BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Paul Cauer

1854 - 1921

 

Deutsches Lesebuch für Prima

 

Zweite Abteilung

 

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[146]

13.

Wesen der Tierfabel.

Von Jacob Grimm (1785 - 1863).

 

Reinhart Fuchs. (Berlin 1834.) Einleitung, Kap.1. [Text dieser 1. Auflage bei Google.]

 

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Die Poesie nicht zufrieden Schicksale, Handlungen und Gedanken der Menschen zu umfassen, hat auch das verborgene Leben der Tiere bewältigen und unter ihre Einflüsse und Gesetze bringen wollen.

Ersten Anlaß hierzu entdecken wir schon in der ganzen Natur der für sich selbst betrachtet auf einer poetischen Grundanschauung beruhenden Sprache. Indem sie nicht umhin kann allen lebendigen, ja unbelebten Wesen ein Genus anzueignen, und eine stärker oder leiser daraus entfaltete Persönlichkeit einzuräumen, muß sie sie am deutlichsten bei den Tieren vorhersehen lassen, welche nicht an den Boden gebannt, neben voller Freiheit der Bewegung, die Gewalt der Stimme haben, und zur Seite des Menschen als mitthätige Geschöpfe in dem Stilleben einer gleichsam leidenden Pflanzenwelt auftreten. Damit scheint der Ursprung, fast die Notwendigkeit der Tierfabel gegeben.

Es ist nicht bloß die äußere Menschähnlichkeit der Tiere, der Glanz ihrer Augen, die Fülle und Schönheit ihrer Gliedmaße, was uns anzieht; auch die Wahrnehmung ihrer mannigfaltigen Triebe, Kunstvermögen, Begehrungen, Leidenschaften und Schmerzen zwingt in ihrem Innern ein Analogon von Seele anzuerkennen, das bei allem Abstand von der Seele des Menschen ihn in ein so empfindbares Verhältnis zu jenen bringt, daß, ohne gewaltsamen Sprung, Eigenschaften des menschlichen Gemüts auf das Tier, und tierische Äußerungen auf den Menschen übertragen werden dürfen. In mehr als einer sinnlichen Kraft thut es uns das Tier zuvor, in Schärfe des Gesichts, Feinheit und Stärke des Gehörs und Geruchs, Schnelle des Laufs und Befähigung zum Flug; sollten wir ihm nicht zugestehen, neben uns und in der Einwirkung auf uns seine Besonderheit geltend zu machen?

Die früheren Zustände menschlicher Gesellschaft hatten aber dies Band fester gewunden. Alles atmete noch ein viel frischeres sinnliches Naturgefühl. Jäger und Hirte sahen sich zu einem vertrauten Umgang mit den Tieren bewogen, und tägliches Zusammensein übte sie im Erlauschen und Beobachten aller ihrer Eigenschaften. Damals wurden ein Menge nachher verlorner oder geschwächter Beziehungen zu den Tieren entwickelt. Von Hegung und Weide des zahmen Viehes, Erlegung des Wilds, Verfolgung des Raubtiers, aber auch von einem uneigennützigen, unfeindlichen Verkehr, wie er in mancher Lage zwischen Mensch und Tier eintreten mußte, gingen diese Bezüge aus. Für Tiere, deren nähere Bekanntschaft unentbehrlich war, oder die man scheute, mit denen aber gut zu stehn für ratsam erachtet wurde, entsprangen außer den gewöhnlichen Appellativen besondere Eigennamen, die als Ruf oder Anrede geltend unter beiden Parteien das wärmere Verhältnis einer wenigstens unvollkommen gelungenen Verständigung herbeiführten, diese Namen konnten wieder mit der Zeit in förmliche und ständige Appellativa übergehen.

