BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Feuerbach

1804 -1872

 

Das Wesen des Christentums

 

Erster Theil

 

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Erster Theil.

Die Religion in ihrer Uebereinstimmung

mit dem Wesen des Menschen.

 

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Gott als Gesetz oder als Wesen des Verstandes.

 

Die Religion ist das bewußtlose Selbstbewußtsein des Menschen. In der Religion ist dem Menschen sein eignes Wesen Gegenstand, ohne daß er weiß, daß es das seinige ist; das eigne Wesen ist ihm Gegenstand als ein andres Wesen. Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich: er setzt sich Gott als ein ihm entgegen­gesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen, Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen, Gott ewig, der Mensch zeitlich, Gott allmächtig, der Mensch unmächtig, Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten.

Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eignes ge­heimes Wesen. Es muß also nachgewiesen werden, daß auch dieser Gegensatz, dieser Zweispalt, mit welchem die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eignen We­sen ist.

Die innere Nothwendigkeit dieses Beweises ergibt sich übrigens schon daraus, daß, wenn wirklich das göttliche Wesen, welches Gegenstand der Religion ist, ein andres wäre, als das menschliche, eine Entzweiung, ein Zwiespalt gar nicht statt finden könnte. Ist Gott wirklich ein andres Wesen, was kümmert mich seine Vollkommenheit? Entzweiung findet [38] nur statt zwischen Wesen, welche mit einander zerfallen sind, aber Eins sein sollen, Eins sein können und folglich im Wesen, in Wahrheit Eins sind. Es muß also schon aus diesem allgemeinen Grunde das Wesen, mit welchem sich der Mensch entzweit fühlt, ein ihm eingebornes Wesen sein, obwohl es zugleich anderer Beschaffenheit sein muß, als das Wesen oder die Kraft, welche ihm das Gefühl, das Bewußtsein der Einheit, der Versöhnung mit Gott oder, was eins ist, mit sich selbst gibt.

Dieses Wesen ist die Intelligenz – der Verstand  1). Gott als Extrem des Menschen gedacht, ist das objective Wesen des Verstandes. Das reine, vollkommne, mangellose göttliche Wesen ist das Selbstbewußtsein des Verstandes, das Bewußtsein des Verstandes von seiner eignen Vollkommenheit. Der Verstand weiß nichts von den Leiden des Herzens; er hat keine Begier­den, keine Leidenschaften, keine Bedürfnisse und eben darum keine Mängel und Schwächen, wie das Herz. Reine Verstandesmenschen, Menschen, die uns das Wesen des Verstandes personificiren und versinnbildlichen, sind enthoben den Gemüthsqualen, den Passionen, den Excessen der Gefühlsmenschen; sie sind für keinen endlichen, d. i. bestimmten Gegenstand leidenschaftlich eingenommen; sie „ver­pfänden“ sich nicht; sie sind frei. „Nichts bedürfen,“ „nicht sich den Dingen, sondern die Dinge sich unterwerfen,“ „Alles ist eitel,“ diese und ähnliche Sätze sind Mottos von Verstandesmenschen. Der Verstand ist das neutrale, apathische, unbestechliche, [39] unverblendete Wesen in uns – das reine affectlose Licht der Intelligenz. Der Verstand ist das kategorische rücksichtslose Bewußtsein der Sache als Sache, weil er selbst objectiver Natur, das Bewußtsein des Wider­spruchlosen, weil er selbst widerspruchslose Einheit, die Quelle der logischen Identität ist, das Bewußtsein des Gesetzes, der Nothwendigkeit, der Regel, des Maaßes, weil er selbst Gesetzesthätigkeit, die Nothwendigkeit der Natur der Dinge als Selbstthätigkeit, die Regel der Regeln, das absolute Maaß, das Maaß der Maaße ist. Durch den Verstand nur kann der Mensch im Widerspruch mit seinen theuersten persönlichen und mensch­lichen Gefühlen urtheilen und handeln, wenn es also der Verstandesgott, das Gesetz gebietet. Der Vater, welcher seinen eignen Sohn, weil er ihn schuldig erkannt, als Richter zum Tode selbst verurtheilt, vermag dieß nur als Verstandesnicht als Gefühlsmensch. Der Verstand zeigt uns die Fehler selbst unsrer Geliebten – selbst unsre eignen. Er versetzt uns deßwegen so oft in peinliche Collision mit uns selbst, mit unserm Herzen. Wir wollen dem Verstande nicht Recht lassen: wir wollen nicht aus Schonung, aus Nachsicht das wahre, aber harte, aber rücksichtslose Urthel des Verstandes vollstrecken. Der Verstand ist das eigentliche Gattungsvermögen – das Herz vertritt die besondern Angelegenheiten, die Individuen, der Verstand die allgemeinen Angelegenheiten; er ist die übermenschliche, unpersönliche Kraft oder Wesenheit im Menschen. Nur durch den Verstand und in dem Verstande hat der Mensch die Kraft, von sich selbst, d. h. von seinem subjectiven Wesen zu abstrahiren, sich zu erheben zu allgemeinen Begriffen und Verhältnissen, den Gegenstand zu unterscheiden von den Eindrücken, die er auf das Gemüth macht, [40] ihn an und für sich selbst, ihn ohne Beziehung auf den Menschen zu betrachten. Die Philosophie, die Mathematik, die Astronomie, die Physik, kurz die Wissenschaft überhaupt, ist der thatsächliche Beweis, weil das Product, dieser in Wahrheit unendlichen und göttlichen Thätigkeit. Dem Verstande widersprechen daher auch die religiösen Anthropo­morphismen; er negirt sie von Gott. Aber dieser anthropomorphismenfreie, rücksichtslose, affect­lose Gott ist nichts andres, als das eigne gegenständliche Wesen des Verstandes.

