschenswerten Evidenz erwiesen werden konnte, hat er der geographischen Wissenschaft einen Inhalt verliehen, kraft dessen sie, obgleich ihrem Wesen und Ursprung nach durchaus eine Naturwissenschaft, gleichzeitig eine philosophische Wissenschaft im eminenten Sinne des Wortes geworden ist. Sie schränkt sich nicht mehr ein auf die bloße Beschreibung eines Naturobjekts, des Erdballs im Ganzen oder eines einzelnen Landes, sondern faßt dasselbe als einen Faktor auf, der bestimmend in die Entwickelung und Geschichte der Menschen und Völker eingegriffen und vielfach auch auf Form und Inhalt des geistigen Lebens Einfluß gewonnen hat. Diesen Gesichtspunkt, der vorzugsweise geeignet ist, das Interesse denkender Männer in Anspruch zu nehmen, glaube ich vornehmlich für die Geographie derjenigen Länder festhalten zu müssen, welche den Schauplatz der alten Geschichte bilden.

Ihre Wirksamkeit auf den Menschen verliert die Natur allerdings nie. Die Landesbeschaffenheit spielt auch in der modernen Geschichte der Völker eine bedeutsame Rolle, und zwar mit um so stärkerem Erfolge, als ihr Einfluß ein stetiger, ununterbrochener, unwandelbarer ist. Nur kurz will ich daran erinnern, daß die ganze Kriegsgeschichte ohne Terrainkenntnis unverständlich und interesselos bleibt; das liegt auf flacher Hand. Auch das bedarf keiner Erörterung, daß die physischen Verhältnisse die Hauptgrundlage menschlicher Subsistenz bedingen, indem sie hier vorzugsweise den Ackerbau begünstigen, dort den Menschen vorwiegend auf Handel und Industrie hinweisen oder durch besondere Gaben an besonderen Orten besondere Zweige menschlicher Thätigkeit hervorrufen, daß sie also dem Thun und Treiben der Menschen die charakteristischen Lineamente vorzeichnen, ihm landschaftlich ein eigentümliches, unterscheidendes Kolorit verleihen. Ebenso einleuchtend ist es, daß die verschiedene natürliche Ausstattung benachbarter Landschaften, ihr natürlicher Zusammenhang oder ihre Sonderung, die relative Bedeutung, die sie für einander haben, in die Gestaltung der politischen Ereignisse vielfach eingreifen muß, daß sie Kriege, Bündnisse, Handelstraktate veranlassen kann, die ja sämtlich den Zweck haben, materielle Mängel des eigenen Landes, sei es durch Eroberung solcher Gebiete, die das Fehlende besitzen, sei es im Wege des Vertrages zu ergänzen. In all diesen Beziehungen, in der inneren Entwickelung wie in der internationalen Politik, treten geographische Momente oft genug geradezu als maßgebend auf. Individuen und Völker handeln unter den Impulsen, die sie von der Natur ihres Landes empfangen. Hat man die letztere verstanden, so hat man den Schlüssel zum Verständnis eines grossen Teils der Landesgeschichte.

Noch viel wichtiger aber sind die physischen Verhältnisse für den stillen unaufhaltsamen Gang der Kulturarbeit. Denn worin bestehen die Fortschritte der materiellen Kultur? Wir können sie in zwei Kategorien teilen, die sich wieder leicht unter eine höhere Einheit subsumieren lassen. Fortschritte der materiellen Kultur bestehen erstens darin, daß die natürliche Begabung eines Landes immer vollständiger zum Vorteil des Menschen ausgenutzt wird, daß man also den ertragsfähigen Boden immer vollständiger in Anbau nimmt, den Ackerländereien die ergiebigste Ernte ablockt, die mineralischen Schätze des Bodens zu Tage fördert, die Wasserkraft immer vollständiger zur Erleichterung des Verkehrs oder zu industriellen Unternehmungen verwertet u. s. f. In allen diesen Stücken schmiegt sich die Kulturarbeit auf das Innigste an die physischen Verhältnisse an. Sie prüft den Boden in allen Beziehungen scharf auf seine Leistungsfähigkeit und sorgt dafür, daß jede nutzbare Kraft desselben in angespannte Thätigkeit gesetzt werde. Eine zweite Kategorie der Kulturarbeiten zielt darauf ab, die Mängel in der physischen Beschaffenheit des Landes zu beseitigen oder sie minder fühlbar zu machen. Hierher gehört die ganze Stufenleiter der Leistungen von den ersten Versuchen, durch ein Kleidungsstück oder eine Hütte den Körper vor den Unbilden der Witterung zu schützen, bis zu der die Gaben aller Zonen ausgleichenden Handelsthätigkeit unserer Tage.