Blieben nun in der Wirklichkeit immer Schranken gesteckt und Grenzen abgezeichnet, so überschritt und verschmolz sie doch die ganze Unschuld der phantasievollen Vorzeit allenthalben. Wie ein Kind, jene Kluft des Abstands wenig fühlend, Tiere beinahe für seinesgleichen ansieht und als solche behandelt; so faßt auch das Altertum ihren Unterschied von den Menschen ganz anders als die spätere Zeit. Sagen und Mythologien glauben Verwandlungen der Menschen in Tiere, der Tiere in Menschen, und hierauf gebaut ist die wunderbare Annahme der Seelenwanderung. In schwieriger Gefahr hat der Mensch entscheidenden Rat und Hilfe einiger Tiere zu gewarten. Von andern befürchtet er Übel und Nachteil, noch weit größeren, als ihre natürliche Fähigkeit ihm zu schaden mit sich führt, allein er traut ihnen Zauberkräfte zu, und meidet abergläubisch ihren Namen auszusprechen, an dessen Stelle er ein anderes schmeichelndes oder versöhnendes Wort setzt. Ohne Tiere, deren Art, Geschlecht und Farbe genaueste Rücksicht fordert, können gewisse Opfer nicht vollbracht, gewisse Weissagungen nicht gepflogen werden. Vogelflug und Angang der Tiere sind bald heilbringende, bald schreckende Zeichen; Tiere sind Anführer auswandernder Ansiedelungen. Tiere werden, zur Deutung der Gestirne, an Himmel versetzt, Tiere versehen Botendienste und künden dem Menschen herannahendes Glück oder Leid. In ihrem Geschrei und Gespräch (das Begabte verstehen lernen) unterhalten sie sich von unserm Geschick, von unsern Begebenheiten. Einige Tiere sollen ein Alter erreichen, das die dem Menschen gesetzte Lebenszeit weit übertrifft. Nachahmung der Tiergestalt in Tracht, Larve und Rüstung, Tierbilder auf Heerzeichen und Wappen liegen darum dem Menschen nahe; sie mögen nicht bloß durch die Verwendung schmückender Häute und Federn, sondern durch irgend einen lebendigeren Bezug auf Eigenschaften der Tiere und ihr Verhältnis zu den Menschen eingeführt gewesen sein. Wo aber solche und ähnliche Vorstellungen (und sie scheinen bei Völkern auf halber Bildungsstufe am stärksten und lebhaftesten) in dem Gemüte des Menschen wurzeln, da wird es gern dem Leben der Tiere einen breiteren Spielraum, einen tieferen Hintergrund gestatten, und die Brücke schlagen, über welche sie in das Gebiet menschlicher Handlungen und Ereignisse eingelassen werden können.

Sobald einmal um diesen Zusammenhang des tierischen und menschlichen Lebens her die vielgestaltige Sage und die nährende Poesie sich ausbreiteten, und ihn dann wieder in den Duft einer entlegenen Vergangenheit zurückschoben; mußte sich da nicht eine eigentümliche Reihe von Überlieferungen erzeugen und niedersetzen, welche die Grundlage aller Tierfabel abgegeben haben? Alle Volkspoesie sehen wir erfüllt von Tieren, die sie in Bilder, Sprüche und Lieder einführt. Und konnte sich die allbelebende Dichtung des letzten Schritts enthalten, den Tieren, die sie in menschlicher Sinnesart vorstellt, auch das unerläßliche Mittel näherer Gemeinschaft, Teilnahme an menschlich gegliederter Rede beizulegen? Ohne jenes gläubige Zugeständnis ihrer Sprachgabe, die nicht viel mehr auffällt als die gleiche Sprache zweier Völker im Gedicht, war keine Aufnahme der Tiere in das Reich der Dichtung denkbar. Bedeutsam drückt die Formel „als noch die Tiere sprachen“, mit welcher wir das Dunkel einer geschwundnen Vorzeit bezeichnen, den Untergang jenes im Glauben der Poesie vorhandenen engeren Verkehrs mit den Tieren aus, dessen Erinnerung diese uns in ihren Bildern vorhält. Wie durch ein Mißgeschick sind die Tiere nachher Schuld gleichsam dabei wirkte, ihre Sprache zurück.