Das Wesen des Verstandes, wie es dem Menschen innerhalb der Religion Gegenstand wird, ist Gott als allgemeines, unper­sönliches, abstractes, d. i. metaphysisches Wesen, Gott als Gott, Gott als Gegensatz der menschlichen Nichtigkeit. Aber dieses Wesen hat für die Religion nicht mehr Bedeutung, als für eine besondere Wissenschaft ein allgemeiner Grundsatz, von welchem sie anhebt: es ist nur der oberste, letzte Anhalts- und Anknüpfungspunkt, gleichsam der mathematische Punkt der Religion. Das Bewußtsein der menschlichen Nichtigkeit, welches sich mit dem Bewußtsein dieses Wesens verbindet, ist keineswegs ein religiöses Bewußtsein; es bezeichnet vielmehr den Skeptiker, den Materialisten, den Naturalisten, den Pantheisten. Der Skeptiker, der Materialist verliert den Glauben an Gott – wenigstens den Gott der Religion – weil er den Glauben an den Menschen, wenigstens den Menschen der Religion, verliert. So wenig es daher der Religion mit der menschlichen Nichtigkeit Ernst ist und sein kann, so wenig ist ihr Ernst mit dem Wesen, welches eins ist mit dem Bewußtsein dieser Nichtigkeit. Ernst ist es der Religion nur mit den Bestimmungen, welche dem Menschen [41] das Wesen des Menschen und zwar das subjective Wesen, sein Gemüth vergegenständlichen.

Es liegt wohl im Interesse der Religion, daß das Wesen, welches ihr Gegenstand, ein andres sei als der Mensch; aber es liegt eben so, ja noch mehr in ihrem Interesse, daß dieses andre Wesen zugleich ein menschliches sei. Daß es ein andres sei, dieß betrifft nur die Existenz, daß es aber ein menschliches sei, die innere Wesenheit desselben. Wenn es ein andres dem Wesen nach wäre, was könnte dem Menschen an seinem Sein oder Nichtsein gelegen sein? Wie könnte er an der Existenz desselben so inniges Interesse nehmen, wenn nicht sein eignes Wesen dabei betheiligt wäre? Der Mensch verhält sich in der Religion zum Wesen des Menschen als einem andern Wesen, aber eben so verhält er sich wieder zu diesem andern als dem eignen Wesen. Er will, daß Gott sei, aber eben so will er, daß er sein Gott, ein Wesen für ihn, ein menschliches Wesen sei.

Ein specielles, aber gleichwohl allgemeingültiges Beispiel bestä­tige dieß. „Wenn ich das glaube, daß allein die menschliche Natur für mich gelitten hat, so ist mir der Christus ein schlechter Heiland, so bedarf er wohl selbst eines Heilandes.“ Es wird also über den Menschen hinausgegangen, ein andres vom Menschen unterschiednes Wesen aus Heilsbedürfniß postulirt. Aber so wie dieses andre Wesen gesetzt ist, so entsteht auch sogleich das Verlangen des Menschen nach sich selbst, nach seinem Wesen, so wird auch sogleich der Mensch wieder gesetzt. „Hie ist Gott, der nicht Mensch ist und noch nie Mensch worden. Mir aber des Gottes nicht .... Es sollt mir ein schlechter Christus bleiben, der .... allein ein bloßer abgesonderter Gott [42] und göttliche Person .... ohne Menschheit. Nein Gesell, wo Du mir Gott hinsetzest, da mußt Du mir die Menschheit mit hinsetzen.“  2)