Diese Arbeit der Kultur hat Sümpfe entwässert und verwilderte Stromläufe reguliert, sie hat hier durch Trockenlegung und Entholzung, dort durch Waldpflanzungen die klimatischen Bedingungen zu verbessern gesucht, sie ist bemüht, dem sterilen Boden durch Zuführung neuer Stoffe eine erhöhte Kraft zu geben, neue Kulturen einzuführen, die Schwierigkeiten, welche dem Verkehr die Dimensionen des Raumes oder natürliche Hindernisse in den Weg legen, durch den Bau von Brücken und Kanälen, von Chausseen und Eisenbahnen, durch die Durchstechung von Bergen oder von Isthmen zu beseitigen; sie ist bemüht, das, was dem eigenen Lande fehlt und gleichwohl dem Menschen nützlich oder angenehm ist, aus anderen Ländern herbeizuschaffen, und hat in der Belebung des Handelsverkehrs einen der mächtigsten Hebel der Kulturentwickelung in Bewegung gesetzt. In beiden Fällen, – mögen die Kräfte des Landes dem Menschen hilfreich in die Hand arbeiten oder ihm den Dienst versagen – in beiden Fällen bildet die physische Beschaffenheit des Landes den Angelpunkt, um den sich alle Arbeit der materiellen Kultur dreht. Sie ist das Maßgebende und Anregende, das menschliche Thun ist das Produkt ihrer stillen und stetigen Triebkraft.

Alle diese Beziehungen sind sonnenklar; und daraus folgt unmittelbar, daß wir die Leistungen eines Volkes auf diesem Gebiete unmöglich beurteilen können, wenn wir uns nicht zuvor vergegenwärtigt haben, welche Aufgaben seiner Kulturarbeit in einem gegebenen Momente von der Natur gestellt waren und welche es wirklich gelöst hat, d. h. daß wir ohne Einsicht in die geographischen Verhältnisse nicht zu einem vollen Verständnis der Geschichte gelangen können. Aber nur wenige erinnern sich daran, daß die Natur in allen diesen Dingen uns mit sanftem Zügel, doch fest und sicher leitet und vorwärts führt; und eben deshalb verkennt und unterschätzt man zu sehr den maßgebenden Einfluß dieser unverrückbaren, regierenden Kraft.

Man könnte nun leicht meinen, daß der Mensch durch jeden Fortschritt in materieller Kultur, namentlich durch solche Errungenschaften, welche die Mängel in der physischen Ausstattung seiner Heimat auszugleichen im Stande sind, sich mehr und mehr von der Natur emancipiere, daß seine Abhängigkeit von den geographischen Bedingungen sich mehr und mehr lockere. Aber diese Ansicht ist nur in sehr eingeschränktem Maße richtig, und ihre Prüfung führt uns unmittelbar zu der besonderen und weit hervorragenden Bedeutung, welche die Geographie gerade für die Geschichte des Altertums besitzt. Was der Mensch auch leisten mag in dem Streben, die Mängel der physischen Verhältnisse seines Wohnorts auszugleichen, – immer sind es die Kräfte der Natur, mit denen er arbeitet. Er nimmt die Kraft des Dampfes und die Geschwindigkeit des elektrischen Stromes in seinen Dienst, um die Schwierigkeiten zu überwinden, welche die räumlichen Dimensionen ihm in den Weg legen; er benutzt die Produkte des Auslandes, um zu ersetzen, was ihm die Heimat versagt, und in demselben Maße, wie er sich von der Heimat emancipiert, vervielfältigt und verstärkt sich durch die Nahrungs- und Genußmittel ferner Zonen, an die er sich gewöhnt, seine Abhängigkeit von fremden Gegenden. Wie der Demant nur mit seinem eigenen Staube sich schleifen lässt, so kann die Natur überall nur durch sich selbst korrigiert werden. Wir können uns nie ihrem Einfluß entwinden; sondern was wir leisten, besteht nur darin, daß wir, um uns dem Einfluß einer Naturkraft zu entziehen, uns unter eine andere stellen, deren Herrschaft uns angenehmer ist.