Die Tierfabel gründet sich also auf nichts anderes als den sicheren und dauerhaften Boden jedweder epischen Dichtung, auf unerdenkliche, langhingehaltene, zähe Überlieferung, die mächtig genug war sich in endlose Fäden auszuspinnen und diese dem wechselnden Laufe der Zeiten anzuschmiegen. Gleich allem Epos, in nie still stehendem Wachstum, setzt sie Ringe an, Stufen ihrer Entwickelung zu bezeichnen, und weiß sich nach Ort, Gegend und den veränderten Verhältnissen menschlicher Einrichtungen unermüdlich von neuem zu gestalten und wieder zu gebären. Unter günstigem Luftstrich gedeiht sie und gewinnt Formen; wo aber die Zeit ihrer Blüte ungenutzt verläuft, stirbt sie allmählich aus, und wird nur noch in bröckelhafter Volkssage dahin getragen. Es ist eben so widerstrebend, echte Tierfabeln zu ersinnen, als ein anderes episches Gedicht. Alle Versuche scheitern, weil das Gelingen gebunden ist an einen unerfundnen und unerfindbaren Stoff, über den die Länge der Tradition gekommen sein muß, ihn zu weihen und zu festigen.

Nur darin unterscheidet der Gegenstand der Tierfabel sich von dem jedes übrigen Epos, daß dieser, wenn auch keine wirkliche Begebenheiten enthaltend, immer an sie grenzt und sich unauflösbar mit der wahren Geschichte der Vorzeit vereinigt; die Tierfabel hingegen eine Unterlage empfangen hat, welcher die Möglichkeit der Wahrheit notwendig abgeht, durch den Glauben der Einbildungskraft aber dennoch Bestätigung und Sicherheit verliehen wird. Wie die Sprache leblosen Wesen ein Geschlecht erteilte, dessen sie in der Natur unfähig waren, so hat die Poesie den Tieren Begebenheiten und eine Geschichte anerschaffen. Sobald wir eingelassen sind in das innere Gebiet der Fabel, beginnt der Zweifel an dem wirklichen Geschehensein ihrer Ereignisse zu schwinden, wir fühlen uns so von ihr angezogen und fortgerissen, daß wir den auftretenden Tieren eine Teilnahine zuwenden, die wenig oder nichts nachgibt derjenigen, die uns beim reinmenschlichen Epos erfüllt. Wir vergessen, daß die handelnden Personen Tiere sind, wir muten ihnen Pläne, Schicksale und Gesinnungen der Menschen zu. Hierbei kommt in Betracht, daß Menschen selbst in die Tierfabel verflochten werden und in ihre Handlung wesentlich eingreifen, die an dem Umgang und der Sprachfähigkeit der Tiere nicht den geringsten Anstoß nehmen. Aus diesen Eigenschaften erwächst der Tierfabel ein besonderer, sogar dem übrigen Epos mangelnder Reiz, den ich in die innige Vermischung des menschlichen mit dem tierischen Element setze. Die Tierfabel hat dem zufolge zwei wesentliche Merkmale. Einmal sie muß die Tiere darstellen als seien sie begabt mit menschlicher Vernunft und in alle Gewohnheiten und Zustände unseres Lebens eingeweiht, so daß ihre Aufführung gar nichts Befremdliches hat. Die gemordete Henne wird auf einer Bahre mit Zetergeschrei vor den König getragen, er heißt ihr das Totenamt halten und eine Grabschrift setzen. Die Menschen der Fabel stehen nicht an, dem Wolf, der ihre Sprache redet, als er um Aufnahme ins Kloster bittet, die Tonsur zu gewähren, der Bauer läßt sich mit dem Fuchs in förmlichen Vertrag über seine Hühner ein, und erkennt den Löwen im Rechtsstreit mit Tieren als gemeinschaftlichen Richter. Dann aber müssen daneben die Eigenheiten der besonderen tierischen Natur ins Spiel gebracht und geltend gemacht werden. So singt der Hahn auf einem Fuße stehend und die Augenlider schließend; ein ganz der Natur abgelauschter Zug. So bedient im Kampf mit dem Wolfe der Fuchs sich aller seiner natürlichen Listen, so wird bei der Katze die eingeprägte Neigung zu den Mäusen, bei dem Bären zum Honig unentbehrlicher Hebel der Fabel, aus dem die eingreifendsten Verwickelungen hervorgehen. Dieser Vereinbarung zweier in der Wirklichkeit widerstreitender Elemente kann die Tierfabel nicht entraten. Wer Geschichten ersinnen wollte, in denen die Tiere sich bloß wie Menschen gebärdeten, nur zufällig mit Tiernamen und Gestalt begabt wären, hätte den Geist der Fabel ebenso verfehlt, wie wer darin Tiere getreu nach der Natur aufzufassen suchte, ohne menschliches Geschick und ohne den Menschen abgesehne Handlung. Fehlte den Tieren der Fabel der menschliche Beigeschmack, so würden sie albern, fehlte ihnen der tierische, langweilig sein. Einleuchtend finden wir diese Erfordernisse bewährt, wenn sich die Kunst der Tierfabel bemächtigen will, der Künstler muß es verstehen, den Tieren ihr Eigentümliches zu lassen und sie zugleich in die Menschenähnlichkeit zu erheben: er muß den tierischen Leib beibehaltend ihm dazu noch Gebärde, Stellung, leidenschaftlichen Ausdruck des Menschen zu verleihen wissen.

