BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Adolf von Düring

1880

 

Die Canterbury-Erzählungen

 

Fragment VIII

 

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Prolog der zweiten Nonne

Vers 1 - 119

 

Der Laster Pflegerin und Dienerin,

Die „Trägheit“ wir in schlichter Sprache heißen,

Vom Thor der Sinnenlust die Pförtnerin,

Zu fliehen und die Macht ihr zu entreißen,

Lernt Euch des graden Widerspiels befleißen;

Das heißt: seid thätig stets in allen Dingen,

Sonst fall't durch Trägheit Ihr in Satans Schlingen.

Er, der beständig auf der Lauer steht,

Mit tausend schlauen Stricken uns zu fangen,

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Wird, wenn er uns im Müssiggang erspäht,

Mit leichter Müh' auch an sein Ziel gelangen;

Und eh' die Augen uns sind aufgegangen,

Hält er uns längst mit seiner Hand am Kragen.

Drum wirkt, und lernt dem Müssiggang entsagen.

Und wären wir von Todesfurcht auch frei,

So müßte dennoch uns Vernunft belehren

Daß Müssiggang des Lasters Anfang sei,

Und nicht das Mittel, unser Gut zu mehren.

Durch Arbeit Andrer sucht er sich zu nähren,

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Und führt uns, wie am Gängelband, dabei

Zum Schlaf, zur Trunksucht und zur Völlerei.

Damit ich wieder mich vom Müssiggang,

Der soviel Unheil bringt, zur Arbeit wende,

Hab' ich – soweit es meinem Fleiß gelang –

Euch übersetzt die folgende Legende

Vom ruhmgekrönten Leben, Leid und Ende

Der reinen Jungfrau mit der Ros' und Lilie;

Ich meine Dich, Du Märtyrin Cäcilie.

 

Invocacio ad Mariam.

Du aller Jungfrau'n blüthenreichste Zier,

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Von der St. Bernhard hat so schön gesungen,

Laß mich beginnen mit Gebet zu Dir!

Du Trost der Schwachen, sprich, wie hat bezwungen

Den Bösen und ihr Seelenheil errungen

Durch ihren Tod als Jungfrau Deine Magd,

Von welcher die Legende uns besagt?

Du, Deines Sohnes Tochter! Mutter, Maid!

Du Gnadenbronn, der Sünder macht genesen,

Du Trägerin von Gottes Herrlichkeit,

Du Niedrige, zur Hoheit auserlesen

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Vor aller Welt, Du hast der Menschen Wesen

So sehr geadelt, daß in Fleisch und Blut

Den Sohn zu kleiden, Gott, der Herr, geruht.

Dein Segensschoß gab menschliche Gestalt

Der ew'gen Liebe, wie dem ew'gen Frieden,

Dem Lenker der dreieinigen Gewalt.

Ihn preist der Himmel; ihm lobsingt hienieden

Das Land und Meer. Dir aber ward beschieden,

Als makellose Maid in Zucht und Ehren

Den Schöpfer aller Wesen zu gebären.

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In Dir vereint Erhabenheit und Macht

Mit Gnade sich, mit Güte, mit Erbarmen.

Du hilfst nicht nur, o, Sonne voller Pracht,

Wenn wir Dich bitten; nein, Du nimmst der Armen

Auch ungefragt in Deiner liebewarmen

Barmherzigkeit Dich oft und willig an;

Du treuer Arzt der Seelen gehst voran!

Hilf auch mir Schwachen, sanfte Segensmagd,

So lang' ich an dies Jammerthal gebunden.

Hat doch das Weib von Canana gesagt,

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Man gönne ja die Krumen gern den Hunden,

Die unterm Tisch des Herren sie gefunden.

Bin ich als Evas Sohn und sünd'ger Mann

Auch Dein nicht werth, nimm meinen Glauben an!

Todt ist der Glaube, der nicht wirkt und schafft.

Drum schenke mir Verstand und Raum zu Thaten!

Gieb holde, gnadenreiche Maid mir Kraft,

Und laß mich nicht ins dunkle Reich gerathen!

Nein, mach' Dich dort zu meinem Advocaten,

Wo endlos Dir gesungen wird Hosianna!

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Du Mutter Christi, theures Kind der Anna!

Ins Dunkel meiner Seele gieße Licht,

Daß sie des Leibes Nähe nicht entehre!

Es drückt auf mich mit doppeltem Gewicht

Der Erdenlust und kranker Neigung Schwere.

O, Zufluchtshafen, Retterin gewähre

Gleich Allen, welche Leid und Kummer drücken,

Auch mir die Kraft, mich an mein Werk zu schicken!

Mir aber, bitt' ich, legt es nicht zur Last,

Wenn Ihr dies leset, was ich aufgeschrieben,

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Daß schmuck- und kunstlos ist mein Werk verfaßt.

Ich bin beim Sinn und bei dem Wort geblieben

Von dem, der, durch Verehrung angetrieben,

Uns ihren heil'gen Lebenslauf erzählte;

Darum verbessert, wo ich etwa fehlte.

 

Interpretacio nominis Cecile

quam ponit Frater Jacobus

Januensis in Legenda.

Zuvörderst sei der Name St. Cäcilie

Von mir Euch der Legende nach erklärt.

Ihn übersetzen kann man: „Himmelslilie“,

Weil sie das Weiß der Keuschheit unversehrt

Erhalten hat und ehrlich sich bewährt.

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Vielleicht gab guter Ruf und Herzensgüte

Den Namen ihr vom Duft und Grün der Blüthe.

Cäcilie kann auch heißen: „Weg für Blinde“,

Da stets ihr Beispiel lehrreich war. Doch scheint

– Wie ich nicht minder aufgeschrieben finde –

Daß dieser Name sinnbildlich vereint

Den „Himmel“ mit der „Lia“; denn es meint

Der Himmel: „heil'ge Hoheit der Gedanken“,

Und Lia: „Thun und Wirken sonder Wanken.“

Vielleicht bedeutet – kann man ferner sagen –

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Cäcilie: „Blindheitsmangel“; denn sie war

Ein helles Licht an Weisheit und Betragen.

Wenn nicht von „Himmel“ und von „Leos“ gar

Ihr Name kommt, da man mit Recht, fürwahr,

Als „Volkes Himmel“ dieses wohlbewährte

Und weise Vorbild guter Thaten ehrte.

Denn „Leos“ heißt: „das Volk“, und insofern

Die Menschen an dem Himmelszelt gewahren

Den hellen Schein von Sonne, Mond und Stern'

Erkannte man auch geistig aus dem klaren,

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Verständ'gen Sinn und gläubigem Gebahren,

So wie aus manchen Werken dieser Maid

Die Seelengröße und Vortrefflichkeit.

Wie nach der Weisen Meinung sich geschwind

Die Himmel rund im Kreise flammend schwingen,

So warst auch Du, Cäcilia, keusches Kind

Geschwind und thätig stets in allen Dingen

Und rund und ganz an Dauer im Vollbringen,

Und da wie Feuer Deine Liebe flammte,

So ist erklärt, woher Dein Name stammte.