Die Folge ist, daß, je vollständiger wir die Naturkräfte zu unserem Vorteil verwerten lernen, das Gefühl unserer Abhängigkeit von der Natur uns weniger drückend wird, also auch uns seltener zum klaren Bewußtsein kommt. In der Behauptung, daß wir uns durch Kulturarbeit von der Natur emancipieren, liegt nur insofern eine Wahrheit, als wir uns dadurch in der That unabhängiger machen von den physischen Verhältnissen derjenigen Örtlichkeit, in welche das Schicksal uns hineingestellt hat. Und hierin liegt allerdings ein unermeßlicher Fortschritt. Wenn nicht der Handelsverkehr die Gaben verschiedener Länder nach Maßgabe des Bedürfnisses hilfreich verteilte, wenn der Mensch zur Verbesserung seiner Lage sich ausschließlich auf die Mittel verwiesen sähe, welche die Heimat ihm unmittelbar gewährt: so müsste er in der Gestaltung seines Lebens, in seiner Arbeit und in seinem Streben sich auf das Genaueste den natürlichen Bedingungen seines Heimatlandes fügen; sie würden für seine Existenz das absolut Formgebende werden. Die Macht der physischen Verhältnisse, in welche der Mensch unmittelbar hineingestellt ist, wächst, je ausschließlicher er sich auf seine nächste Umgebung verwiesen sieht; und da die Verkehrsbeziehungen immer einfacher und ungenügender werden, je tiefer wir in die Vorzeit zurücksteigen, so mußten für die Entwickelung der Völker des Altertums die physischen Verhältnisse der Länder, in welchen sie lebten, ungleich einflußreicher sein, als für den Gang der modernen Kultur, es mußte ihr Leben ein viel getreuerer Abdruck der sie umgebenden Natur werden, als es heute der Fall ist. Wenn wir uns im Geiste zurückversetzen in die ersten Entwickelungsstadien des menschlichen Geschlechts, in jene Zeiten, in welchen der Mensch erst zu lernen anfing, wie er der Natur zu Hilfe kommen konnte, und sich hauptsächlich auf diejenigen Gaben beschränkt sah, welche sie ihm freiwillig zum Genusse darbot, so erkennen wir leicht, daß der Mensch damals vollkommen in den Banden der Natur gefangen lag, daß seine Abhängigkeit von der Scholle, auf der er lebte, von dem Klima, dem er ausgesetzt war, eine vollständige gewesen sein muß. Er war den physischen Kräften, die von allen Seiten auf ihn eindrangen, in der ganzen Bedürftigkeit der Menschennatur preisgegeben; aber die Übel, Mängel, Unbilden, unter denen er zu leiden hatte, waren ebenso viele Triebfedern, die ihn zur Arbeit, zur Fürsorge anstachelten, sie waren also die Momente, die sein Leben gestalteten. Hier waltet keine Willkür, sondern eine Naturnotwendigkeit; die ersten Entwickelungsphasen sind nicht ein Resultat freier Wahl, sondern sie wachsen aus der Natur des Landes heraus und können ohne sie nicht verstanden werden.