Eben in dieser Notwendigkeit bedingen sich andere Eigenschaften der epischen Tierfabel. Das bloße Märchen kann ganz tote Gegenstände, wie Stühle, Bänke, Kohlen handelnd und redend einführen; aus jener müssen sie geschieden bleiben, weil ihnen alle natürliche Lebensthätigkeit, die ihr beizumischen wäre, abgeht. Pflanzen, Bäume, deren Leben wiederum sich zu unmerkbar äußert, als daß sie wirksam sein könnten, taugen ihr ebensowenig. Selbst zwischen den Tieren muß ein bedeutender Unterschied eintreten. Vorerst scheinen die kleinen Tiere für die Fabel minder geeignet, weil sie nicht hinreichende Eigentümlichkeiten besitzen, die sich auffassen und anschaulich machen ließen. Inzwischen dürfen sie, z. B. die Grille oder Ameise, mit Erfolg Nebenrollen übernehmen. Dann aber stehen für die Verwendung der Tierfabel schon darin den Säugetieren die Vögel nach, daß sie uns weniger gleichen und durch ihr Flugvermögen aus der Reihe treten, in die wir mit jenen gestellt sind, den Vögeln ist eine geisterhafte Unruhe eigen, die dem Epos nicht zusagt, desto mehr dem aristophanischen Drama. Endlich wird aber zugestanden werden müssen, daß auch von den vierfüßigen Tieren vorzugsweise die größeren einheimischen für die Fabel angemessen sind. Fremde seltene Tiere liegen der anschauenden Phantasie zu fern, und sie bleibt unberührt von ihnen, es wäre höchst unschicklich in unserer Tierfabel dem Elefant oder Kamel irgend einen bedeutenden Platz zu überweisen. Haustiere sind es und die Bewohner unserer Wälder, welche für die Fabel geschaffen scheinen, mit Zuziehung einiger vertrauteren Vögel, des Hahns, Sperlings, der Lerche, wogegen das übrige große und wilde Geflügel entbehrt werden mag. Unter den Haustieren selbst aber finden wir diejenigen, welche sich gänzlich in menschliche Dienstbarkeit ergeben haben, den Ochsen, Hund und das Pferd ausgeschlossen, oder nur in beschränkter Weise auftretend: sie sind allzu zahm und prosaisch geworden; anders verhält es sich mit dem Hahn und der Katze, die eine größere Unabhängigkeit behauptet haben. Hiernach ist also der Tierfabel auch das mit dem Epos gemein, daß beide notwendig einheimischer Helden bedürfen. Aus der gleichen Ursache aber wird das gedeihende und erwärmende Tierepos überall eine feste Stätte und Heimat suchen und wie im Vordergrund der Landschaft namhafte Örter anschlagen, auf dem sich seine Figuren bewegen. Endlich, indem es einzelne Tiere auszeichnet und genau individualisiert, erhebt es sie dadurch zu Repräsentanten oder Anführern ihrer ganzen Gattung und muß notwendig von ihrer Vielheit und Menge in der wirklichen Natur absehen, welche alles wieder verallgemeinern würden. Daher stellt es die Fabel so dar, als ob der Fuchs oder Wolf, den sie uns vorhält, die einzigen im Lande wären, und beschränkt sich darauf ihnen eine nach menschlichen Verwandschaftsverhältnissen berechnete Familie beizulegen.