Der Mensch will in der Religion sich in Gott befriedigen. Aber wie könnte er in ihm Trost und Frieden finden, wenn er ein wesentlich andres Wesen wäre? Wie kann ich den Frieden eines Wesens theilen, wenn ich nicht seines Wesens bin? Wenn sein Wesen ein andres, so ist auch sein Friede ein wesentlich andrer, kein Frieden für mich. Wie kann ich also seines Friedens theilhaftig werden, wenn ich nicht seines Wesens theilhaftig werden kann, wie aber seines Wesens theilhaftig werden, wenn ich wirklich andern Wesens bin? Frieden empfindet alles was lebt nur in seinem eignen Wesen, nur in seinem eignen Element. Empfindet also der Mensch Frieden in Gott, so empfindet er ihn nur, weil Gott erst sein wahres Wesen, weil er hier erst bei sich selbst ist, weil Alles, worin er bisher Frieden suchte und was er bisher für sein Wesen nahm, ein andres fremdes Wesen war. Und soll und will daher der Mensch in Gott sich befriedigen, so muß er Sich in Gott finden.

Ein Gott, welcher nur das objective Wesen des Ver­standes ausdrückt, befriedigt darum nicht die Religion, ist nicht der Gott der Religion. Der Verstand interessirt sich nicht nur für den Menschen, sondern auch für die Wesen außer dem Menschen, für die Natur. Der Verstandesmensch vergißt sogar über der Natur sich selbst. Die Christen verspotteten die heidnischen Philosophen, weil sie statt an sich, an ihr Heil, nur an die Dinge außer ihnen gedacht hätten. [43]

Der Christ denkt nur an sich  3). Der Verstand betrachtet mit dem­selben Enthusiasmus den Floh, die Laus, als das Ebenbild Gottes, den Menschen. Nicht der Religionsbegeisterung, dem Ver­standesenthusiasmus verdanken wir das Dasein einer Botanik, einer Zoologie, einer Mineralogie, einer Astronomie. – Kurz der Verstand ist ein universales, pantheistisches Wesen, die Liebe zum Universum, aber die Religion, insbesondere die christliche, ein durchaus anthropotheistisches Wesen, die Liebe des Menschen zu sich selbst, die ausschließ­liche Selbstbejahung des menschlichen und zwar des subjectiv menschlichen Wesens; denn allerdings bejaht auch der Verstand das Wesen des Menschen, aber das objective, das auf den Gegenstand um des Gegenstandes willen sich beziehende Wesen, dessen Darstellung eben die Wissenschaft ist. Es muß auch noch etwas ganz Andres, als das Wesen des Verstandes, dem Menschen in der Religion Gegenstand werden, wenn er sich in ihr befriedigen soll und will, und dieses Etwas wird und muß den eigentlichen Kern der Religion enthalten.

 