Hierin liegt der Grund, weshalb für die relativ einfachen Verhältnisse des Altertums das geographische Moment eine noch viel bedeutsamere Rolle spielt, als für die späteren Teile der Geschichte. Die Formen des Lebens gestalteten sich entschiedener nach Maßgabe der Anweisung, welche die physische Beschaffenheit der unmittelbaren Umgebung erteilte. Das gilt keineswegs ausschließlich von der materiellen Seite seiner Existenz. Wer im Stande ist, sich jene primitiven Zustände zu vergegenwärtigen, in denen der Mensch sich ganz auf die Scholle angewiesen sah, auf der er lebte, ohne von auswärts Hilfe erwarten zu können, erkennt leicht, daß seine totale Abhängigkeit von den Naturkräften, die Wind und Wetter, Sommer und Winter, Gedeihen und Mißwachs der Saaten, Leben und Tod über ihn verhängten, ihm mit doppelter Wucht fühlbar werden mußte. Diesen rätselhaften und unausweichlich waltenden Kräften stand er im Gefühl seiner Ohnmacht, seiner Bedürftigkeit gegenüber, er sah sich völlig auf ihre Barmherzigkeit verwiesen. In diesem Gefühl der Abhängigkeit von höheren Mächten, welche das Dasein des Menschen bestimmen, liegen die Wurzeln jeder Religion. Die Religion, die wahre Religion ist kein Luxusartikel, nicht ein Produkt der Laune und Willkür oder der Spekulation, die aus freiem Antriebe in das übernatürliche Gebiet hinüberschweift; sondern sie ist aus der Bedürftigkeit der Menschennatur geboren, sie ist ein Kind der Not des armen Erdenwurms und muß notwendig die Züge ihres Erzeugers tragen, sie muß bekunden, in welchem Punkte die Menschen, bei denen sie entstand, ihre Abhängigkeit von einer höheren Macht am schärfsten und einschneidendsten fühlten. Dahin richtete sich zuerst ihre bange Scheu, dann der schüchterne Versuch, die rätselhaft waltende Macht gnädig zu stimmen. An den Grundgedanken, dem die Gottesverehrung entquollen war, knüpften sich die ersten Formen des Kults, und in Formeln, deren Spruchweise den Vorgängen des menschlichen Lebens entlehnt war, suchte man die besondere Art des Schaffens und Waltens der geheimnisvollen Kraft auszudrücken und sich zu versinnlichen. Wer es sich einmal klar gemacht hat, daß die Religion nicht als ein Produkt spielender Phantasie entstanden ist, sondern als der Ausdruck der Bedürftigkeit des Menschen, des Gefühls seiner Abhängigkeit, der sieht deutlich, daß er die Wurzeln der Religion nur in der Natur zu suchen hat, die den Menschen umgab und sein Schicksal bestimmte; denn sie ist entstanden in einer Zeit, die vor aller Geschichte und vor aller Philosophie und allen Dichtern liegt, in einer Zeit, in welcher nichts den Menschen so empfindlich berührte wie das Weben und Wirken der Naturkräfte, von denen er in seinem ganzen Dasein abhing. Hier allein liegt der Schlüssel zum Verständnis der Mythologie. Sie ist noch vollständiger, als die erste Geschichte ein Produkt der natürlichen Bedingungen, in die der Mensch hineingestellt ist.

Das griechische Volk hat uns eine reichere Fülle mythologischer Formeln hinterlassen, als irgend ein anderes, – Formeln, die, wenn sie von späteren Zuthaten gesäubert werden, zum Teil schon durch die Rohheit ihrer Ausdrucksweise für ihr außerordentlich hohes Alter sprechen und die nächst der Sprache selbst als das älteste Produkt der Denkthätigkeit anzusehen sind. Der Grund jenes Reichtums liegt darin, daß das griechische Volk, vermöge der eigentümlichen Art seiner Begabung, sinnlichen Eindrücken in ganz hervorstechender Weise zugänglich war und den durch sie erhaltenen Impulsen mit grosser Nachgiebigkeit folgte. Sein weicher und biegsamer Geist nahm leicht die Form an, welche die Erscheinungen der Außenwelt ihm aufprägten, und da die letzteren höchst mannigfaltiger Art waren, entwickelte sich bei ihm auch jene reich nuancierte Fülle von Formen des religiösen Glaubens und Denkens, durch die es sich vor allen anderen Völkern auszeichnet. Derselbe Reichtum der Erscheinungen, welcher die ersten Produkte des Denkens in der mannigfaltigsten Weise ausprägte, fuhr auch in der Folgezeit ununterbrochen fort, auf allen Gebieten des Lebens in Griechenland eine Fülle von eigentümlichen Gestaltungen zu erzeugen, wie wir sie auf so eng umgrenztem Raume zum zweiten Male nicht wieder in der Weltgeschichte finden. Mit vollem Recht kann man es aussprechen, daß kein Volk der Beschaffenheit seines Heimatlandes so viel zu danken gehabt hat, wie das griechische.