Nach dem Charakter, den ich der Tierfabel beigelegt habe, versteht es sich von selbst, daß ihr kein Hang zur Satire beiwohnen könne, weder zu einer allgemeinen, ihren Spott über das ganze Menschengeschlecht ergießenden, noch zu einer besonderen, die das Ziel auf einzelne Stände oder Menschen richtet. Man hat geirrt, wenn man in ihren gelungensten Gestaltungen gerade nichts als versteckte oder gezähmte Satire erblicken will. Die Satire ist von Haus aus unruhig, voll geheimer Anspielungen und verfährt durchgängig bewußt. Die Fabel strömt in ruhiger, unbewußter Breite; sie ist gleichmütig, wird von ihrer innern Lust getragen, und kann es nicht darauf abgesehn haben, menschliche Laster und Gebrechen zu strafen oder lächerlich zu machen. Ihr Inhalt ist weder eine Übersetzung menschlicher Begebenheiten, noch läßt er sich historisch auflösen. Wir werden sehen, daß alle auf diesem Wege gemachten Versuche die alte Fabel zu deuten, in sich selbst zerfallen. Wohl aber ist zuzugeben, daß sie zuweilen, wo es ihr Haften an Ort und Zeit herbeiführt, in die Satire streifen kann, obgleich ich auch dann die Anspielung eher wie eine der wahren Natur der Fabel fremde und halb aufgedrungene Ausschmückung betrachte. Noch weniger mag ihr Parodie des menschlichen Epos untergelegt werden: diese vorsätzliche, verzerrende Nachahmung gehört weit späterer Zeit an, als der worin die Fabel entsprang, und man darf sie nicht mit der stillen komischen Kraft, von der die Fabel unbewußt durchzogen wird, mit einer harmlosen Ironie, die sie dann und wann kund gibt, verwechseln. Der Widerschein menschlicher Gestalten, Handlungen und Worte hat gar nichts von der gewaltsamen Verdrehung jener Verkleidung. In dem herben aber schlagenden, überall poetischen Witz unserer Tiersage verrät sich ganz die einer rohen, kraftvollen Heldenzeit angemessene Einkleidung, besonders der Spott, der darin mit Wunden und Verstümmelungen getrieben wird, ist mir ein fast unverwerfllicher Zeuge ihres hohen Alters. Wie Reinhart den blutenden Isengrim höhnt, den wunden Brun lästert, Frauen Julocke Trost zuspricht, darin mag man leicht den Stil der bitteren Scherze erkennen, die zwischen Walthar und Hagano fallen oder der Weise, in welcher Hagene von Volkers rotem Anstrich zum Fidelbogen redet.

Schwerer zu widerlegen wird die ausgebreitete Ansicht scheinen, daß mit der Fabel wesentlich ein didaktischer Zweck verbunden sei, daß sie stets eine Lehre verhülle, die sich der Mensch aus dem Beispiel der Tiere zu entnehmen habe. In der That ist auch schon sehr frühe die Tierfabel unter diesen Gesichtspunet gestellt und bei wirklichen Vorfällen als Gegenstück erzählt worden, um aus ihr in schwieriger Lage des menschlichen Lebens eine triftige Nutzanwendung zu schöpfen, sei es nun, daß man die im Gewebe der Dichtung eingeschlossene Lehre gar nicht hervorhob, sondern dem Zuhörer sie daraus zu ziehen überließ, oder daß man sie am Ende des Vortrags aussprach, oder sie gar vorausschickte und ihr den Stoff der Erzählung wie zur Erläuterung anfügte. Unter diesen drei Arten ist die erste als die älteste und wirksamste zu betrachten, die zweite mehr der griechischen, die dritte der orientalischen Weise angemessen, unleugbar wird bei der letzten die Erwartung am wenigsten gespannt, da die vorn ausgesprochene Moral den Ausgang der Begebenheit halb erraten läßt. In allen drei Erzählungsweisen aber ist der Erfolg der Fabel dem des Sprichworts oder der Parabel vergleichbar, wie denn auch diese Benennung selbst auf die Fabel übergeht und der Ursprung der altdeutschen Ausdrücke bispel oder biwurti ganz eine solche Beziehung verrät.