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Die in der Religion, zumal der christlichen, vor allen andern objectiven Bestimmungen hervortretende Verstandes- oder Vernunft­bestimmung ist diejenige, welche, indem sie Gott vom Menschen unterscheidet, unmittelbar zugleich eine wesentliche Beziehung auf den Menschen ausdrückt. Diese Bestimmung [44] ist die der moralischen Vollkommenheit. Gott ist der Religion als moralisch vollkommnes Wesen Gegenstand. Gott wohnt nur in einem reinen Herzen; nur dem reinen Sinne ist er zugänglich. Warum, wenn er nicht selbst das reine moralische Wesen ist?  4) Die Sünde ist ein Widerspruch mit dem göttlichen Wesen – in der Sprache der Religion, die Alles personificirt: Gott haßt die Sünde, sie ist ihm zuwider. Warum ist sie aber ein Widerspruch mit dem göttlichen Wesen? weil sie die Natur des Menschen ist? weil sie in seinem Wesen liegt? Mit Nichten. Wenn der Mensch in der Sünde seiner Natur gemäß handelte, so handelte er, wie er handeln soll, so wäre seine Sünde ein comme il faut, ein Wohlklang, kein Mißton in der Welt. Also widerspricht nur die Sünde dem göttlichen Wesen, weil sie dem menschlichen Wesen, dem, was der Mensch sein soll, sein kann, widerspricht. Die Sünde beleidigt Gott, weil sie des Menschen Wesen beleidigt. Wäre das göttliche Wesen ein andres, vom menschlichen unterschiedenes, so könnte die Sünde, wie schon entwickelt, keinen Widerspruch gegen das göttliche Wesen ausdrücken; sie wäre demselben absolut indifferent. Der Widerspruch der Sünde mit Gott ist daher nur der Widerspruch des individuellen Menschen mit seinem Wesen. Das religiöse Bewußtsein setzt sein eignes Wesen sich als Object entgegen, als mangel- und sündloses, [45] vollkommen heiliges Wesen – es ist sein eignes Wesen, denn es ist das Gesetz des Menschen, es stellt die Forderung an ihn zu sein, wie es selbst ist: „Heilig ist Gott, ihr sollt heilig sein wie Gott;“ sein eignes Gewissen, denn wie könnte es sonst vor diesem Wesen erzittern, wie vor ihm sich anklagen, wie es zum Richter seiner innersten Gedanken und Gesinnungen machen? Aber es wird angeschaut als ein andres objectives Wesen. Indem nun der religiöse Mensch sein Wesen sich entgegensetzt als absolut heiliges Wesen, empfindet er sich, wie er ist, wie er sich seiner bewußt ist, im Widerspruch mit diesem Wesen, nicht entsprechend dieser Forderung, diesem Gesetze, ihm zu gleichen, als unvollkommen, als sündhaft. Der Mensch ist entzweit mit seinem eignen Wesen; er ist nicht, wie er sein soll und folglich sein kann, und in diesem Zwiespalt fühlt er sich unglücklich, nichtig, verdammt, um so mehr, als ihm in der Religion das moralische Gesetz nicht nur als Gesetz und als sein eignes, wahres Wesen, sondern als ein andres persönliches Wesen Gegenstand ist, welches die Sünder haßt, von seiner Gnade, der Quelle alles Heils und Glücks ausschließt.

Das Bewußtsein der moralischen Vollkommenheit ist herzlos, denn es ist das Bewußtsein meiner persönlichen Nichtigkeit und zwar der allerempfindlichsten, der moralischen Nichtigkeit. Das Bewußtsein der göttlichen Allmacht und Ewigkeit im Gegensatze zum Bewußtsein meiner Beschränktheit in Zeit und Kraft thut mir nicht wehe; denn die Allmacht, die Ewigkeit ist für mich nicht das Gesetz, selbst ewig, selbst allmächtig zu sein. Aber der moralischen Vollkommenheit kann ich mir nicht bewußt werden, ohne derselben zugleich als eines Gesetzes für mich bewußt zu werden, denn das Bewußtsein [46] der moralischen Vollkommenheit ist im Grunde nichts andres als das Bewußtsein dessen, was ich sein soll. Die moralische Vollkommenheit hängt, wenigstens für das moralische Bewußtsein, nicht von der Natur, sondern vom Willen ab; sie ist eine Willensvollkommenheit, der vollkommne Wille. Den vollkommnen Willen, den Willen, der eins mit dem Gesetze, der selbst Gesetz ist, kann ich nicht denken, nicht mir vorstellen, ohne ihn zugleich als Willensobject, d. h. als Sollen für mich zu denken. Kurz die Vorstellung des moralisch vollkommnen Wesens ist keine nur theoretische, friedliche, sondern zugleich praktische, zur Handlung, zur Nacheiferung auffordernde, mich in Spannung, Differenz, Zwiespalt mit mir selbst versetzende Vorstellung; denn indem sie mir zuruft: was ich sein soll, sagt sie mir zugleich ohne alle Schmeichelei ins Gesicht: was ich nicht bin.

Aber in dieser Zwietracht mit sich selbst kann es der Mensch nicht aushalten; er empfindet vielmehr das dringende Bedürfniß, den unheilvollen Zwiespalt zwischen sich, dem Sünder, und dem vollkommnen Wesen aufzuheben. Der Gedanke des schlechthin vollkommnen Wesens läßt den Menschen kalt und leer, weil er die Lücke zwischen sich und diesem Wesen gewahrt, fühlt; d. h. er widerspricht dem menschlichen Herzen. Der Mensch muß daher nicht nur die Macht des Gesetzes, das Wesen des Verstandes, er muß auch die Macht der Liebe, das Wesen des Herzens bejahen, vergegenständlichen, wenn er anders in der Religion sich befriedigen, zur Ruhe kommen will und soll.

Der Verstand urtheilt nur nach der Strenge des Gesetzes; das Herz accommodirt sich, ist nachsichtig, rücksichtsvoll, billig, κατ᾽ ἄνθϱωπον. Dem Gesetze, das nur die moralische Vollkommenheit [47] uns vorhält, genügt Keiner, aber darum genügt auch nicht das Gesetz dem eigentlichen Menschen im Menschen, dem Herzen. Das Gesetz verdammt; das Herz erbarmt sich auch des Sünders. Das Herz gibt mir das Bewußtsein, daß ich Mensch bin, das Gesetz nur das Bewußtsein, daß ich nichtig, daß ich Sünder bin  5).