Will man im grossen und ganzen erkennen, wie vorteilhaft Griechenland von der Natur ausgestattet war, um eine begabte Bevölkerung zur frühzeitigen Entwickelung einer nationalen Kultur anzuregen, so wird es am zweckmäßigsten sein, wenn man sich zunächst theoretisch diejenigen Naturformen vergegenwärtigt, von denen am ehesten zu erwarten steht, daß sie die Menschen zu einer nützlichen und mannigfaltigen Thätigkeit, also auch zu einer harmonischen Ausbildung seiner Kräfte veranlassen werden.

Zuerst und vor allen Dingen wird erforderlich sein, daß der Mensch sich der Natur gegenüber in dem Zustande einer gewissen Bedürftigkeit befindet. Wo ihm die Natur alles, was er zu seiner Erhaltung braucht, in den Schoß wirft, ohne daß er sich zu bemühen braucht, wird er träumerisch fortvegetieren; hier fehlt ihm der mächtigste Impuls zur Thätigkeit, – die Not. Andererseits, wo die Natur so unfreundlich ist, daß sie ihm fast alle Mittel versagt, um zu einer behaglichen Existenz zu gelangen, wird er sich auf die Sorge für das Allernotdürftigste einschränken, teils weil Besseres wirklich nicht zu erreichen ist, teils weil schon durch die Sorge für das Notwendigste seine ganze Kraft erschöpft wird; hier rüttelt die rauhe Natur allerdings den Menschen sehr gewaltig aus dem Traumleben auf, aber nur, um ihn auf eine niedrige Kulturstufe festzubannen, da sie ihm die Mittel zu einer weiteren Verbesserung seiner Lage unerbittlich versagt. Jene Erscheinung, daß der Mensch ohne Antrieb zur Thätigkeit sich auf die Natur verlässt, tritt uns in den Tropen entgegen, diese in den Polar-Regionen. In beiden Zonen beharren die Menschen, so lange sie sich selbst überlassen bleiben, auf niedriger Kulturstufe, da die Natur entweder keine Anregung erteilt oder ihnen kein wünschenswertes und zugleich erreichbares Ziel vorhält. Anders in der gemäßigten Zone. Hier ist die Natur nicht so verschwenderisch, daß dem Menschen das Gefühl seiner Bedürftigkeit erspart wäre, aber doch noch immer so ausgestattet, daß er mit einiger Mühe ihr wohl die Mittel entlocken kann, um nicht bloß der allerdrückendsten Not abzuhelfen, sondern auch zu einer gewissen Behaglichkeit des Lebens zu gelangen. Hier setzen also den Menschen zwei starke Triebfedern in Thätigkeit: einerseits spornt ihn das Bedürfnis, andererseits lockt ihn die begründete Aussicht auf einen befriedigenden Erfolg seiner Mühe. Hier sind die Bedingungen zu früher Kulturentwickelung gegeben, und diese wird um so mannigfaltiger ausfallen, sie wird um so andauernder von Fortschritt zu Fortschritt führen, je reicher die Natur an Kräften und Mitteln ist, die der Mensch zu einer allmählichen Verbesserung seiner Lage verwerten kann.

