BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Cauer

1854 - 1921

 

Deutsches Lesebuch für Prima

 

Erste Abteilung

 

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7.

Wie der Staat zu der Menschheit stehe.

Von Friedrich Christoph Dahlmann (1785 - 1860).

 

Die Politik, auf den Grund und das Maß der gegebenen Umstände zurückgeführt. Erster Band (Leipzig 1835; 3. Aufl. 1847). Einleitung. – Der zweite Band des Werkes ist nicht erschienen. [Text der 1. Auflage.]

 

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Dem Staate geht kein Naturzustand voran, der von blinden Trieben und vernunftlosen Menschen handelt. Der Naturstand des Menschen ist Vernunft zu besitzen, ein Über und ein Unter sich zu unterscheiden. „Kunst ist des Menschen Natur.“ (Burke.)

Der Staat ist mithin keine Erfindung, weder der Not noch der Geschicklichkeit, keine Aktiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervorspringendes Vertragswerk, kein notwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit, er ist eine ursprüngliche Ordnung, ein notwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit und eines von den die Gattung zur Vollendung führenden Vermögen.

Der Staat ist uranfänglich. Die Urfamilie ist Urstaat; jede Familie, unabhängig dargestellt, ist Staat. „Der Mensch ist von Natur ein Staatswesen.“ (Aristoteles).

Was man in der Beschreibung ungebildeter Völker Naturstand nennt, ist nur ein minus der Staatsthätigkeit, das aus einem unentwickelten Bewußtsein des Staates stammt. Man kann mehr Volk als Staat sein, aber man kann nicht Volk ohne Staat sein. Die Aufgabe ist, den Staat im Volksbewußtsein zu vollenden.

Die Annahme eines Naturstandes ist als Behelf der Demonstration, als ein bewußtes Absehen vom Staate, um ihn demnächst frei aus der menschlichen Beschaffenheit entstehen zu lassen, nicht zu verwerfen. Wird aber der Naturstand mit positiven Eigenschaften ausgerüstet (ungesellig, gesellig, gleichgültig), so wird eben dadurch der Staat aus einer übermächtigen, übermenschlichen Ordnung zum Geschöpfe menschlicher Willkür.

Denn der Staat ist nicht bloß etwas Gemeinsames unter den Menschen, nicht bloß etwas Unabhängiges, er ist zugleich etwas Zusammengewachsenes, eine leiblich und geistig geeinigte Persönlichkeit. Die Familie, unabhängig gedacht, ist Volk und Staat in völliger Durchdringung beider. Durch mehrere Familien im Staate entsteht die Möglichkeit mehrerer Staaten; und idem herrschende Famlien durch ihren Zusammenhang mit abhängigen zu Stämmen heranwachsen, geschieht ein starker Schritt dazu, allein Volk und Staat weichen von nun an freier aus einander. Es braucht weder ein ganzes Volk sich in demselben Staate abzuschließen; trennen doch oft Weltteile die Mitglieder desselben Hauses; noch duldet es die schon mächtiger schaltende Geschichte, daß überall der Staat aus einer blutsverwandten Volksnatur erwachse, oder, wenn erwachsen, unvermischt fortbestehe. Volk und Bevölkerung unterscheiden sich fortan häufig, und der Staat ist etwas anderes geworden, als bloß die Form des Volkes.

Gleiche Volksart von Haus aus, das will sagen, ein körperlich und geistig gleichartiger Menschenschlag, gleiche Sprache als Zeugnis seit Jahrhunderten gleichverstandener Lebenserfahrungen, bilden eine glückliche Mitgabe für den Nationalstaat auf seinem dornichten Wege zur bewußten Durchbildung. Aber die Geschichte hat von jeher häufig die stille Urbildung der Natur unterbrochen, indem sie verschiedenartige Stämme und Volksthümlichkeiten über einander schichtete und aus der Vermischung manchmal eine zweite gelungenere Natur und gediegene Staatsbildungen gewann. Aus Pelasgern, Thrakern, Achäern, Joniern erwuchs das lebensvolle Volk von Attika, und seit das Christentum unserm Weltteile Einheit der Religion gab, konnte selbst Briten, Römern, Sachsen, Dänen, Normannen, nachdem die furchtbaren Krisen des ersten Zusammentreffens überwunden waren, der Staat von England gelingen. Tritt so das Band der ursprünglichsten Blutsverwandtschaft allmählich zurück, so verstärkt sich dagegen das Band des örtlichen Zusammenseins mit dem Wachstum der Bildung. Das unbestimmte Heimatsgefühl der Naturvölker, welches hauptsächlich nur Liebe zu den Genossen und zu gewissen Lebensarten ist, steigert sich mit dem Fortrücken der Bildung und namentlich durch Werke der bildenden Kunst zur örtlichsten Vaterlandsliebe. Völkerwanderungen hören auf.