Lehrhaft nun ist die Fabel allerdings, doch mich dünkt ihr erster Beginn nicht Lehre gewesen. Sie lehrt wie alles Epos, aber sie geht nicht darauf aus zu lehren. Die Lehre mag aus ihr und dem Epos, um eine Vergleichung zu brauchen, gesogen werden wie der Saft aus der Traube, deren milde Süße, nicht schon den gekelterten Wein sie mit sich führen, überall, wo uns das zur Moral vergorene Getränk dargeboten wird, ist nicht mehr die frische epische Tierfabel, sondern bereits ihr Niederschlag vorhanden. Daher quillt auch aus dem Epos die Lehre eigentlich reichhaltiger nach vielen Seiten hervor, der späteren Fabel wird eine bestimmte Affabulation entpreßt, die von kleinerem Bereich in vielen Fällen ihren Stoff gar nicht erschöpft hat; es könnten ihr noch ganz andere Lehren, als die gewählten entnommen werden, ja der nämlichen Fabel sehr verschiedene. Der echten Fabel Inhalt läßt eine Menge von Anwendungen zu, aus dem bloßen Epimythium aber läßt sich noch keine Fabel auferbauen, was jene morgenländische Auffassung als weniger gelungen darstellt und zugleich entschuldigt, da fast jede Sittenlehre von dem Umfang der Erzählung übertroffen wird. Die Fabel braucht nicht einmal eine sittliche Lehre zu enthalten, oft bietet sie nur eine Regel der Klugheit dar; das Böse kann im einzelnen oder in der Wendung des Ganzen über das Gute den Sieg davon tragen. Es scheint mir sogar ein tiefer Zug der Fabel, daß sie an den Tieren mehr Laster und Fehler der Menschen als Tugenden vorstellt, gleich als sei unsere bessere Seite zu herrlich, um von uns mit den Tieren geteilt zu werden, und alle Ähnlichkeit auf das beschränkt, was an uns noch tierisch ist. Daher in ihr List, Schlauheit, Wut, Treulosigkeit, Zorn, Neid, Schadenfreude, Dummheit und die daraus folgenden Verbrechen zur Schau kommen, fast niemals aber die edleren Leidenschaften der Liebe, Treue und Großmut, es sei denn in vorübergehenden Nebenzügen, geschildert werden. Eine Ausnahme machen Mut und Tapferkeit, Eigenschaften, die an den meisten wilden Tieren zu offenbar sind, als daß sie übergangen werden könnten. Die Moral der Fabel wird also gewöhnlich eine negative sein, entweder bloße Regel des Vorteils, oder Warnung dem Beispiel der Tiere nicht zufolgen. Den stärksten Beweis für die in der That zufällige Verbindung der getroffenen Nutzanwendung mit der Fabel selbst bietet ein Verfahren des Mittelalters an die Hand. Man hat es versucht aus der Tierfabel wie aus andern weltlichen Erzählungen christliche Lehren und Bezüge herzuleiten. So wenig nun diese geistliche Deutung Grundlage oder wesentliche Folge der Fabel war, so wenig ist es auch die Moral, die sie begleitet.