Für den Fortgang der Kultur wird zweitens eine gewisse Mannigfaltigkeit der Naturformen von förderndem Einfluß sein. Einförmige Naturscenerien ergreifen beim ersten Anblick allerdings nicht selten das menschliche Gemüt sehr tief, so der Anblick des Meeres, unabsehbarer Prairien oder der Wüsten; aber der starke Eindruck stumpft sich bald ab und weicht zuweilen sogar einer gedrückten Stimmung, von der erst wieder die Macht längerer Gewöhnung befreit; und jedenfalls fehlt einer monotonen Scenerie die Fähigkeit, in mannigfaltiger Weise anzuregen. Mannigfaltige Anregung findet der Mensch, wo er sich in eine Fülle verschiedenartiger Naturformen versetzt sieht, wo Land und Meer vielfach und innig in einander greifen, wo Berg und Thal, Ströme und Quellen, Wälder und Wiesen seinem Blick sich darbieten und ihn zu mannigfaltiger Benutzung einladen. Bei den Bewohnern von Steppen und Wüsten, von ausgedehnten Waldlandschaften wird die Kultur nur einseitig ausfallen und meist auf einer niedrigen Stufe verbleiben; denn hier fehlt die Mannigfaltigkeit der Impulse, welche den Menschen zu verschiedenartiger Thätigkeit antreibt. Auf reichgegliedertem Terrain laden die ergiebigen Ebenen zum Ackerbau ein, die sonnigen Gehänge zur Pflege von Fruchtbäumen, die kräuterreichen Berge zur Viehzucht, Flüsse, Seen und ein freundliches Meer zur Fischerei. Indem sich die Bevölkerung nach Maßgabe dessen, was dem einzelnen zunächst liegt oder ihm den meisten Vorteil verspricht, diesen verschiedenen Berufszweigen widmet, entwickeln sich in den einzelnen Gruppen gewisse specifische Fähigkeiten in höherem Grade; es sammelt sich bei ihnen in Bezug auf die speciellen Zweige ihrer Thätigkeit schneller ein Schatz von Erfahrungen, d. h. die Kulturentwickelung gewinnt ein schnelleres Tempo.

Aber um sie in umfassender Weise fruchtbar zu machen, ist auf einem solchen Gebiet noch eine andere Bedingung vonnöten, – die Möglichkeit eines bequemen Verkehrs. Auf ungegliedertem Terrain, auf ausgedehnten Ebenen, wie den russischen, stehen die einzelnen Teile unter ganz gleichen oder doch sehr analogen physischen Bedingungen. Gleiche Meereshöhe, gleiche klimatische Verhältnisse, gleiche Bodenbeschaffenheit bedingen auch eine gleiche Vegetation und eine gleichmäßige Verteilung der Tierformen über das gleichartige Gebiet. Infolgedessen ist auch für die Kulturentwickelung nirgends ein Grund zur Abweichung, zur Entfaltung einer Besonderheit vorhanden; nirgends reizt eine physische Eigentümlichkeit einen Teil der Völkerschaft an, bestimmte Fähigkeiten vorzugsweise zu entwickeln, in einem bestimmten Zweige der Lebensthätigkeit den anderen vorauszueilen. Hier ist ein Mensch gewissermaßen der Abklatsch des anderen, und der Verkehr, dies mächtigste Ferment gegenseitiger Förderung, verliert unter solchen Verhältnissen seine anregende Kraft; er giebt keine Gelegenheit, Neues und Nachahmungswertes kennen zu lernen. Vergegenwärtigen wir uns nun das diametrale Gegenteil dieser Naturform, ein Hochgebirgsland, zerstückt in eine Anzahl scharf von einander geschiedener Kantone, die nur auf heillosen Bergpfaden über schwierige Pässe mit einander kommunicieren können, so werden wir allerdings finden, daß in den einsamen Gebirgskesseln sehr viele Besonderheiten sich entwickeln. Die Bewohner der verschiedenen Thalgründe werden eine bunte und interessante Musterkarte bilden, wie z. B. im Kaukasus, wo die Bewohner benachbarter Thäler zuweilen ganz verschiedenen Sprachstämmen angehören und das ganze Gebirge ein ethnographisches Raritäten-Kabinet ist. Aber diese grosse Mannigfaltigkeit kommt der Kultur der Gesamtheit nicht zu statten, teils weil das einzelne zu weit divergiert, als daß es sich verstehen sollte, teils weil der Verkehr zu schwierig ist, als daß von einer lebendigen Wechselwirkung die Rede sein könnte. Während dort, auf den monotonen Ebenen, bei der Gleichförmigkeit der Kultur die Leichtigkeit des Verkehrs nicht viel nützt, ist hier, bei der Schwierigkeit des Verkehrs, die Mannigfaltigkeit der Kulturformen ohne praktischen Wert für den Fortschritt der Gesamtheit.