Die übermächtige weltliche Ordnung, welche den Menschen in ein Volk setzt, indem sie ihn in einer Familie geboren werden läßt, nimmt aber ihre Macht nicht aus sich selber und hat ihren letzten Zweck nicht in sich. Sie dient vielmehr einer höher stehenden Ordnung, welche jedem einzelnen Staate und allen Staaten miteinander überlegen ist. Wir glauben an ein großes gemeinsames Werk der Menschheit, zu welchem das einzelne Staatenleben nur die Vorarbeiten liefert, an eine auch äußerliche Vollendung der menschlichen Dinge am Ende der Geschichte. Das am tiefsten verschlungene Rätsel unseres Daseins steht freilich an ihrem Anfange. Darüber aber hat nun einmal die Lehre vom Staate nicht zu untersuchen, wie es denn gekommen sei, daß die Menschheit von Anfang her so schief gegen das Licht steht, daß sie bei jedem Schritte einen langen Schatten wirft, warum es unmöglich ist die Lehren der Religion in ihrer ungetrübten Reinheit als Anforderung in den Menschenstaat einzuführen, warum Familienvorteil und Staatswohl sich so mannigfach bekämpfen, und warum, was die höchsten Beziehungen angeht, eines gut sein kann (dem Sittengesetz des Individuums entsprechend), ein anderes aber recht (dem Gebot des Staats entsprechend). Die Staatslehre hat den Grund der ethischen Verhältnisse nicht aufzudecken, sie soll dieselben anerkennen, und diejenigen äußerlichen Einrichtungen ausbilden, welche diesen Zwiespalt zu vermindern dienen, indem sie den Staat der höheren versöhnenden Sitte empfänglich machen. Der einzelne aber muß zuvor in seinem eigenen Wesen die billig herrschenden Gewalten von den billig dienenden unterscheiden lernen, ehe er von Staatssachen zu urteilen unternimmt.

Darum ist die Errichtung des rechtlichen Zustandes, wie er denn auch beschaffen sei, freilich Sache des Staates, aber nicht letzter Zweck des Staates. Darum aber auch tritt der Staat als solcher nicht an die Stelle der göttlichen, unbedingt zu befolgenden Ordnung, und es kann die Vorschrift nicht vor der Wahrheit bestehen, daß die äußere Pflicht vor der sittlichen erfüllt werden müsse; wiewohl nichts auf der Erde der göttlichen Ordnung so nahe steht als die Staatsordnung.

Der seiner höheren Bestimmung getreue Mensch bringt dem Staate jedes Opfer des Eigentums und der Person, nur nicht das Opfer seiner höheren Bestimmung selber 1); alles sein Recht mag er hingeben, nur nicht das, worüber er kein Recht hat. Das ist der Ruhm und die Gefahr der menschlichen Dinge, daß der einzelne am Ende unberechenbar gegen den Staat steht.

Der Staat inzwischen wird keine Macht in seinem Innern gestatten wollen, die sich gegen seine Rechtsanstalten erhebt. Der schlechte Staat bedient sich zu dem Ende lediglich seiner Gewalt, verschlingt die Familie mit der Macht seines Gesetzes, legt sich ein Obereigentum bei, drückt auf die Forschung seinen Stempel, dringt jeder Regel jede Ausnahme auf. Der gute Staat hingegen, weit entfernt das Privatrecht zu stören, stellt es unter den Schutz des öffentlichen Rechtes, und legt dem Eigentum und den Personen allein diejenigen Beschränkungen auf, welche das öffentliche Wohl erfordert. Durch diesen entscheidenden Schritt der Gewährleistung des Privatrechtes söhnt er das selbstständige Wesen der Familien mit den Schuldigkeiten des Staatsrechtes aus, und die Regierung stellt sich hoch über der Bevölkerung auf; alle ferneren Zwistigkeiten kämpfen sich in kleineren Kreisen durch, bedrohen die Gesamtordnung nicht.

Da die Menschheit kein anderes Dasein hat als dieses, welches, im steten Entwickelungskampfe räumlich und zeitlich begriffen, in unserer Geschichte vorliegt, so entbehrt eine Darstellung des Staates, welche sich der historischen Grundlagen entäußert, aller ernsten Belehrung, und gehört den Phantasiespielen an. Der Idealist, zeit- und ortlos hinstellend was den guten Staat bedeuten soll, löset Rätsel, die er sich selber aufgegeben hat; er vollbringt mit Menschen, die es nie gegeben hat, die Aufstellung einer Gegenwart, welche keine Fähigkeit zu sein besitzt. Die Politik muß, um lehrreich zu sein, ihre Aufgaben nicht wählen, sondern empfangen, wie sie im Drange von Raum und Zeit hervorgehen aus jener tiefen Verschlingung der gesunden Kräfte der Menschheit mit allem dem krankhaften Wesen, welches in der physischen Welt Übel, in der moralischen Böses heißt. Die Politik ist Gesundheitslehre, nicht weil sie Gesundheit geben, sondern weil sie die Ursachen der Krankheit entdecken und oft vermindern kann.