Den Völkern des Altertums, deren Vorbilder in beinahe allen Dichtungsarten glänzen, scheint sich die Tierfabel nicht so glücklich gestaltet zu haben, obgleich sie ihrer Überlieferung früherhin ohne Zweifel reich zu Gebote stand. Die Batrachomyomachie kann indessen für ein vortreffliches, auf echter Sage beruhendes Stück gelten, das sich im engen Kreise kleiner Tiere bewegt, aber durch seine überaus wohl gehaltene reine Darstellung die anmutigste Wirkung hervorbringt. Was wir unter dem Namen äsopischer Fabeln begreifen ist durch so manche Hände gegangen und so ungleich geworden, daß die ursprüngliche Abfassung daran sich nicht mehr deutlich erkennen läßt: es sind kostbare Überbleibsel aus einer Fülle von Tierfabeln, die aber meistens die Gestalt bloßer Auszüge an sich tragen und nur selten zu behagender epischer Breite sich erheben. So manch bedeutsamer und erfreulicher Zug auch noch in dieser geschwächten Niederschreibung haftet, ist doch fast alles bereits auf die Epimythien zugeschnitten, also nur bloße Verdünnung einer älteren, in größerer Freiheit empfangnen und auferzognen Tierfabel. Zeichen der abgenommenen Wärme ist es schon, daß der äsopischen Fabel die örtliche Anknüpfung beinahe ganz gebricht. Dagegen hat sich der Zusammenhang zwischen ihr und der Tierfabel anderer Völker in genug einzelnen Spuren augenscheinlich erhalten und es muß ein Hauptaugenmerk sein ihn hervorzuheben, weil er die Enge der Affabulation zeigt und das Ganze durchblicken läßt, aus dem diese Mythen gerissen wurden. Phädrus gewährt uns die nochmalige Nachbildung Äsops in gemessener, aber unbelebter Sprache, aus der alle Poesie entwichen ist, eine glatte kahle Erzählung, ein wenig labender vierter Aufguß auf die Trebern des alten Mosts. Von bedeutendem Gehalt, teilweise trefflicher Darstellung, wenn man die geschraubte, alles verkettende Manier der Erzählung nachsieht, ist die morgenländische Fabel.

Als kein ganz geringer Ersatz für unwiederbringliche Verluste und Entbehrungen muß es angesehen werden, daß die Poesie des Mittelalters eine Tierfabel aufzuweisen hat, der sich nichts anderswo zur Seite stellen läßt. ich bezeichne sie näher als eine deutsche, und gedenke es im Verlauf der fernern Abhandlung zu rechtfertigen. Die Fülle ihrer Entstehung und Ausbildung überbietet alles, was das Altertum in der Fabel hervorgebracht hat. Mit der ganzen Kraft des Epos, Knospe an Knospe schwellend, erblühte sie aus deutschem Stamm in den Niederlanden, dem nördlichen Frankreich und westlichen Deutschland. Diese örtliche Einschränkung zieht zuerst unsere Aufmerksamkeit an. Die älteste und einfachste aller Dichtungsarten, die epische ist weit mehr als alle übrigen durch Zeit und Raum bedingt. Nach Jahrhunderten und Gegenden scheint sie zurückzuweichen, und weder eine kältere noch wärmere Zone zu ertragen. Wie gewisse Pflanzen und Bäume nur unter bestimmtem Himmelsstrich gedeihen und zu ihrer vollen Macht kommen, über ihn hinaus verkümmern und zu Grunde gehen; so hat auch die Tierfabel die Grenze jener Länder nicht überschritten, und weder Südfrankreich, Italien und Spanien, noch auf der andern Seite das keltische Sprachgebiet, England, Skandinavien und die slavischen Völkerschaften erreicht. Daß sie dem Norden unbekannt geblieben scheint, der sonst eine Menge bilderreicher Tiernamen besitzt, fällt am meisten auf. Die Tiersage umschreibt also einen viel engeren Kreis, als die kerlingische Dichtung, welche aus Frankreich nach Italien und Spanien gezogen, und als die deutsche Heldensage, die uns mit dem Norden und Altengland gemeinschaftlich war.

Nach dem Mittelalter hörte die Forterzeugung der echten Tierfabel auf, es blieben nur noch schwache, in didaktische oder allegorische Form übergehende Nachbildungen des alten Stoffs zurück. In dieser Hinsicht darf für eine schädliche Folge der Bekanntschaft mit der klassischen Literatur gelten, daß Äsop und Phädrus allmählich die einheimische Fabel verdrängen konnten und auf die Ansicht der Schriftsteller einwirkten. Indem sich hier unsere Betrachtung zwei neuere Fabeldichter aushebt, die in Frankreich und Deutschland vorwiegend Ton angaben, wird dadurch hinlänglich der Weg bezeichnet werden, den diese Gattung überhaupt eingeschlagen hat.