Wodurch also erlöst sich der Mensch von der Pein des Sünden­bewußtseins, von der Qual des Nichtigkeitsgefühles? wodurch stumpft er der Sünde ihren tödtlichen Stachel ab? Nur dadurch, daß er sich des Herzens, der Liebe als der höchsten, als der absoluten Macht und Wahrheit bewußt wird, daß er das göttliche Wesen nicht nur als Gesetz, als moralisches Wesen, als Verstandeswesen, sondern vielmehr als ein liebendes, herzliches, selbst sub­jectiv menschliches Wesen anschaut.

Die Liebe ist der Terminus medius, das substanzielle Band, das Vermittelungsprincip zwischen dem Vollkommnen und Unvollkomm­nen, dem sündlichen und sündhaften Wesen, dem Allgemeinen und Individuellen, dem Gesetz und dem Herzen, dem Göttlichen und Menschlichen. Die Liebe ist Gott selbst und außer ihr ist kein Gott. Die Liebe macht den Menschen zu Gott und Gott zum Menschen. Die Liebe stärket das Schwache und schwächet das Starke, erniedrigt das Hohe und erhöhet das Niedrige, idealisirt die Materie und materialisirt den Geist. Die Liebe ist die wahre Einheit von Mensch und Gott, Natur und Geist. In der Liebe ist die gemeine Natur Geist und der vornehme Geist Materie. Lieben heißt vom [48] Geiste aus: den Geist, von der Materie aus: die Materie negiren. Liebe ist Materialismus. Immate­rielle Liebe ist ein Unding. Aber zugleich ist die Liebe der Idealismus der Natur  6). Liebe ist Esprit. Nur die Liebe macht die Nachtigall zur Sängerin; nur die Liebe schmückt die Befruchtungswerkzeuge der Pflanze mit einer Blumenkrone. Und welche Wunder thut nicht die Liebe selbst in unserm gemeinen bürgerlichen Leben! Was der Glaube, die Confession, der Wahn trennt, verbindet die Liebe. Selbst unsre hohe Noblesse identificirt humoristisch genug die Liebe mit dem bürgerlichen Pöbel. Was die alten Mystiker von Gott sagten, daß er das höchste und doch das gemeinste Wesen sei, das gilt in Wahrheit von der Liebe, und zwar nicht einer erträumten, imaginären Liebe, nein! von der wirklichen Liebe, von der Liebe, die Fleisch und Blut hat, von der Liebe, die alle lebendigen Wesen als eine allgemeine Macht durchbebt.

 

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1) Absichtlich wird hier der in neuerer Zeit mit Unrecht so zurückgesetzte Verstand als Ausdruck der Intelligenz überhaupt genommen, weil dieser Ausdruck ein höchst scharfer, bestimmter, pikanter und doch zugleich populärer ist. 

2) Luther. Concordienbuch. Art. 8. Erklär. 

3) Ate incipiat cogitatio tua et in te finiatur, nec frustra in alia distendaris, te neglecto. Praeter salutem tuam nihil cogites. De int. Domo. (Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard). Si te vigilanter homo attendas, mirum est, si ad aliud unquam intendas. Divus Bernardus (Tract. de XII gradibus humil. et superbiae.) 

4) Nihil est autem quod hominem adeo Deo dissimilem faciat, quemadmodum peccatum. Augustin. (bei Petrus Lombardus Sent. I. II. dist. 35. c. 7.) Qui innocentiam colit, Domino supplicat, qui justitiam, Deo libat; qui fraudibus abstinet, propitiat Deum, qui hominem periculo subripit, opimam victimam caedit. Haec nostra sacrificia, haec Dei sacra sunt: sic apud nos religiosior est ille qui justior. M. Minu. Felicis Octav. c. 32. Uebrigens finden sich ähnliche Gedanken genug auch bei den sogenannten Heiden. 

5) Omnes peccavimus. ..... Parricidae cum lege coeperunt et illis facinus poena monstravit. Seneca. 

6) Der Unterschied zwischen dem Idealismus – wenigstens dem wahren, natur­begründeten Idealismus – und dem Materialismus ist nur dieser, daß jener ein geist- und sinnvoller Materialismus, dieser aber, der gewöhnlich so genannte Materialismus aber geistloser Materialismus ist.