Darum darf auch selbst die Erklärung, was der Staat bedeute, in den Fluß der Zeit hingestellt sein. Der Staat kann erscheinen lediglich unter dem Charakter eines äußerlich unabhängigen Menschenvereins, der am Ende nicht einmal vollständige Familien zu besitzen braucht  2), geschweige denn festen, oder überhaupt nur eigenen Boden, der aber doch immer, um ein Verein (nicht mehrere) zu sein, eine Anzahl gemeinsamer Obliegenheiten, durch eine Regierung nach außen gegen andere Staaten, nach innen gegen die Unterthanen gewahrt, enthalten muß. So der Staat in seiner dürftigsten Erscheinung. Dagegen kann er, wenn alle Bedingungen als günstig angenommen werden, sich gestalten als: ein unabhängiger Verein von körperlich und geistig gleichartigen unter demselben Gesetze lebenden Familien, welcher, nachdem er fortwachsend einen für eine dichte Bevölkerung ausreichenden Boden und starke anerkannte Grundlagen seines äußeren Lebens errungen hat, und nun ausgewachsen ist, fortan arbeitet, wie er auch seinen inneren Frieden finde. Hat es Fortgang mit dieser Arbeit, so wird die Vielgestaltigkeit seines Gemeinwesens nirgend ferner an Regierungseinheit darben, und alles was nützlich, was wahr und schön und heilig unter den Menschen ist, gelangt zu einer diesem Volk eigenthümlichen, und mit bewußtem Fortschreiten jede Volksklasse fortbildenden Darstellung. – Denn zur Darstellung des weltlich Guten gehört auch das gute Gelingen, und weil nichts vollkommen ist was besteht, so ist das höchste Darstellbare der Fortschritt.

In einem Staate dieser Art ist die Freiheit seiner bürgerlichen Gesellschaft ohne weiteres enthalten, und es ist dieselbe an keine allgemeingültige äußere Form gebunden, obwohl es freiheitstützende Einrichtungen giebt. In Hinsicht auf die Form aber nennen wir denjenigen Staat frei, dessen Grundeinrichtungen nur nach einer bestimmten allgemeinen Regel und nur unter Zuthun aller Stände oder Gliedmaßen des Volks verändert werden können.

Weil die Menschheit in jedem Zeitalter neue Zustände gebiert, so läßt sich kein Staat grundfest darstellen, außer mit den Mitteln und unter den Bedingungen irgend eines Zeitalters, außer gebunden an die Verhältnisse irgend einer unmittelbaren Gegenwart. Daher drängt alle Behandlung von Staatssachen im Leben und in der Lehre zur Historie hin, und durch sie auf eine Gegenwart, und weiter, weil keine neue Form des Lebens sich vernachlässigen läßt, auf unsere Gegenwart, unsern Weltteil, unser Volk.

Der Staat ist aber nicht allein ein In Sich, er hat auch ein Neben Sich, die andern Staaten. Die Ausbildung auch dieses geselligen Verhältnisses ist unabweisbar Aufgabe der Politik und steht mit der Stufe der innern Ausbildung in notwendiger Wechselwirkung. Wer einen Welt- oder Menschheits-Staat begehrt und in Universalmonarchien vorverkündigt sieht, der verschließt der zu Staaten versammelten Menschheit die Aussicht auf ihre höchste Bildungsstufe, auf welcher sich der Staat, wie er von der Familie ausgegangen, in der Staatenfamilie vollende.

Darum zerfällt die Lehre vom Staate für den Darsteller in zwei Teile, die Lehre vom Staate, für sich, im innern Bau und Leben betrachtet, und betrachtet als Glied der Staatengesellschaft. Die Lehre vom Staate für sich selber teilt sich aber wieder zwiefach; indem ihr erster Teil von der Regierungsthätigkeit, als der einheitlichen Trägerin der Staatsgewalt ausgehend, die Staatsverfassung abhandelt, der zweite Abschnitt aber, von der Mannigfaltigkeit der Personen und Sachen ausgehend, die Mittel zur Ausführung der Verfassung durch Unterthanenthätigkeit, das ist, die Verwaltung behandelt.

Die Verfassung nun beruht auf der Einheit im Staate und hat eine einfachere Darstellung. Für die Verwaltung bedarf es zuvörderst der Kenntnis der Gebiete, auf welchen sie sich zu bewegen hat, der ländlichen und städtischen Gemeinden und Gemeindebezirke, ingleichen der darin verwaltenden Behörden, wie sie zur Gemeinde und zum Staate stehen müssen, damit Regierung und Verwaltung sich am rechten Orte begegnen. Verwaltungsgegenstände sind: die Verwaltung der an den Personen haftenden Güter, welcher die der sächlichen Güter gegenübersteht; zur Berichtigung aber und Sicherstellung beider Verwaltungen sind die Rechtsanstalten der Polizei und Justiz berufen. Diese nämlich leisten das im Innern, was die bewaffnete Macht nach außen leistet, die Staatsverteidigung.

 

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1) „Über die Seele kann und will Gott niemand lassen regieren, denn sich selbst allein.“ Luther, von der Unterthanen Pflicht gegen die Obrigkeit. 

2) Delos, wo keine Frau gebären, die Jomsburg, wo keine hausen durfte.