Aus den Wirkungen dieser beiden Extreme können wir leicht die Bedingungen ableiten, welche der Kultur am meisten förderlich sein werden. Sie werden bestehen erstens in einer deutlichen Gliederung und mannigfaltigen Ausstattung des Terrains, so daß in den verschiedenen Teilen desselben verschiedene Richtungen einer selbständigen Kulturentwickelung dauernd begünstigt werden, und zweitens in einer verhältnismäßig leichten Kommunikation zwischen den einzelnen Knotenpunkten verschiedenartiger Kulturentwickelung. Dann ist Verkehr möglich und Wechselwirkung. Es ist Gelegenheit gegeben, Neues und Eigentümliches kennen zu lernen und sich anzueignen. Das Bessere bleibt nicht verborgen. Das Volksganze zerfließt nicht in eine gleichartige Masse, die nur zu leicht auf einer bestimmten Kulturstufe in Stagnation gerät, sondern hat sich gewissermaßen in eine Anzahl von Individualitäten gegliedert, von denen jede durch ihre eigentümliche Entwickelung der Kultur der Gesamtheit ihren Tribut darbringt. Hier, wo die verschiedenen Zweige der Kulturarbeit sich auf einzelne Gruppen der Bevölkerung verteilt haben, bietet ferner die Leichtigkeit des Verkehrs Gelegenheit, die verschiedenen Erzeugnisse des Fleißes gegenseitig auszutauschen, und somit die Möglichkeit, die volle Kraft auf die Entwickelung des eigenen Berufszweiges zu koncentrieren.

Das etwa sind die Grundlinien derjenigen natürlichen Verhältnisse, welche einer schnellen und gesunden Entwickelung des Menschen am förderlichsten sind. Daß die hervorgehobenen Bedingungen auf griechischem Boden sämtlich vorhanden sind, springt schon bei der oberflächlichen Betrachtung des Landes ins Auge. Ihre volle Wirksamkeit tritt jedoch erst bei sorgsamerer Prüfung in das gebührende Licht; wir lernen sie immer gründlicher würdigen, je genauer wir uns mit der Natur des Landes bekannt machen und je aufmerksamer wir gleichzeitig die Zustände und Schicksale seiner Bewohner überblicken. Dies ist die Aufgabe der alten Geographie Griechenlands in ihrer doppelten Beziehung, ihrer physikalisch-topischen und ihrer philosophisch-historischen. Sie zerfällt naturgemäß in einen allgemeinen und einen speciellen Teil. Während letzterer die genaue Naturbeschreibung und Topographie der einzelnen Landschaften zu bieten und die Schlüssel zum Verständnis der Lokalgeschichte aufzusuchen hat, wird ersterer – und er allein soll hier der Öffentlichkeit vorgelegt werden – übersichtlich die dem ganzen Lande gemeinsamen und dieses Land von anderen unterscheidenden Charakterzüge hervorheben und aus ihnen die allgemeinen Folgerungen für seine historische Entwickelung ableiten. Nahezu erschöpfend dürfte dies möglich sein, wenn wir, nach einander das Klima Griechenlands, das Verhältnis von Land und Meer, das Relief des Landes, seine geognostische Beschaffenheit und die nutzbaren Stoffe seines Bodens, endlich die Vegetation und die Landeskultur zum Gegenstand unseres Studiums machen.