In Frankreich möchte es bald an der Zeit sein, das lang überschätzte Verdienst Lafontaine's auf seinen wahren Wert zurückzuführen. Wenn schalkhafter Witz, frivole Anspielung auf den Weltzustand, epigrammatische Wendung in der Tierfabel an ihrer Stelle sind, so muß er ein trefflicher Fabulist heißen. Aber selbst einzelne naive Züge, die ihm allerdings noch zu Gebote stehen, können nicht die verlorene Einfalt des Ganzen ersetzen; er ist ohne epischen Takt, und viel zu sehr mit sich beschäftigt, als daß er bei der Entfaltung des alten Materials, welches er oft zu Grunde richtet, verweilen wollte. Jene Eigenschaften thun daher nicht selten eine widerwärtige störende Wirkung, die sättigende Fülle der wahren Tierfabel hat er nie erreicht. Seine leichte, gewandte Erzählungsgabe soll nicht verkannt werden, aber von der äsopischen Natürlichkeit, selbst der phädrischen Präzision ist er absichtlich gewichen, um in einem freien und losen Versmaß die Arbeit nach dem Geschmack seiner Zeit aufzuheitern (égayer l'ouvrage).

Wäre Lessings scharfsinnige Betrachtung wie in die griechische Fabel ebenso tief in die altdeutsche gedrungen und durch umfassendere historische Studien unterstützt worden, so hätten wir diesem geistreichen Mann vielleicht die fruchtbarsten Erörterungen unserer Tierfabel zu danken. Den Abstand des Phädrus von Äsop hat er aufgedeckt, auch die Schwäche der lafontainischen Fabel gegenüber der äsopischen blieb ihm unverborgen. Sein Irrtum lag darin, daß er in den besten griechischen Stücken den Gipfel, nicht in allen schon das Sinken und die sich zersetzende Kraft der alten Tierfabel erblickte. Zu dieser können die Apologe, die er selbst gedichtet, sich nicht anders verhalten als ein Epigramm in scharfzielender Gedrungenheit zu der milden und sinnlichen, von dem Geiste des Ganzen eingegebnen Dichtung des Altertums. Das naive Element geht den lessingischen Fabeln ab bis auf die leiseste Ahnnng. Zwar behaupten seine Tiere den natürlichen Charakter, aber was sie tun interessiert nicht mehr an sich, sondern durch die Spannung auf die erwartete Moral. Kürze ist ihm die Seele der Fabel, und es soll in jeder nur ein sittlicher Begriff anschaulich gemacht werden; man darf umgedreht behaupten, daß die Kürze der Tod der Fabel ist und ihren sinnlichen Gehalt vernichtet. Örtliche Anknüpfung verschmähen beide, Lafontaine wie Lessing.

Aufgabe der nachfolgenden Untersuchungen ist, die vielfache Verzweigung der altdeutschen Tierfabel, innerhalb ihres Kreises, zu erörtern, und zu zeigen, wie fast jede Bearbeitung ihr Eigentümliches hat, um derentwillen sie nicht auseinander hergeleitet werden dürfen, sondern vielmehr alle auf eine noch breitere Grundlage der Überlieferung hinführen. Wenn sich auch ergeben sollte, daß bei der Menge erhaltener Gedichte dennoch die reinsten und vorzüglichsten in ihrer ursprünglichen Gestalt, verloren gegangen sind; so muß dies sogar unsere Bewunderung des mächtigen Tierepos steigern, von dessen geschmälertem Umfang die folgenden Jahrhunderte fortgezehrt haben und dessen Ruf noch spät in Übertragungen und Nachbildungen durch ganz Europa gedrungen ist. Was hier von seinem Wesen und seiner Bedeutung vorausgeschickt wurde, hoffen die einzelnen Abhandlungen bestimmter auszuführen und ins Licht zu stellen.